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# taz.de -- Moderator Jürgen Kuttner über Kapitalismus: "Redet mal übers Sys…
> Für den Berliner Radiomoderator Jürgen Kuttner ist es symptomatisch, dass
> allerorts von Kapitalismuskritik die Rede ist, nie von Ausbeutung.
Bild: Jürgen Kuttner geht die populäre Kapitalismuskritik nicht genug ins Det…
Herr Kuttner, Sie wurden berühmt mit Ihrer Berliner Radiosendung
"Sprechfunk". 15 Jahre lang haben Sie mit Anrufern des Abends eine ganz
eigene plauderige Gesprächskultur entwickelt. Warum hat es Sie nie
interessiert, "ordentliche" Interviews zu führen?
Jürgen Kuttner: Beim Interview hat man, denke ich, schon etwas wie eine
Übersicht oder Draufsicht, was jemand sagen soll und wie er es ungefähr
sagen soll. Das ist relativ zielgerichtet - Ihre Meinung zur Abwrackprämie
oder Ihre Lebensgeschichte.
Und diese Hierarchie wollten Sie vermeiden?
Ja. Ich habe immer versucht, mich auf eine alltägliche Ebene zu bringen.
Wenn ich in der U-Bahn sitze, dann seh ich mir die Leute an und will
wirklich gerne wissen, wie deren Küche aussieht.
Also geht es Ihnen eher um eine gesprochene Reportage?
Wahrscheinlich. Und auch darum: aus meiner Neugier heraus zu schauen. Als
Journalist ist man ja eher repräsentationsneugierig, man ist für andere
neugierig. Davon bin ich immer frei gewesen, was ich als Luxus empfinde.
Trotzdem haben auch Sie als Journalist gearbeitet - und 1990 die Osttaz
mitgegründet. Warum - was war die Hoffnung?
Ach, Hoffnung stellte sich erst ein, als sie enttäuscht wurde. (lacht) Dass
das mit dem Osten zu Ende geht, war ja klar. Und auf einmal wehte einen die
Möglichkeit an, etwas machen zu können. Als passionierter Zeitungsleser war
es sehr verführerisch, selbst Zeitung zu machen. Wir sind damals in die
Kochstraße gewackelt und haben unsere Ideen von einer Zeitung vorgestellt -
die erst mal alle abgeschmettert wurden. Aber als dann keiner mehr übrig
war, kamen sie auf uns zurück.
Habt ihr damals nach dem dritten Weg zwischen Realsozialismus und
Kapitalismus gesucht?
Nein, eigentlich nicht. Der dritte Weg war im Grunde ja die alte
Bundesrepublik.
Aha, warum?
Gerade in der Rückschau merkt man: Die BRD war ein sehr gemütliches Land.
Es ist eine große kulturelle Leistung, dass Gerechtigkeit ein gewisser Wert
war und auch noch ist. Ich finde es toll, dass es ein Wert war und ist,
auch wenn es sich gar nicht politisch formuliert, dass die Differenzen
zwischen "oben" und "unten" nicht allzu groß werden sollten.
Was auch der Systemkonfrontation mit der DDR geschuldet war.
Na klar. Die BRD war das Verdienst der Systemkonfrontation, also der DDR.
Westberlin war das Schaufenster des Westens, wo die Arbeitslosigkeit
gedeckelt wurde, indem man den öffentlichen Dienst ausgebaut hat - genau
wie im Osten der SED-Sekretär für Arbeiterjugend, der eigentlich nichts zu
tun hat. Quasi arbeitslos im Job ist. Das ging also auch.
Die Linke wird gerade oft kritisiert, weil sie so wenig zur Finanz- und
Wirtschaftskrise sagen kann und stattdessen vielfach nostalgisch wird:
Zurück zur Bundesrepublik, wo es noch eine Rente und eine ordentliche
Krankenversicherung gab.
Schwierig. (lacht) Ich will jetzt ja nicht der Arzt am Krankenbette des
Kapitalismus sein. Aber die Idee, dass sich nicht alles rechnen muss und
trotzdem existieren darf, halte ich für eine Errungenschaft. Denn: Meine
Gesundheit rechnet sich einfach nicht. Trotzdem ist sie wichtig. Und solche
Fragen sind womöglich wichtigere Fragen als die radikalen, wie wir jetzt
die Welt umstürzen können. Die Überlegungen zum Umsturz haben ja
wahrscheinlich die letzten 30, 40, 50 Jahre gar nicht mehr stattgefunden.
Der Osten war mit sich beschäftigt. Im Westen gab es eher so was wie den
Salonbolschewismus. Das zeigt sich ja auch jetzt in Zeiten der
Wirtschaftskrise.
Der Salonbolschewismus zeigt sich jetzt?
Genau. Das ist schon irre, wie gerade die FAZ den Kapitalismus nicht mehr
gut findet. Mehr noch als die taz, scheint mir. Andererseits finde ich es
schon erstaunlich, dass es so gut wie nirgends eine Analyse gibt, die
erklärt und beschreibt, was da eigentlich in den letzten zwanzig Jahren
passiert ist. Ohne Prognose. Einfach nur eine kluge Bestandsaufnahme.
Aber gibt es jetzt nicht wieder bessere Plattformen für eine Kritik am
Kapitalismus?
Ach nö. Es gibt weiterhin einzelne interessante Orte. Aber Verbindung
zwischen diesen existiert nicht. Meine Plattform etwa ist eben die
Volksbühne, wo ich mit Videoschnipseln die Welt erkläre.
Ein Grund für die aktuelle Sprachlosigkeit ist doch, dass viel zu wenig
Wissen über ökonomische Zusammenhänge angesammelt wurde.
Richtig.
Aber Sie halten daran fest, mit Videoschnipseln die Welt zu erklären. Ist
diese Kulturalisierung von Lebensverhältnissen nicht überholt?
Immer den Modethemen hinterherzuhecheln finde ich nicht interessant. Ich
habe, und darauf bin ich wirklich stolz, vor eineinhalb Jahren einen
Videoschnipsel-Abend zur Bankenscheiße gemacht. Und einfach mal hingehört,
was Herr Ackermann bei Maybrit Illner wirklich sagt. Wenn man das Satz für
Satz durchgeht, dann merkte man schon damals, was das für ein Unfug ist.
Jetzt etwas zur Bankenkrise zu machen, habe ich keine Lust. Für mich muss
es jetzt eher so etwas geben wie eine grundsätzliche Analyse unserer
Lebensverhältnisse. So etwas wie die Anstrengung des Begriffs.
Etwa die Frage, ob wir in einem Herrschaftsverhältnis leben? Und dass
dieses mit ein bisschen Keynes und ein bisschen Bankenverstaatlichung nicht
aufzuheben ist?
Es müsste einfach ein ernsthaftes Nachdenken über die Gründe der Krise
geben. Das fehlt mir bislang. Für die Linke im Westen war der Mauerfall ja
ein traumatisches Erlebnis. Eben noch Maoist und dann staatstragender
Redakteur - ob bei der Welt oder bei der taz. Die eigene Vergangenheit,
also das eigene linke Denken, musste dringend ausgelöscht werden. Das hat
Folgen, bis heute. Wenn überhaupt, reflektiert man ironisch über die
Diskussionen von damals oder hält sie im Nachhinein für faschistisch. Wie
Götz Aly. Und macht aus Woodstock einfach mal Auschwitz.
Im Moment reden doch alle wieder vom Kapitalismus als Problem, auch von
Marx.
Aber nicht von Ausbeutung. Schon mit der Frage, ob jemand ausgebeutet wird,
diskreditiert man sich nach wie vor als jemand, der nichts gelernt hat aus
der Geschichte. Ich finde, wenn Banker und Finanzminister "systemisch"
sagen, sollte die Linke das als Anlass nehmen, mal übers System zu reden.
Kapitalismuskritik ist wieder en vogue, weil wir sie nicht mit der Frage
nach Ausbeutung verbinden?
Genau.
Welche Ideen werden noch rausgekantet, weil das Schlagwort
"Kapitalismuskritik" wieder hoffähig ist?
Vielleicht die Frage nach Profit oder auch nach Ideologie. Und die nach
Kultur- oder Medienkritik. Das hört sich jetzt alles so pessimistisch an,
so wie Opa erzählt vom Krieg. Aber es ist schon Wahnsinn, wie kampflos der
letzte Unsinn im Fernsehen, gerade auch bei den öffentlich-rechtlichen
Sendern, hingenommen wird. Und niemand sich fragt, was da für eine
Ideologie am Werk ist, wenn jetzt alle Oliver Pochers Weggang aus der ARD
beweinen. Kapitalismuskritik mit Ideologiekritik zu verbinden, das wäre in
Ordnung. Dann machte Ersteres wieder Sinn.
11 Apr 2009
## AUTOREN
I. Kappert
A. Waibel
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