Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- ADHS bei Erwachsenen: Auch "Zappelphilipp" wird älter
> Das Aufmerksamkeitssyndrom ADHS ist nicht nur eine Krankheit von Kindern
> und Jugendlichen. Sie tritt bei etwa der Hälfte der einst jugendlichen
> Patienten auch nach der Volljährigkeit auf.
Bild: Sich zu konzentrieren, so wie hier der libanesische Kopfrechner Issam Khn…
Der Architekt und Kettenraucher Willi Bald ist bei seinen Angestellten
beliebt und gefürchtet. Immer wieder steckt er das Team mit seiner
Begeisterung für neue Projekte an. Wird aber diskutiert, fällt er anderen
schroff ins Wort. Neulich beendete er allein im Büro Pläne für einen
Wettbewerb.
Dabei fand er plötzlich sein Passwort für notwendige Informationen nicht
mehr. Später kramte er hilflos nach Druckerpapier. Schließlich war das
Schlimmste passiert: das Feuerzeug verschwunden. Werktags hat Willi Bald
eine Sekretärin. Er kann Hilfe gebrauchen. Denn er wurde hier als Prototyp
für die 2 bis 4 Prozent aller Erwachsenen konstruiert, die unter ADHS
leiden, der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.
Leser von Wissenschaftsseiten orten sie leicht bei Kindern à la
Zappelphilipp als neurobiologische Funktionsabweichung. Aber erst
allmählich bricht sich in Europa die Erkenntnis Bahn, dass die Störung sich
bei 40 bis 60 Prozent der Betroffenen nicht mit der Volljährigkeit
auswächst. Noch sehr lückenhaft ist daher auch das Wissen über mögliche
Therapien bei Erwachsenen.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert jetzt eine weltweit
erste Studie zu diesem Thema, die von Universitätskliniken in fünf
deutschen Städten durchgeführt wird. Dabei werden 500 Erwachsene mit ADHS
ein Jahr lang begleitet, je 100 in Berlin, Mannheim, Freiburg, Homburg
(Saar) und Würzburg.
Im Doppelblindversuch erhalten sie entweder den echten Wirkstoff
Methylphenidat oder ein Placebo. Ein Teil der Patienten nimmt außerdem an
einer Gruppenpsychotherapie teil, die anderen erhalten ein sogenanntes
Clinical Management: treffen sich wöchentlich einzeln mit einem Psychiater,
erzählen, wie es ihnen ergangen ist, lassen sich medizinisch untersuchen.
Die vier verschiedenen möglichen Kombinationen dieser Behandlungsweisen
sollen daraufhin untersucht werden, wie gut sie den Patienten helfen, ihren
Alltag zu bewältigen.
Die Krankheit wird dabei immer populärer. Der Oberarzt Michael Colla, der
den Berliner Teil der Studie im Benjamin-Franklin-Campus der Charité
leitet, sieht schon einen Schwarm von eingebildeten ADHSlern auf sich
zukommen: "Die Gefahr besteht", meint er: "Weil sich die Symptome mit denen
anderer psychischer Erkrankungen überschneiden. Außerdem hat jeder von uns
im Alltag mal Konzentrationsdefizite oder die Neigung, impulsiv zu handeln.
Deshalb müssen wir vorsichtig sein. Man kann nicht ganze
Bevölkerungsschichten pathologisieren, weil sie öfters mal unaufmerksam
sind. Sondern es geht darum, eine Population herauszufiltrieren, die ihr
Leben lang unter bestimmten Beeinträchtigungen leidet".
Die Verschiedenheit der Symptome erschwert die Diagnose. Michael Colla
erklärt: "Neuropsychologische Prozesse, die im Kindesalter noch zu
Aufmerksamkeitsstörungen führen, bewirken im Erwachsenenalter Störungen der
sogenannten exekutiven Funktionen, wie: Prioritäten setzen, planen,
organisieren. Die Einbußen, welche ADHS-Patienten auf diesen Gebieten
erleiden, folgen aber keinem einheitlichen Muster."
Besonders schaden diese Einbußen den Betroffenen im Alter zwischen 18 und
30 Jahren, in dem sie zum ersten Male einen eigenen Haushalt führen und vor
entscheidenden Hürden in der Ausbildung oder dem Beruf stehen. Viele von
ihnen reagieren zu impulsiv, andere verzetteln sich, können kaum Termine
einhalten oder benötigen dafür aufwendige Tricks zur Selbstüberlistung.
ADHSler sind wegen innerer Unruhe besonders anfällig für Nikotin, Alkohol
und Drogen.
Gemeinsam ist allen von der Erkrankung Betroffenen die Sehnsucht nach immer
neuen, faszinierenden Aufgaben. Da sie Umwelteindrücke schlecht filtern
können, sehen sie oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ihre Intuition und
hohe Kreativität machen allerdings oft aus vom Glück begünstigten ADHSlern
erfolgreiche Selbständige und Künstler.
Mit zunehmendem Alter leiden immer mehr Erkrankte zusätzlich unter
Depressionen. ADHSler leben zudem gefährlich, sie haben zum Beispiel viel
häufiger schwere Unfälle als Nichterkrankte. Jüngeren Erwachsenen mit ADHS
können Medikamente zu besseren Startchancen verhelfen.
Das in der Studie des Bundeswissenschaftsministeriums getestete
Methylphenidat, allgemein bekannter unter dem Namen Ritalin, ist wegen
seiner breiten Anwendung auch zur Leistungssteigerung bei Kindern in der
Öffentlichkeit stark umstritten. Für Erwachsene ist das Medikament in
Deutschland noch nicht zugelassen, es kann jedoch vom Arzt im Rahmen eines
Heilbehandlungsversuches verordnet werden.
Illegal kursiert Ritalin auch als Lifestyle-Droge. Eine von der Deutschen
Angestellten-Krankenkasse (DAK) in Auftrag gegebene Studie enthüllte Anfang
März, dass bereits rund 2 Prozent der Beschäftigten in Deutschland
regelmäßig zu Psychopharmaka greifen, um am Arbeitsplatz noch
konkurrenzfähiger zu werden. Die bei ADHSlern durch das Medikament erzielte
Menge der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin soll dagegen gerade
ausreichen, damit sie in Beruf und Alltag erst auf Augenhöhe mit
Nichterkrankten antreten können.
Schüler bewegen sich in einem so engen Korsett von Aufgaben, dass die
Medikamentengabe meist automatisch ihre Schulleistungen verbessert.
Erwachsene hingegen müssen entscheiden, was sie mit ihrer neugewonnenen
Effektivität überhaupt anfangen wollen.
27 Mar 2009
## AUTOREN
Barbara Kerneck
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.