# taz.de -- Jugendhilfe via Fußball: Kicken als Kick | |
> Jugendprojekt In Spandau treffen sich Jugendliche jeden Freitag ab 21 Uhr | |
> in einer Sporthalle zum Fußballspielen. Mitternachtssport heißt das | |
> Projekt, das junge Menschen von der Straße holt und sie so von Gewalt und | |
> Vandalismus abhält | |
Bild: In der Fußball-Bundesliga dient der Kick derm Geldscheffeln, in Spandau … | |
Die Lutoner Straße ist schlecht beleuchtet. Nur ab und zu fährt an diesem | |
Freitagabend ein Auto vorbei, ansonsten ist es ruhig und fast ein wenig | |
unheimlich. Der Hof der Carlo-Schmid-Oberschule ist verwaist, nur in der | |
Turnhalle brennt noch Licht. Man hört, wie ab und zu ein Fußball gegen eine | |
der Wände knallt, und man hört Rufe: "Spiel doch ab!" und "Hier rüber!" | |
Es ist Freitag, 23 Uhr, und während sich in vielen Kiezen Berlins die | |
jungen Menschen langsam die Bars und Clubs füllen, spielen hier in Spandau | |
junge Männer Fußball. Für sie stehen neongelbe Leibchen und Fußballschuhe | |
statt Disco-Outfit und Bier auf dem Programm. Und das mit voller Absicht. | |
Ismail Öner trägt eine Baseballmütze und ein schwarzes T-Shirt, | |
"Mitternachtssport Spandau" steht darauf. Der 30-jährige Sozialpädagoge des | |
Vereins für Sport und Jugendsozialarbeit ist der Initiator des Projektes. | |
"Die Idee, nachts Sporthallen zu öffnen, um Jugendliche von der Straße zu | |
holen, kommt aus den Gettos von New York und dem Pariser Banlieu", erklärt | |
er. "In Deutschland war Köln die erste Stadt, die 1995 das Konzept | |
übernahm." | |
Seitdem gebe es vergleichbare Projekte in fast allen großen Städten | |
Deutschlands - in Hannover zum Beispiel jedes Wochenende in 20 Sporthallen. | |
Nur in Berlin sei sein Angebot bislang das einzige, das regelmäßig | |
stattfinde. "Dabei ist die Idee, jungen Leuten in ihrem Kiez am Wochenende | |
ein Sportangebot zu machen, eine Wunderwaffe gegen Gewalt und Vandalismus." | |
Bevor Öner im Dezember 2007 den Spandauer Mitternachtssport ins Leben rief, | |
galt das Gebiet Heerstraße Nord, in dem die Carlo-Schmid-Oberschule liegt, | |
bei der Polizei als kriminalitätsbelasteter Ort. "Hier wurde verstärkt | |
Streife gefahren, Ärger war vorprogrammiert", erzählt der Sozialpädagoge. | |
Besonders an den Wochenenden kam es abends immer wieder zu Zusammenstößen | |
zwischen einer Bande aus bis zu 50 jungen Männern und der Polizei. "Da | |
ihnen das Geld fürs Kino oder die Disco fehlte, hingen sie auf der Straße | |
rum und nahmen den ganzen Stadtteil auseinander." Hier bestand | |
Handlungsbedarf. | |
Eine Lösung zu finden war gar nicht so schwer: eine Halle, ein Ball und | |
jemand, der als Ansprechpartner zur Verfügung steht - mehr braucht es dazu | |
nicht. Timucin Domir ist 20 Jahre alt und seit mehreren Monaten fast jedes | |
Wochenende in der Sporthalle dabei. "Ich treffe hier meine Freunde", sagt | |
er. Außerdem spiele er gerne Fußball. Unter der Woche macht Domir eine | |
Ausbildung zum Bankkaufmann; am Wochenende mit den Gleichaltrigen durch die | |
Clubs zu ziehen ist für ihn keine Alternative. "Wenn man rausgeht, macht | |
man Scheiße: Alkohol, Drogen … - da ist Fußballspielen besser." | |
100 Fußballer pro Nacht | |
So sehen das viele Jugendliche: Bis zu 100 sind es am Wochenende, die mit | |
der Bahn oder auf klapprigen Fahrrädern anreisen, um sich beim Sport | |
auszupowern. Der Bedarf ist da. | |
Doch das Geld ist knapp. 2007 bewarb sich Öner für Fördergelder aus dem | |
Aktionsprogramm "Vielfalt fördern, Zusammenhalt stärken" des | |
Integrationsbeauftragten des Senats - und überzeugte, wenn auch nur als | |
Nachrücker. 40.000 Euro bekam er für das Jahr 2008 zur Verfügung gestellt, | |
um mit Freitag und Samstag an zwei Abenden in der Woche sein Sportangebot | |
zu starten und eine Stelle dafür zu schaffen. | |
Bald wurde das Projekt auch für Jugendliche aus anderen Bezirken geöffnet. | |
Doch trotz des Erfolgs stand der Mitternachtssport zu Beginn dieses Jahres | |
mit dem Wegfall der Fördergelder aus dem Aktionsprogramm vor dem Aus. Erst | |
sehr kurzfristig wurden dann doch noch einmal 8.500 Euro für das Jahr 2009 | |
zur Verfügung gestellt, sodass das Angebot - allerdings auf Freitag | |
beschränkt - zunächst weiter bestehen kann. | |
Der Mitternachtskick ist auch im Sinne der Polizei. "Zahlen gibt es zwar | |
nicht, aber die Jugendlichen, die wir hier im Blick haben, sind jetzt | |
zumindest teilweise am Freitagabend in der Sporthalle statt auf der | |
Straße", berichtet Stefan Miersch, Dienstgruppenleiter im Bezirk. | |
Vor vier Monaten kam Mounir Bouazza zum ersten Mal hierher. "Es hat sich | |
einfach rumgesprochen, dass es dieses Angebot gibt", meint der 21-Jährige. | |
Er spielt, im Gegensatz zu den meisten, auch im Verein Fußball. "Früher | |
wollte ich Profi werden, aber dann habe ich zu viel Scheiße gebaut und mir | |
die Karriere selbst versaut." Nun repariert er Waschmaschinen und kommt | |
jeden Freitag zwölf Stationen mit dem Bus zum Sport. "Man sollte eine GmbH | |
gründen und Sponsoren finden, damit das Projekt weiter ausgebaut werden | |
kann", meint Bouazza. An anderen Wochenendaktivitäten habe er kein | |
Interesse mehr: "Ich bin nicht mehr der Typ für Alkohol", erklärt er. | |
"Außerdem ist Isi ein super Mensch. Sogar meine Brüder haben Respekt vor | |
ihm." | |
Öner, der von den Jugendlichen nur mit Isi angesprochen wird, hat Zugang | |
gefunden zu den jungen Leuten, die viele andere längst abgeschrieben haben. | |
"Hier kickt jeden Abend die Champions League der polizeibekannten | |
Intensivtäter", meint er. "Dennoch laufen die Spiele immer friedlich ab - | |
obwohl es nicht einmal einen Schiedsrichter gibt." In der Sporthalle halte | |
man sich automatisch an seine goldenen Regeln: Toleranz, Respekt und Fair | |
Play. Etwa, als kurz vor dem Tor ein Jugendlicher in Zweikampf zu Fall | |
kommt und quietschend über den Hallenboden rutscht. Sofort geht der | |
Übeltäter zum Gefoulten und entschuldigt sich. "Hier reichen sie sich die | |
Hand", meint Öner. "An anderer Stelle wäre es jetzt Zeit für einen | |
Nasentrümmerbruch." | |
Sein Geheimnis sei die Begegnung mit den jungen Leuten auf Augenhöhe. "Die | |
sehen mich als ihren staatlich bezahlten Abi, also großen Bruder", erklärt | |
der Sozialpädagoge. Er genieße ihr Vertrauen und könne den Sport als | |
Plattform nutzen, an die eigentlichen Probleme heranzukommen. "Wenn ich | |
hier beim Sport von Schulproblemen erfahre, bin ich Montag um neun in der | |
Schule." | |
Darüber hinaus fördere der Sport auch die sozialen Kompetenzen und stärke | |
das Selbstbewusstsein. "Für viele, denen Erfolge in der Bildung oder auch | |
in anderen Bereichen fehlen, ist der Körper die letzte Ressource." Ein | |
schönes Tor und die Anerkennung der Mitspieler seien da enorm wichtig. | |
Umzug in eine andere Halle | |
Ab diesem Freitag wird der Mitternachtssport verlegt und in die | |
zweistöckige Sporthalle der Bertolt-Brecht-Oberschule in der Wilhelmstraße | |
umziehen. "Während wir auf der einen Ebene Fußball spielen, will ein | |
Kollege auf der anderen Kampfsport und Streetdance anbieten", erklärt | |
Ismail Öner. Auch überlegten inzwischen andere Bezirke, nächtliche | |
Sportangebote nach dem Spandauer Modell anzubieten. | |
Als Betreuer könnten sie dann auch einige der Jugendlichen einsetzen, die | |
Öner zu Multiplikatoren aufgebaut hat und mittlerweile als Honorarkräfte | |
beschäftigt. "Mein Ziel ist es, dass sie irgendwann ihre eigene | |
Veranstaltung schmeißen", sagt er. Und vielleicht können dann auch Angebote | |
für junge Frauen geschaffen werden. "Im Bereich Heerstraße Nord sind sie | |
nicht das Problem. Deshalb wurde unser Projekt ausschließlich für Jungs | |
konzipiert", erläutert Öner. Generell sei die Einbeziehung von Frauen aber | |
durchaus denkbar. | |
Mittlerweile ist es spät geworden. Einige der jungen Männer sind nach Hause | |
gegangen; andere sind hinzugekommen. Noch bis um drei Uhr wird gekickt, | |
dann schließt Öner die Halle - bis zum nächsten Freitagabend. | |
13 May 2009 | |
## AUTOREN | |
Juliane Wiedemeier | |
## TAGS | |
Jugendarbeit | |
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