# taz.de -- die wahrheit: Rotkäppchens Reichtum | |
> Auf der Aktionärsversammlung der schwer angeschlagenen New Yorker | |
> Citibank ging es hoch her und offenbarte den ganz normalen Irrsinn des | |
> Kapitalismus. | |
Bild: Für die Citibank führen alle Wege in eine goldene Zukunft: Jeden Steuer… | |
Manhattan, Sixth Avenue, neun Uhr morgens. Auf dem Weg zur ersten | |
Aktionärsversammlung meines Lebens werde ich vor dem Eingang des Hilton | |
Hotels von Protestgeschrei gebremst. Der Grund steht auf selbst gemalten | |
Transparenten: Citibank, deren Kleinaktionär ich bin, finanziert Kredite, | |
mit deren Hilfe ein paar hundert Meilen südlich in Virginia beim Kohleabbau | |
ganze Berggipfel abtragen werden, eine Praxis, die, so muss ich zugeben, | |
meine Missbilligung findet. "We want our money back", skandiert der Chor | |
der Protestierer, eine Forderung, die sie garantiert mit den Aktionären | |
gemeinsam haben. | |
Im dritten Stock, nach nicht sehr ausführlichen Sicherheitskontrollen, | |
warten im rappelvollen Hilton Ballsaal meine Mitaktionäre: Ältere Frauen in | |
farbenfroher Freizeitkleidung, Geschäftsleute in Anzug und Krawatte, Damen | |
im Businesskostüm und rüstige Rentner; dazwischen Wirtschaftsjournalisten | |
vor aufgeklappten Laptops. Auf dem Podium hält der Aufsichtsratvorsitzende | |
Richard Parsons die Begrüßungsansprache; sein Gesicht lächelt von zwei | |
großen Leinwänden und zahllosen Bildschirmen, auf einer dritten Leinwand | |
wölbt sich über seinem Kopf wie zum Schutz das Citi-Zeichen. Er beendet | |
seine Rede mit der freundlichen Aufforderung, den scheidenden | |
Aufsichtsratmitgliedern zu danken. "Thank God, theyre gone!", brüllt jemand | |
aus dem Publikum. Die Veranstaltung verspricht lebhaft zu werden. | |
Es folgt der Auftritt des Hauptgeschäftsführers Vikram Pandit. Unser "CEO", | |
der noch vor nicht allzu langer Zeit einen Teil der 45 Milliarden | |
staatlichen Rettungsgelder zum Erwerb eines brandneuen Firmenjets verwenden | |
wollte, liefert eine Mischung aus Jahresbericht, Bußrede und ziemlich | |
kraftlos wirkender Motivationspredigt. Sobald die Wirtschaft sich erholt, | |
wird Citi als Gewinner dastehen! Investition in Citibank ist Investition in | |
die Zukunft! Wir werden dem Steuerzahler jeden Dollar zurückzahlen! "Jemand | |
hat mich neulich angesprochen", bekennt der Firmenchef, "es müsse doch in | |
der gegenwärtigen Lage hart für mich sein, wie unfair ich oft behandelt | |
werde. Aber nein, habe ich geantwortet, das wirklich Unfaire ist das | |
Unrecht, dass Ihnen, den Citibank-Aktionären, zugefügt wurde!" | |
Applaus regt sich. Im Gang neben mir sammeln sich Sicherheitsleute, über | |
deren Hemdkragen sich die Kabel unsichtbarer Kopfhörer kringeln. Mich | |
überkommt das unangenehme Gefühl, in einem Hollywood-Verschwörungsfilm zu | |
sitzen, gleich werden Schüsse knallen, auf der Leinwand das ungläubige, | |
überlebensgroße Gesicht des Getroffenen, der zusammensackende Körper, | |
Sicherheitsbeamte, die aufs Podium stürzen, Panik im Saal … | |
"Citi hat die Kraft zum Comeback!", schmettert Pandit in Unkenntnis meiner | |
Horrorfantasien sein Finale ins Publikum und tritt ab. Ich atme auf. Mr. | |
Parsons erteilt das Wort den Aktionären, ab jetzt stehen verschiedene | |
Satzungsänderungsvorschläge zur Diskussion. "Die erste Wortmeldung … Miss | |
Davis." - "Misses! Ich hatte vier Ehemänner!" | |
Auf der Leinwand erscheint das sorgfältig geschminkte Gesicht einer | |
mindestens achtzigjährigen Blondine. "Die Regierung will unsere Firma | |
unterwandern! Ich will wissen, ob Leute von Tarp hier sind!" Offenbar führt | |
das "Troubled Asset Relief Program" der Regierung, das maroden Firmen gegen | |
staatliche Beteiligungen Finanzhilfen gibt, auf direktem Weg in den | |
Sozialismus, Mrs. Davis vergisst jedenfalls vor lauter Empörung ihren | |
Vorschlag zur Satzung. | |
Ein Mann namens Russel verlangt jetzt Aufklärung über die Spesen eines | |
ehemaligen Vorstandsmitglieds. "Wenn der Zeit hatte, auf Reisen 500.000 | |
Dollar zu verbraten, wann hat der eigentlich gearbeitet?" Eine Auskunft, | |
die der Aufsichtsrat auf die Schnelle leider auch nicht geben kann, weshalb | |
er Russel auf die am Ende vorgesehene Frage-und-Antwort-Session vertröstet. | |
Zunächst aber hören wir von Sister Nash, Ordensschwester aus Philadelphia. | |
Ihre gläubigen Investoren sind der Meinung, man dürfe Menschen mit | |
niedrigen Einkommen nicht durch leicht zugängliche Kredite in Versuchung | |
führen, weshalb dringend Änderungen im Kreditgeschäft … "Unsinn!", schnarrt | |
Mrs. Davis. "Denen muss man die Kreditkarten wegnehmen!" Beifall, Buhrufe, | |
Heiterkeit. | |
Eine Dickmadame in violettem T-Shirt und schwarzen Freizeithosen, auf dem | |
Kopf ein knallrotes Paillettenkäppi, tritt ans Mikrofon und gibt eine | |
Zusammenfassung ihres Lebens: "Ich war ein sehr armes Mädchen, dann bin ich | |
mit Citibank-Aktien sehr reich geworden. Jetzt bin ich wieder arm." | |
Rotkäppchen bietet an, unentgeltlich in den Vorstand zu gehen und wünscht | |
Mr. Pandit alles Gute für die Zukunft. Russel teilt uns seinen Verlust von | |
einer Million Dollar in Citi-Aktien mit. Selbstverständlich könne er ihn | |
abschreiben, ein Nachteil sei allerdings, dass es bei der Höhe seines | |
Einkommens etwa 200 Jahre dauern werde, bis er getilgt sei. | |
Aus unerfindlichem Grund schreit Rotkäppchen plötzlich fäusteschwingend auf | |
Russel ein; das Brüllduell dauert etwa zwei Minuten, dann erneute | |
Mikro-Geiselnahme durch Mrs. Davis: "Mr. Pandit, treten Sie ans Mikrofon!" | |
- "Aber ich habe ein drahtloses." - "Ich will, dass Sie nach vorn ans | |
Mikrofon treten!" Rotkäppchen mischt sich ein: "Mr. Pandit, Sie stehen am | |
Ende einer lange Kette von Wirtschaftsverbrechern, aber ich glaube an Sie!" | |
Eine Frau mit breitkrempigem Hut, die die Veranstaltung offenbar mit dem | |
Pferderennen von Ascot verwechselt, schwankt auf zehn Zentimeter hohen | |
Absätzen nach vorn und will wissen, ob jemand von der Regierung anwesend | |
sei. Der Aufsichtsratsvorsitzende fragt, ob jemand unbedachterweise die | |
Hand heben wolle … Rotkäppchen wünscht Pandit ein drittes Mal alles Gute. | |
Es folgt die Abstimmung, deren Ergebnis unverzüglich verkündet wird. Die | |
Anträge der Aktionäre sind sämtlich abgewiesen. Der Aufsichtsrat ist mit | |
Blockwahl bestätigt, ebenso die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, deren | |
offensichtlich blinde Angestellte seit Jahren die Bilanzen prüfen. Die | |
"Investition in die Zukunft" hat begonnen, es folgt die | |
Frage-und-Antwort-Session. | |
Die Aktionäre verlassen verausgabt den Saal, zurück bleibt ein Häufchen | |
Aktivisten und Bittsteller, die brav zwei Schlangen hinter den Mikrofonen | |
bilden. Eine Gesandte der protestierenden Umweltgruppe vom Morgen aus | |
Virginia trägt eine Petition gegen Kredite zur Abtragung von Berggipfeln | |
vor. Jemand, der 47.000 Anteile zum Preis von 29 Dollar - jetziger Wert | |
etwa 3 Dollar - erworben hat, erkundigt sich, wann es wieder Dividenden | |
gäbe, er sei nämlich pleite und habe kein Einkommen mehr. Ein Vertreter des | |
Acorn Housing Development erscheint im Kreise von vier schwarzen Senioren, | |
als Dank dafür, dass Citibank sie in Zeiten der Not nicht fallengelassen, | |
sondern vor der Zwangsvollstreckung bewahrt hat. Zu guter Letzt dann die | |
Sprecherin des Rainforest Action Network, die schon im vergangenen Jahr da | |
war und immer noch auf den versprochenen Termin wartet. "Gut, Sie | |
wiederzusehen!", freut sich Pandit. | |
Sehe ich diesmal den Hollywoodfilm, in dem der zynische Wirtschaftsboss und | |
die idealistische Aktivistin sich erst bekämpfen und dann unsterblich | |
ineinander verlieben? Wird am Ende doch noch alles gut? Wie sagt | |
Rotkäppchen? Ich glaube an Sie, Mr. Pandit! Citbank ist tot - es lebe | |
Citibank! | |
15 May 2009 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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