# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Brief aus London | |
> Bis heute hat Großbritannien keine schriftliche Verfassung, und damit | |
> auch kein Verfasssungsgericht. In Zeiten des "Kriegs gegen den Terror" | |
> kann das zur Gefährdung der britischen Freiheit werden. Ein Kommentar | |
Bild: Dieser Schneemontag war der glücklichste Montag seit Jahren. | |
Es fiel Schnee in London, in drei Tagen ein paar Zentimeter. Und die Stadt | |
kam zum Stillstand. Sämtliche roten Doppeldeckerbusse blieben in ihren | |
Depots. Die Hälfte der U-Bahn-Linien stellten den Betrieb ein, obwohl sie | |
tief unter den verschneiten Straßen verlaufen. Die Schulen schlossen, | |
ebenso viele Läden und Betriebe; die Beschäftigten hatten beschlossen, zu | |
Hause zu bleiben. | |
Es war ein Montagmorgen, der Morgen, den die Londoner am meisten hassen. | |
Sie wachten auf, und alles um sie herum war ruhig und weiß. Auf den | |
Stillstand gab es zwei Reaktionen. Politiker und Medien sprachen von einem | |
Skandal und einer Katastrophe. London hatte keine richtigen | |
Schneeräumgeräte; die Wirtschaft erlitt Verluste in Milliardenhöhe, als | |
wäre die ökonomische Lage nicht verfahren genug. Das Streusalz war im | |
Handumdrehen verbraucht. Viele Stadtverwaltungen kauften in den lokalen | |
Supermärkten das Tafelsalz auf und streuten es auf die Straßen. | |
Die Reaktion der normalen Londoner war ganz anders - die reinste kindliche | |
Freude: "Wir müssen nicht zur Arbeit." Die Engländer, die länger arbeiten | |
als fast alle übrigen Europäer und dabei weniger produktiv sind, blickten | |
aus dem Fenster, riefen dreimal Hurra und frühstückten im Bett. Danach | |
zogen sie in die Parks und bauten Schneemänner mit ihren Kindern. Es war | |
der glücklichste Montag seit Jahren. | |
Es ist wahr: Jede kleine deutsche Provinzstadt hat mehr Schneepflüge, mehr | |
Salzvorräte und mehr Streusand als der ganze Großraum London mit seinen | |
siebeneinhalb Millionen Einwohnern. Aber die Briten sagen sich: Warum Geld | |
und Mühen verschwenden, um auf Überschwemmungen und Hurrikane und | |
Schneestürme vorbereitet zu sein, die nur alle zehn oder zwanzig Jahre | |
vorkommen? Lieber ein paar Tage Chaos als eine militarisierte Gesellschaft, | |
die für jeden Notfall gewappnet ist. Besser ein Staat, den Voltaires | |
philosophischer Dr. Pangloss regiert, als einer unter der Fuchtel von Carl | |
Schmitt. | |
Dieser Schneemontag war ein Sinnbild dafür, wie das Land funktioniert. Und | |
er sagt viel über die politische Haltung der Engländer, über ihre | |
Auffassung von Freiheit und Menschenrechten. Großbritannien hat, zum | |
Erstaunen der Welt, keine geschriebene Verfassung. Die Leute pflegten zu | |
sagen: "Mag sein, dass andere Länder eine Verfassung brauchen; die haben ja | |
auch Diktatoren und Revolutionen und die Geheimpolizei. Aber so etwas kommt | |
bei uns nicht vor." | |
Jetzt sind sich die Briten plötzlich nicht mehr so sicher. Vielleicht | |
könnte so etwas bei uns doch vorkommen. Vor zwei Wochen gab es in London | |
eine Konferenz mit dem Titel "The Convention on Modern Liberty". Über | |
tausend Teilnehmer lauschten den Referenten und diskutierten in | |
Arbeitsgruppen über das, was sie als wachsende Bedrohung der Freiheit, der | |
Bürgerrechte und des Rechtsstaats im heutigen Großbritannien empfinden. | |
Diese Leute waren keineswegs das traditionelle linke Publikum. In der | |
Mehrzahl handelte es sich um akademisch ausgebildete Freiberufler zwischen | |
dreißig und vierzig, und als Konferenzbeitrag hatten sie stattliche 40 | |
Pfund (45 Euro) hingeblättert. Unter den Referenten waren ältere Richter, | |
Rechtsprofessoren und unabhängige Köpfe aus allen Parteien. Es war ein Tag | |
leidenschaftlicher Debatten. | |
Dieselben Leute, die diese Konferenz organisierten, traten vor Jahren für | |
eine andere, ähnliche Forderung ein. Die Gruppe "Charter 88" (benannt nach | |
der berühmten Charta 77 in der alten Tschechoslowakei) argumentierte, dass | |
eine politische Kultur der Menschenrechte in Großbritannien nicht Fuß | |
fassen könne, wenn diese Rechte nicht in einer formellen Verfassung | |
verankert und damit einklagbar werden. Diese Kampagne für eine Verfassung - | |
und für Regionalparlamente in Schottland und Wales im Rahmen einer | |
Dezentralisierung des britischen Staats - wurde von der damals | |
oppositionellen Labour Party zunächst abgelehnt (für Tony Blair waren die | |
Charta-88-Leute "Wichser"), fand mit der Zeit aber Zustimmung in allen | |
politischen Lagern. Dennoch: Großbritannien hat bis heute keine | |
schriftliche Verfassung. | |
Dass dem so ist, hat historische Gründe. England erlebte mit der Ära | |
Cromwell der 1640er-Jahre seine erste moderne Revolution, die den absoluten | |
Monarchen abschaffte. 1688/89 folgte die "Glorreiche Revolution", die den | |
absolutistischen Herrschaftsanspruch der Krone einfach auf das Parlament | |
übertrug. Dank seiner absoluten Macht könnte das Parlament bis heute mit | |
einfacher Mehrheit jedes Menschenrecht aufheben, ohne dass es ein "höheres | |
Recht" gäbe. Frau Thatcher war 1986 in der Lage, den Greater London Council | |
und damit das demokratische Vertretungsorgan von zehn Millionen Menschen | |
einfach abzuschaffen. Dafür wäre sie in jedem europäischen Verfassungsstaat | |
vor Gericht gestellt und wahrscheinlich ins Gefängnis gesteckt worden. Die | |
"Souveränität des Volkes" ist in der Vorstellungswelt englischer Politiker | |
nicht existent. Das macht es schwierig, individuelle Menschenrechte gegen | |
einen aggressiven "Überwachungsstaat" durchzusetzen und abzusichern. | |
Die Gefährdung der britischen Freiheit geht nicht von einer einzelnen | |
Ursache aus - wie dem Aufstieg einer autoritären Partei oder Plänen zu | |
einer Art Ermächtigungsgesetz. Sie kommt vielmehr aus einer Vielzahl | |
kleiner Maßnahmen und staatlicher Praktiken, die zumeist auf das Konto der | |
"New Labour"-Regierungen von Tony Blair und Gordon Brown gehen. Sie alle | |
zusammen bilden das Gerüst eines Staats, der die Sicherheit über die | |
Freiheit stellt. | |
Hier eine kurze Liste: der geplante Personalausweis mit detaillierten Daten | |
über Privatleben, Gesundheit, Vorstrafen und Finanzen des Inhabers; das | |
Gesetz, das es erlaubt, terrorismusverdächtige Personen 42 Tage lang ohne | |
richterliche Anhörung ins Gefängnis zu stecken; die um sich greifende | |
Kameraüberwachung an öffentlichen Plätzen (mittlerweile das dichteste Netz | |
der ganzen Welt); die Komplizenschaft der britischen Nachrichtendienste mit | |
ihren US-amerikanischen Kollegen bei der außergesetzlichen "Überstellung" | |
Verdächtiger an Folterstaaten; die Absicht, eine nationale Datenbank zu | |
erstellen, die der Regierung die Personendaten aller Bürger liefert; der | |
Missbrauch der sogenannten Antiterrorgesetze durch lokale Behörden zur | |
Ausspähung von Familien, die sich nicht an die kommunale Wohnungsgesetze | |
halten; das Auslieferungsgesetz von 2003, nach dem es den USA erlaubt ist, | |
die Auslieferung britischer Bürger ohne deren Anhörung vor einem englischen | |
Gericht zu erwirken; die Festsetzung der Kinder von Asylbewerbern im | |
Gefängnis. | |
Die Liste ist nicht komplett. Aber neuerdings führt sie zu alarmierten | |
Reaktionen, vor allem bei jüngeren Angehörigen der Mittelschicht. Die sehen | |
die Schuld nicht nur bei der Labour-Regierung, deren politischer Exitus mit | |
dem Heranrücken der Wahlen von 2010 offensichtlich nicht mehr aufzuhalten | |
ist. Von einer konservativen Regierung unter David Cameron, der Brown als | |
Premierminister ablösen wird, ist kaum Besseres zu erwarten. | |
Die Kritiker verweisen auf drei Faktoren, die eine Gefahr für die | |
britischen Freiheitsrechte darstellen. Da ist erstens die rasante | |
Perfektionierung der Überwachungstechnologie und der Datenspeicherung, die | |
von den Behörden als Problemlösung gesehen und unkritisch übernommen | |
werden. Der zweite hat mit dem "Krieg gegen den Terror" zu tun, der immer | |
stärker in den Alltag normaler Bürger eingreift, indem er zum Beispiel die | |
Suspendierung der Bürgerrechte von Verdächtigen erlaubt. | |
In den immerhin dreißig Jahren erbitterten Kampfs gegen die IRA in | |
Nordirland ist es nie vorgekommen, dass die brutalen Methoden der | |
Terrorbekämpfung auf das übrige Großbritannien übergegriffen und die | |
Polizei und die Richter infiziert hätten. Dagegen haben die neuen Gesetze | |
des "Kriegs gegen den Terror" seit 2001 die Unabhängigkeit der englischen | |
und schottischen Gerichte untergraben. | |
Die dritte Gefahrenquelle ist das Verhalten von Regierungsmitgliedern und | |
Politikern, die ständig verkünden, dass mehr Sicherheit nur um den Preis | |
von weniger Freiheit zu haben sei. Nie zuvor in der britischen Geschichte | |
gab es eine Regierung, die stärker auf die Medien fixiert gewesen wäre als | |
die New-Labour-Regierungen von Tony Blair und Gordon Brown. Panisch auf die | |
Schlagzeilen von The Daily Mail oder The Sun starrend, haben sie die rechte | |
Paranoia und die Fremdenfeindlichkeit dieser Zeitungen bedient, statt | |
solche Meinungsmache zu verurteilen. | |
Wirtschaftsflauten oder Rezessionen führen selten zu Revolutionen. Im | |
Gegenteil: In der Regel bringen sie eher einen kräftigen Rechtsruck hervor, | |
hin zu autoritären Regierungen, die Experimente, Kriminelle und Ausländer | |
verabscheuen. In Großbritannien werden wir es demnächst vielleicht erleben, | |
dass die Menschenrechte als billige ausländische Importware aus Brüssel | |
geschmäht werden. Womöglich bleibt uns gar nicht mehr viel Zeit, die | |
Fundamente dieser Rechte zu befestigen. | |
An den Diskussionen über die "moderne Freiheit" hat mich am meisten | |
beeindruckt, wie viele der Teilnehmer mit großer Leidenschaft über die | |
englische Revolution von 1642 bis 1648, also über die Cromwell-Zeit | |
sprachen. Im Geschichtsunterricht erfahren die Schüler nichts über diese | |
Zeit, und die Historiker gehen dem Thema eher aus dem Wege. Hier aber hörte | |
ich, wie junge Männer und Frauen die Worte der Levellers - der radikalen | |
Fraktion des Cromwell'schen Revolutionsheers - zitierten, die Freiheit und | |
Gleichheit als das Recht eines jeden "free-born Englishman" beschworen. | |
England ist im heutigen Europa das Land, das vielleicht am wenigsten | |
religiös geprägt ist. Und doch ist hier noch der alte protestantische | |
Instinkt lebendig, der politische Bedrohungen als moralische Bedrohung | |
begreift. Den meisten Beifall auf der Konferenz bekam der Autor Philip | |
Pullman, als er den Überwachungsstaat mit Worten angriff, zu denen nur ein | |
zorniger Engländer fähig ist: "Wir sind ein besseres Volk, als unsere | |
Regierung denkt." | |
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
© "Le Monde diplomatique, Berlin | |
27 Mar 2009 | |
## AUTOREN | |
Neal Ascherson | |
## TAGS | |
Großbritannien | |
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