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# taz.de -- Muntere Leidensberichte aus dem Discounter: Ein Roboter lächelt ni…
> Anna Sams Bestseller "Die Leiden einer jungen Kassiererin" erzählt auf
> unterhaltsame Weise und mit viel Humor aus dem harten Arbeitsalltag in
> einem Discounter.
Bild: 800 Kilo Waren hebt ein Supermarktmitarbeiter pro Stunde.
Fest eingeplante unbezahlte Überstunden, Überwachung der Mitarbeiter, ein
"Klima der Angst": Bei den Lebensmitteldiscountern geht es derzeit
scheußlich zu. Dabei haben es Supermarkt-Mitarbeiterinnen schon ohne derlei
Auswüchse schwer genug. Für den Bereich der Kasse hat das vor kurzem Anna
Sam ausgiebig notiert. Um sich ihr Literaturstudium zu finanzieren, saß die
die junge Frau acht Jahre lang in einem großen französischen Supermarkt an
der Kasse.
Bekannt geworden ist Sam durch ihr Internetblog, in dem sie mit viel
Galgenhumor um Verständnis warb für ein Leben zwischen Scanner-Biep,
Ischiasleiden und jenem Piep, den dumme Kundenfragen auslösen.
Im Internet erreichte Sam zuletzt 600.000 regelmäßige Leser - und die
Verantwortlichen eines Verlags. Das aus den Blog-Einträgen destillierte
Buch "Die Leiden einer jungen Kassiererin" landete in Frankreich direkt auf
den Bestsellerlisten, die deutsche Übersetzung ist ein vergleichbarer
Knüller.
In munterem Tonfall kreisen die kurz gehaltenen Kapitel um die Haute
Couture der Kassenkluft, die nervigsten Kundentypen (ganz weit vorn: die
Kurz-vor-Schluss-Einkäufer und Rabattmarkenabzähler), die Top-3 der
idiotischen Fragen (etwa "Wo sind die Toiletten?", wenn man direkt vor
einem quadratmetergroßen Schild steht) oder die Qualen der
"Servicemitarbeiterin Kasse" mit der eigenen Notdurft angesichts einer
meterlangen Schlange ungehaltener Menschen.
Und das ist noch nicht mal die allergrößte Härte in diesem Beruf, den in
erster Linie Frauen ausüben. Am meisten, so Sam, leidet die Kassenkraft
unter der Last von Milchtüten, Tomaten, Bananen, Yogurtbehältern und
Sonderangebotswindelpaketen: Pro Stunde hat eine Kassiererin sage und
schreibe 800 Kilo Waren anzuheben. Ihre Arbeitszeiten sind furchtbar
unregelmäßig, die Pausen kaum lang genug, um den Aufenthaltsraum zu
erreichen, und sadistische Vorgesetzte keine Ausnahme.
Larmoyanz? Fehlanzeige. Stattdessen gibt Sam süffisante Fitness-Tipps für
Kolleginnen und solche, die es werden wollen: "Ob Sie es nun glauben oder
nicht, aber die Position, die sie an Ihrer Kasse einnehmen - halb stehend,
halb sitzend -, arbeitet Ihre Muskulatur an Gesäß und Oberschenkeln durch.
Ein arbeitsmedizinischer Glücksfall! Vergessen Sie aber nicht: Um die
Resultate zu verbessern, müssen Sie sich zwischen dreißig- und vierzigmal
in der Stunde von Ihrem Sitz erheben."
Bei Teilen ihres Publikums hat Sams humorige Reportage eine
sozialromantische Ader freigelegt, und das schon vor den jüngsten Skandalen
um die Branche. Kaum eine Zeitung ließ eine Besprechung aus (die Welt
titelte etwa: "Gerechtigkeit für die Supermarkt-Kassiererin"), die
Entlassung von Kassenpersonal, das seine Chefs um Kleckerbeträge behumpst
hat, landete mit einer Meldung auf Seite eins. Die solchermaßen schlecht
behandelten Arbeiterinnen kamen auf den Sesseln von angesehenen Talkshows
zu sitzen. Sogar die seriöse Zeit lud eine x-beliebige
Schlecker-Mitarbeiterin zum Interview. Film und Theaterstück zu Sams Buch
sind auch schon in der Mache.
Derzeit bekunden versprengte Trüppchen von Trotzkisten regelmäßig vor
Supermärkten der Tengelmann-Gruppe in verschiedenen deutschen Städten ihre
"Solidarität mit Emmely", wie sie die Kaisers-Verkäuferin Barbara E.
nennen. Der war auf den bloßen Verdacht hin, sie habe für 1,30 Euro
Pfandbons unterschlagen, im vorigen Jahr gekündigt worden. Für ihre
Wiedereinstellung zog sie sogar bis vors Bundesverfassungsgericht.
Die leicht betuliche Solidarität mit diesen 850-Euro-netto-Menschen kommt
zu einem Zeitpunkt, an dem der Job der Kassiererin so gut wie abgeschafft
ist. Gemeint sind nicht die Entlassungen im Lebensmitteleinzelhandel (30 %
der Beschäftigten in den letzten zehn Jahren). Für Kassiererinnen geht die
größte Bedrohung von Selfscanning-Kassen aus. Längst erproben in
Deutschland große Supermarktketten Geräte, an denen der Kunde -
videoüberwacht und für die Einführungsphase noch von einem "Betreuer"
erwartet - das Lesegerät selbst betätigen und anschließend bargeldlos den
Endbetrag entrichten kann. Vorreiter ist der Handelskonzern Metro, der
schon einige seiner Real-Märkte in "Future-Stores" verwandelt hat.
Seit Einführung des Scanners ist eine Kassiererin selbst kaum mehr als eine
Maschine. "Ein Roboterdasein?", fragt Anna Sam. "Aber nein, ein Roboter
lächelt nicht." Gezwungen, wohlgemerkt. So gesehen könnte die neue
Technologie ihre Kolleginnen auch vom Alb der beklagten Monotonie befreien.
Berichte aus der Arbeitswelt wie die von Anna Sam entstehen dann, wenn die
Jobs, von denen sie erzählen, in der Krise sind. Sie bearbeiten das
eklatante Missverhältnis zwischen der ökonomischen Überflüssigkeit der
geleisteten Arbeit und dem berechtigten Ansinnen nach Anerkennung bei
denen, die sie verrichten. Letztlich fordert Sam aber weniger für die
Arbeit als solche eine Würdigung als vielmehr für die mit Aperçus garnierte
intellektuelle Tätigkeit, deren Stumpfsinn zu durchschauen. "Wenn man
drinnen steckt, ist es keine schöne Zeit. Aber darüber zu schreiben, ist
ein echtes Vergnügen. Das nenn ich Erlösung durch die Literatur!" Das sagt
nicht Anna Sam, sondern François Bégaudeaus, Lehrer in einem Pariser
"Problembezirk", Autor des Buchs "Die Klasse" und Hauptdarsteller im
gleichnamigen Film.
Unser Mitleid wollen sie sicher beide nicht.
4 May 2009
## AUTOREN
Christiane Müller-Lobeck
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