# taz.de -- Ausbeutung bei Discounter Netto: 1.000 unbezahlte Überstunden | |
> Ein Fillialleiter packt aus: Beim zweitgrößten Discounter-Unternehmen | |
> Netto werden unbezahlte Überstunden systematisch einkalkuliert. Der | |
> Discounter spricht von "Einzelfällen". | |
Es gibt Tage, da kann Joachim Schulz nicht mehr. Der Mann, der aus Angst, | |
arbeitslos zu werden, seinen richtigen Namen nicht nennen will, hat im | |
zurückliegenden Jahr mehr als 1.000 Überstunden geleistet. Unbezahlte | |
Überstunden. "Ich arbeite jeden Tag mindestens 12 Stunden", sagt Schulz, | |
der für einen Discountmarkt in einer Stadt in Sachsen-Anhalt verantwortlich | |
ist. "Es gibt 13-, 14-, 15-Stunden-Tage, teilweise von 5 bis 21.30 Uhr." | |
"Sittenwidrig" und "kriminell" sei es, wie sein Arbeitgeber mit seinen | |
Mitarbeitern umgehe. | |
Sein Arbeitgeber, das ist die Netto Marken-Discount AG & Co. KG mit | |
Hauptsitz im bayerischen Ponholz. Kein anderes Unternehmen der | |
Discounterbranche hat in den vergangenen Jahren so stark expandiert. Im | |
Jahr 2005, als Netto von der Edeka-Gruppe übernommen wurde, begann das | |
Wachstum. Zuerst übernahm Netto 2007 den Discounter Kondi. Und im | |
vergangenen Jahr erlaubte das Kartellamt die Übernahme des Konkurrenten | |
Plus. Inzwischen gibt es fast 3.800 Netto-Filialen in Deutschland. Mehr | |
Märkte haben nur Aldi Nord und Aldi Süd zusammen. Die Leidtragenden dieses | |
rasend schnellen Wachstums sind die Mitarbeiter. | |
Im Netto-Markt von Joachim Schulz werden unbezahlte Überstunden nach | |
Feierabend sogar schriftlich angeordnet. An der Bürotür oder in | |
Arbeitsordnern stünden Anweisungen an das Personal, Sonderaktionsregale | |
umzuräumen und umzuetikettieren, erzählt Schulz. Diese Anordnungen | |
verstoßen gegen geltendes Recht, meint Arbeitsrechtler Wolfhard Kothe "Wenn | |
Überstunden einkalkuliert sind, dann ist es rechtwidrig, wenn sie nicht | |
bezahlt werden." Filialleiter Schulz zückt den Taschenrechner und tippt | |
Zahlen ein. "Wenn man das umrechnet - alle Überstunden im Jahr -, dann sind | |
das vier, fünf Euro Stundenlohn." Laut Arbeitsvertrag stehen ihm mehr als | |
acht Euro netto zu. "Man ist der letzte Arsch im Unternehmen", sagt er mit | |
schiefem Lächeln. | |
Gewerkschafter beobachten bei Netto immer häufiger Verstöße gegen das | |
Arbeitszeitgesetz, aber auch katastrophale Arbeitsbedingungen. Diese | |
Discounterkette gehöre momentan zu den "schlimmsten" der Branche, sagt Jörg | |
Lauenroth-Mago, Ver.di-Fachbereichsleiter für den Handel. Netto weigert | |
sich, die Tarifverträge des Einzelhandels zu akzeptieren. Es zahlt Löhne | |
"in Anlehnung an die Verträge". "Für die betroffenen Kolleginnen, das sind | |
hauptsächlich Frauen, führt das häufig dazu, dass sie quasi für die Hälfte | |
des Geldes arbeiten, das ihnen zusteht", sagt Lauenroth-Mago. | |
Netto weist die Vorwürfe zurück. Es sei Unternehmensmaxime, jede Überstunde | |
zu bezahlen, beteuert die Pressesprecherin Christina Stylianou. Sie sei | |
"entsetzt" sagt sie, als sie mit diesen Berichten konfrontiert wird, um sie | |
schnell zu "Einzelfällen" zu erklären. Mitarbeiter, die betroffen seien, | |
sollten sich an die Unternehmenszentrale wenden, um "das aufzuklären". In | |
einer schriftlichen Stellungnahme heißt es ergänzend, Autos oder Spinde der | |
Mitarbeiter würden nur bei "dringenden Verdachtsmomenten eines | |
Warendiebstahls" und nur in Anwesenheit und mit Zustimmung des Betroffenen | |
durchsucht. Zudem hätten Marktleiter und deren Stellvertreter ein höheres | |
Arbeitsvolumen als Kassierer und würden "daher mit einer monatlichen | |
übertariflichen Extra-Zulage abgegolten". Eine Extra-Zulage hat Joachim | |
Schulz nie bekommen. Und wovon bei Netto keine Rede ist: Netto verankert | |
die Ausbeutung seiner Mitarbeiter durch Überstunden häufig schon im | |
Arbeitsvertrag. So hat Joachim Schulz einen Vertrag über eine | |
38-Stunden-Woche unterschrieben. "Der Arbeitnehmer verpflichtet sich, | |
Überstunden im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen zu leisten", heißt es | |
in dem der taz vorliegenden Papier. "Durch die Planung des Gehalts" seien | |
alle Überstunden abgegolten. | |
Netto ist kein Einzelfall. Die Gewerkschaft Ver.di erhält regelmäßig Anrufe | |
von Mitarbeitern bei Lidl, Penny, Norma und anderen Discountern, manchmal | |
auch von entnervten Ehepartnern, sagt Lauenroth-Mago. Meist klagten die | |
Anrufer über Überstunden. Dabei ist die gesetzliche Lage klar, weiß | |
Wolfhard Kothe, Arbeitsrechtler an der Universität Halle. Es verstößt gegen | |
das Arbeitszeitgesetz "regelmäßig mehr als zehn Stunden Arbeit pro Tag zu | |
verlangen". Alles, was darüber hinausgehe, müsse vergütet werden. | |
Auch im sachsen-anhaltischen Landesamt für Verbraucherschutz melden sich | |
oft erschöpfte Verkäuferinnen und Verkäufer. Das Amt, das Verstöße gegen | |
die Arbeitszeit ahndet, schickt stichprobenartig Kontrollen zu Discountern, | |
sagt der zuständige Fachbereichsleiter Günter Laux. Die Namen der Märkte, | |
in denen am häufigsten Gesetzesverstöße festgestellt werden, darf Laux | |
nicht nennen. Er hat in den vergangenen zwölf Monaten Bußgelder über drei | |
große Discounter verhängt. "Schichtpläne und Aufzeichnungen werden getürkt. | |
Die Leute werden verpflichtet, Stillschweigen zu bewahren. Und es wird | |
Angst erzeugt", sagt Laux. | |
Wie diese Angst erzeugt wird, das hat im Februar der "Tatort" "Kassensturz" | |
vor Augen geführt: In der Discounterhierarchie werden Druck, Stress und | |
Frustration von oben nach unten weitergegeben: Der Geschäftsführer hat | |
Angst vor dem Vorstand, der Gebietsleiter vor dem Geschäftsführer und die | |
Kassiererin vor dem Gebietsleiter. Im "Tatort" führte das zu einem Mord, in | |
der Realität etwa zu den Lidl-Affären: Erst vor wenigen Wochen hatte Lidl | |
eingestehen müssen, geheime Krankenakten über seine Beschäftigten geführt | |
zu haben. Das Unternehmen protokollierte sogar, wer psychische Probleme hat | |
oder sich künstlich befruchten ließ, um schwanger zu werden. Vor einem Jahr | |
beherrschte der Lidl-Bespitzelungsskandal die Schlagzeilen. Lidl hatte | |
seine Mitarbeiter durch Detekteien überwachen lassen, die selbst den Gang | |
zur Toilette notierten. | |
Bei Netto ist es ähnlich. Joachim Schulz weiß, dass misstrauische | |
Gebietsleiter heimlich Spinde der Mitarbeiter kontrollieren. Einmal wurde | |
er spätabends aufgefordert, sein Auto zu öffnen. "Der wollte sehen, ob ich | |
Sachen geklaut habe. Er hat mein Auto durchsucht, nichts gefunden und einen | |
schönen Feierabend gewünscht." Mitarbeiter, die in Ungnade gefallen sind, | |
müssen mit Fiesheiten rechnen. Ein Gebietsleiter habe da seine "Mittel", | |
erzählt Joachim Schulz. "Zum Beispiel, dass er tagtäglich Inventuren | |
anordnet. Diese Inventuren nehmen ein, zwei Stunden in Anspruch. Nach | |
Feierabend natürlich." | |
Kaum ein Mitarbeiter traut sich, öffentlich über die Arbeitsbedingungen bei | |
Lidl, Netto & Co. zu reden. Zu groß ist die Angst, den Job zu verlieren. | |
Anonym tauschen sich Verkäuferinnen in Internetforen wie [1][hilferuf.de], | |
[2][wiwi-treff.de] oder [3][halleforum.de] aus. Dort heißt es: "Ich habe | |
die letzten 2 Jahre fast 2.000 Stunden umsonst arbeiten müssen und ich bin | |
mit Sicherheit keine Ausnahme." | |
Mehr Arbeit mit weniger Personal - das lässt sich mit einem Blick in die | |
Datenbank des Bundesamts für Statistik in Wiesbaden belegen: Die Zahl der | |
Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel ist seit 1998 um etwa ein Drittel | |
gesunken. Mehr als jede dritte Vollzeitstelle wurde ersatzlos gestrichen. | |
Zugleich eröffnen die Discounter aber allerorten neue Filialen. Lidl hat | |
laut seiner Homepage allein in diesem April fünf neue Filialen eingeweiht. | |
Der Netto-Website ist zu entnehmen, dass der Discounter künftig pro Jahr | |
bis zu 150 neue Märkte eröffnen will. | |
Um Personalkosten zu sparen, beschäftigen Discounter immer öfter sogenannte | |
Auspackhilfen, meist Hartz-IV-Kräfte, ohne schriftlichem Arbeitsvertrag, | |
die sich ein paar Euro dazuverdienen wollen. Im Netto-Markt von Schulz | |
arbeiten "vier, fünf Festangestellte und zehn bis zwölf Aushilfen". Vom | |
Umräumen der Regale bis zum Kassieren erledigen diese Auspackhilfen alle | |
Arbeiten, sagt Schulz. "Auch von ihnen wird verlangt, dass sie ein, zwei | |
Stunden pro Tag umsonst länger machen. Die machen das mit, um vielleicht | |
später mal ein Festangestelltenverhältnis zu kriegen." | |
Auspackhilfen verdienen in Discountmärkten meist rund 5 Euro pro Stunde. | |
Schulz bestätigt das. Dabei kümmert es die Discounter wenig, dass deutsche | |
Arbeitsgerichte die Zahlung von derart niedrigen Löhnen als "Lohnwucher" | |
einstufen. Erst vor einem Monat hatten im Ruhrgebiet zwei Packerinnen des | |
Textildiscounters KiK mit ihrer Klage Erfolg. Das Landesarbeitsgericht Hamm | |
urteilte, ihr Stundenlohn von 5,20 Euro brutto sei "sittenwidrig". KiK muss | |
den Frauen insgesamt 19.400 Euro nachzahlen. Ein halbes Jahr zuvor hatte | |
das Landesarbeitsgericht Bremen im Fall einer Auspackhilfe, die 5 Euro | |
verdient hatte, ähnlich entschieden. | |
Als Marktverantwortlicher hat Schulz seine Vorgesetzten hin und wieder auf | |
den Feierabend hingewiesen. "Da kommt als Antwort: ,Dann müssen Sie sich | |
besser organisieren, das ist nicht meine Schuld.' " Schulz kauft kaum noch | |
in Discountermärkten ein. Er empfiehlt: "Einfach die Kassiererin fragen, | |
wie die Arbeitsbedingungen sind. Und nicht immer nur auf die Preise | |
achten." | |
Die Kassiererin fürchtet den Geschäftsführer, der fürchtet den | |
Gebietsleiter, und der fürchtet den VorstandAls "sittenwidrig" befand ein | |
Gericht die Stundenlöhne von 5,20 Euro brutto beim Textildiscounter Kik. | |
18 Apr 2009 | |
## LINKS | |
[1] http://hilferuf.de/ | |
[2] http://wiwi-treff.de/ | |
[3] http://halleforum.de/ | |
## AUTOREN | |
André Seifert | |
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