| # taz.de -- Rückblick Leipziger Buchmesse: Die Erzeugung des Funkens | |
| > Braucht die erweiterte Bundesrepublik einen Gründungsmythos? Auf der | |
| > Leipziger Buchmesse war der Jahrestag des Mauerfalls das große Thema. | |
| Bild: Mal wieder keine Buchmesse wie im Wendejahr 1990: Leipig, 19 Jahre späte… | |
| Man stelle sich vor, eine Messe wird überraschend zum Treffpunkt von Ost | |
| und West. An den Ständen werden Verträge geschlossen, Lizenzen gehandelt, | |
| Geschäfte gemacht wie in all den Jahrzehnten zuvor insgesamt nicht. Doch | |
| vor allem kommt ein großes Gespräch in Gang, wie es überhaupt mit diesem | |
| Land weitergehen soll. Denn alles scheint plötzlich offen, alles möglich | |
| geworden. | |
| Auf der Leipziger Buchmesse jedenfalls war das Realität - nicht in den | |
| vergangenen Tagen, sondern auf der von 1990. | |
| Keine zwanzig Jahre später, im Jubiläumsjahr 2009, wird nun auf "friedliche | |
| Revolution" und Mauerfall vielfach zurückgegriffen. Und wann immer im | |
| Vorfeld Erwartungen an diesen Leipziger Messejahrgang formuliert worden | |
| sind, hatte man den Eindruck, es ginge nicht um ein historisches Datum, | |
| sondern darum, die Wiedervereinigung am authentischen Ort zu wieder-, wenn | |
| nicht nachzuholen. | |
| "Das Jubiläum elektrisiert nicht nur die Ost-, sondern auch die | |
| Westdeutschen", schrieb der Spiegel. "Mag die DDR-Geschichte im allgemeinen | |
| Empfinden nur den Ostdeutschen gehören, so ist das beim Mauerfall anders - | |
| er gehört allen Deutschen." | |
| Und Ingo Schulze hatte vorab in der Süddeutschen Zeitung seinen Verdruss | |
| über Gedenktage bekundet, nur um dann eine Bedeutung des 1989er Geistes für | |
| eine Umorientierung angesichts der gegenwärtigen ökonomischen Krise zu | |
| beschwören. "Die Diskussion, die 1990 nicht geführt wurde, könnte jetzt | |
| stattfinden." | |
| Umgekehrt aber stand auch die Frage, ob sich aus einem rein numerischen, | |
| willkürlichen Anlass überhaupt diskursive, gar literarische Funken schlagen | |
| ließen. Zumal die literarische Wiedervereinigung, wenn man schon in diesen | |
| Kategorien denkt, dann eher vor einem halben Jahr mit Uwe Tellkamps großem | |
| Roman "Der Turm" vollzogen wurde. | |
| Und dies wohl auch deshalb, weil das Buch auf der Shortlist des Deutschen | |
| Buchpreises von Ingo Schulzes Wenderoman "Adam und Evelyn" sowie Marcel | |
| Beyers Geschichtsroman "Kaltenburg" flankiert worden war und in Dietmar | |
| Daths Fantasy-Dystopie "Die Abschaffung der Arten" auf einen ästhetischen | |
| Gegenentwurf getroffen war. Es war Frankfurt, nicht der Osten, von wo aus | |
| "Der Turm" zum gesamtdeutschen Bestseller, wenn nicht zu einem "Volksbuch" | |
| (Gustav Seibt) avancierte. | |
| In Leipzig wurde mit der Verleihung des dortigen Buchpreises in der | |
| Kategorie Sachbuch an Herfried Münkler gewissermaßen mitgeboten. Hermann | |
| der Cherusker, Siegfried und die Nibelungen, Nürnberg und Dresden sind die | |
| Themen, die der Politikwissenschaftler der Berliner Humboldt-Uni in seiner | |
| Studie "Die Deutschen und ihre Mythen" der Analyse unterzieht. | |
| Dabei geht es keineswegs um Affirmation, sondern um Genese und Wandlungen | |
| geschichtsmächtiger, auch verhängnisvoller Großerzählungen. In der | |
| Beschreibung der abgeklärten Gegenwart aber kommt Münkler zu der Bewertung, | |
| der heutigen Bundesrepublik fehle eine große republikanische Erzählung, die | |
| der Gesellschaft positive Bezugnahme ermögliche und Zutrauen bei der | |
| Bewältigung anstehender Probleme geben könne. | |
| Dass "1989" nicht zum Gründungsmythos des wiedervereinigten demokratischen | |
| Deutschlands avancierte, dafür führt Münkler zwei Gründe an. Die | |
| westdeutsche politische Elite habe keinen Anteil an den Geschehnissen | |
| dieses Jahres gehabt, mithin kein Interesse an seiner symbolischen | |
| Aufwertung. | |
| Deshalb sei die Erzählung von den Fährnissen der Kohl-Genscherschen | |
| Pendeldiplomatie zwischen Kaukasus, Élyséepalast und Downing Street an | |
| seine Stelle gerückt und der 3. Oktober als Nationalfeiertag | |
| herausgekommen, ein Beitrittsdatum, über dessen Zustandekommen freilich | |
| auch auf der Buchmesse ganz verschiedene Versionen kursierten. Außerdem | |
| habe die demokratische Linke, die seit jeher das Fehlen einer erfolgreichen | |
| deutschen Revolution als positiven Bezugspunkt beklage, die Gelegenheit | |
| ungenutzt verstreichen lassen, weil sie mit dem Ende des - wenn auch | |
| ungeliebten, aber real existierenden - Sozialismus zusammengefallen sei. | |
| In Leipzig aber war Münklers Einschätzung für viele dennoch kein | |
| Hinderungsgrund, Symbol- und Identitätspolitik massiv in der Diskussion zu | |
| platzieren. | |
| Günter Grass, der zum Jubiläum nicht nur seine Tagebücher der Wendejahre | |
| herausgebracht, sondern auch alle seine damaligen Interview-Statements noch | |
| einmal hervorgeholt hat, beschimpfte wieder die Treuhandanstalt, erneuerte | |
| seine Forderung nach einer gesamtdeutschen Verfassung und belustigte sich | |
| über eine zum sechzigsten Jahrestag des Grundgesetzes geplante Berliner | |
| "Fanmeile" mit angeschlossener Markenpräsentation von Nivea bis VW in einer | |
| Weise, dass man das Projekt schon wieder sympathisch finden möchte. | |
| Und Christian Führer, Expfarrer der Nikolaikirche und Initiator der | |
| Friedensgebete, stellte fest, dass alle 1989er Forderungen nach einer | |
| offenen, pluralistischen Gesellschaft verwirklicht seien, machte sich | |
| jedoch für neue Symbole stark: neue Staatsbezeichnung, neue Hymne, neuer | |
| Feiertag. Öfter hatte man den Eindruck, Ingo Schulzes Satz, dass nun jene | |
| Diskussion geführt werden könnte, die 1990 versäumt worden war, sei derart | |
| missverstanden worden, dass man glaubte, die Gespräche von damals nun | |
| einfach noch einmal bringen zu können. | |
| Es blieb dem Leipziger Schriftsteller Erich Loest, antinationaler Tendenzen | |
| unverdächtig, vorbehalten, derlei Symbolpolitik zu ironisieren, wenn er bei | |
| jeder Gelegenheit zum Besten gab, dass er im Streit um ein Leipziger | |
| sogenanntes Einheits- und Freiheitsdenkmal, das er in der Nikolaikirche | |
| bereits verwirklicht sieht, im vergangenen Jahr ein möglichst großes | |
| Monument aus "Rennpappe" vorgeschlagen habe: ein umgekippter Trabi, der - | |
| nach der Reihenfolge der ersten 1989er Demonstrationen - in Plauen im | |
| Vogtland, Dresden und Leipzig aufgestellt werden müsse. "Und die Berliner | |
| dürfen noch einen Mann daneben stellen, der einen Zettel aus der Tasche | |
| kramt." Gemeint war Günter Schabowski. | |
| Im Osten also nichts Neues? Die beiden großen Frankfurter Verlagshäuser - | |
| S. Fischer und Suhrkamp - hatten jeweils zwei Dutzend Autoren aus Ost und | |
| West um Erinnerungstexte an persönliche "Grenzübergänge" beziehungsweise an | |
| "Die Nacht, in der die Mauer fiel" gebeten, die nicht unbedingt | |
| Überraschendes, aber Erhellendes zutage förderten. | |
| Während auf den ersten Hass auf die DDR zunächst eine Phase der | |
| Ironisierung gefolgt sei, finde man durch den zeitlichen Abstand heute zu | |
| Redeweisen größerer Objektivität, so ungefähr umschrieb Claudia Rusch | |
| ("Meine freie deutsche Jugend") den Weg von Thomas Brussigs "Helden wie | |
| wir" zum ziselierten Epochenpanorama Tellkampscher Prägung. | |
| Zudem wird in beiden Anthologien eine Ost-West-Differenz sichtbar, ohne | |
| immer gleich Kollektividentitäten und mythische Großerzählungen | |
| einzufordern. | |
| Pfarrer Christian Führer hat seiner Autobiografie den mit Recht stolzen, | |
| auch an die Ostdeutschen gerichteten Titel "Und wir sind dabei gewesen" | |
| gegeben. Der Beitrag des Schriftstellers Thomas Lehr, der 1989 gerade von | |
| Westberlin an den Zürichsee gezogen war, um seinen Geschichtsroman "Die | |
| Erhörung" zu Ende zu bringen, trägt hingegen die Überschrift "Wer war | |
| dabei, ich nicht". | |
| Und "Grenzübergänge"-Herausgeberin Julia Franck, einst fremdelndes | |
| DDR-Flüchtlingskind im Westberlin der 1980er-Jahre, berichtete, sie habe | |
| auf ihre Bitte um Beiträge auch Absagen westdeutscher Autoren mit der | |
| Entschuldigung bekommen, aus Mangel an eigener Erfahrung könne man leider | |
| keinen Text beitragen. | |
| Die Grenze habe eigentlich im eigenen Leben keine Rolle gespielt, sei im | |
| eigenen Bewusstsein gar nicht wirklich existent gewesen. | |
| 15 Mar 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Schröpfer | |
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