# taz.de -- Streikende Erzieher: Wenn der Tinnitus droht | |
> Deutschlands Erzieherinnen und Erzieher streiken seit Mitte Mai. Sie | |
> fordern mehr Geld und besseren Gesundheitsschutz. Ihr Alltag ist vor | |
> allem: Laut. | |
Bild: Streiken für mehr Gesundheitsschutz: "Eigentlich müssten die Erzieherin… | |
Es ist kein guter Tag heute. Die Sonne strahlt, etwa zwei Dutzend Kinder, | |
manche in Badekleidung, laufen im Garten des Kindergartens Markgrafenstraße | |
in Berlin-Kreuzberg herum. Die Jungens und Mädchen klettern ein Spielgerüst | |
hoch, schaukeln, als wollten sie in die Sonne springen, fahren johlend in | |
Dreirädern mit Anhängern herum, rutschen etwa 326-mal hintereinander eine | |
silbern glänzende Rutsche herunter oder kicken in der Ecke so verbissen wie | |
Titelaspiranten. Sie rennen, sie schreien, sie lachen - kurz: Die Kinder | |
bewegen sich viel und beschäftigen sich selber. Es ist kein guter Tag, um | |
zu erklären, was an der Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern so hart ist. | |
Sabine Müller, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, | |
kennt auch die anderen Tage nur allzu gut. Diese langen Tage im Winter vor | |
allem, wenn die 28 Kinder ihrer "Sternschnuppen"-Gruppe alle in der Bude | |
hocken müssen. Acht Stunden lang Geschrei, nervtötend selbst oder gerade | |
nach 25 Jahren Berufsjahren. "Das ist das Schlimmste: die Lärmbelästigung", | |
erklärt sie im Sportraum des zweistöckigen Backsteinbaus. "Da ist man schon | |
sehr gefordert, geduldig zu bleiben." Die 45-Jährige wirkt sehr geduldig. | |
Beim Sport hätten die Kinder eben "das Bedürfnis, einfach mal | |
loszuschreien", sagt Sabine Müller. "Ich bin sonst nicht in diesem | |
Sportraum - obwohl ich sehr gern Sport treibe." Das Sportzimmerchen ist aus | |
Kostengründen kaum schallgedämmt. "Das tut mir nicht gut, und das tut den | |
Kindern nicht gut." Ein Arzt hat der schlanken, blonden Frau bereits | |
"partielle Schwerhörigkeit" attestiert. | |
Seit Mitte Mai streiken die Erzieherinnen und Erzieher. Es geht um mehr | |
Geld, vor allem aber um mehr Gesundheitsschutz. Denn eine unabhängige, vor | |
dem Streik erarbeitete Studie belegt: Die Arbeit an den Kleinsten macht | |
krank. | |
Warum ist das so? Wolfgang Brauer hat eine Antwort. Der 62-jährige | |
Psychologe ist Leiter der 1. Staatlichen Fachschule für Sozialpädagogik | |
Berlin. Hier, unweit der Deutschen Oper, lernen 900 junge Frauen und Männer | |
in einer dreijährigen Ausbildung den Umgang mit Kindern und Jugendlichen. | |
Die Fachschule ist keine Uni, Brauer redet trotzdem nur von "Studierenden". | |
Die Männer unter ihnen lockt meist die Arbeit mit Jugendlichen, in die | |
Kitas gehen fast nur Frauen. Brauer, ein braun gebrannter, weißhaariger | |
Mann mit der Ruhe eines Märchenonkels, sagt: "Der Grund, zu streiken, ist | |
völlig legitim und nachvollziehbar." | |
Die Kita-Erzieherinnen - Brauer benutzt nur die weibliche Form - hätten | |
"immer größeren Erwartungen" zu genügen - "legitimen Erwartungen", wie | |
Brauer betont. Die Erzieherinnen in den Kitas müssten etwa mehr bilden als | |
früher. Vorbereitungszeiten aber sind dafür nicht vorgesehen. "Außerdem ist | |
das Verhalten vieler Kinder nicht leichter geworden." Hinzu kommen die | |
ständige Ansprache und der Lärm. "Eigentlich müssten die Erzieherinnen | |
einen Ohrenschutz tragen", sagt er. Todernst. | |
Hatice Coskun würde das nie so sagen - zumindest noch nicht. Die 22-jährige | |
Berlinerin, deren Eltern in der Türkei geboren wurden, besucht Brauers | |
Schule. Die dunkelhaarige Schöne weiß von fertig ausgebildeten | |
Erzieherinnen, "die einen Tinnitus oder wie das heißt haben". Aber: "Jede | |
Arbeit ist irgendwo stressig." Und mit viel Sport als Ausgleich "lässt sich | |
das regeln". Allerdings wisse sie auch noch nicht, "ob ich jeden Tag acht | |
Stunden arbeiten könnte". Hatice Coskun hat bereits ein langes Praktikum in | |
einer Kita gemacht - im Multikulti-Stadtteil Neukölln, wo es recht hart zur | |
Sache zu gehen pflegt. Die Studierenden sind während der Ausbildung etwa | |
ein Jahr im Praktikum. | |
Mit Lärm, das weiß Hatice Coskun deshalb, kann sie umgehen. "Ich bleibe | |
eher ruhig", sagt sie. Auch dass das Gehalt niedrig ausfallen wird, stört | |
sie kaum. Hatice Coskun schätzt es auf 900 Euro netto im Monat. "Schade", | |
fügt sie hinzu, "dass die Erzieherinnenausbildung nicht so anerkannt ist." | |
Dann aber berichtet sie mit einem Strahlen, dass es so schön sei, zu | |
beobachten, "wie die Kinder spielen, und ihre Entwicklung zu sehen". Sie | |
wolle ihre Zweisprachigkeit bei der Arbeit nutzen und sich besonders um | |
Kinder aus Migrantenfamilien kümmern. "Ich will Vorarbeit leisten, bevor | |
sie in die Schule kommen", sagt sie. Ihre Begeisterung ist so ansteckend, | |
dass man fast wünschte, bald selbst in ihrer Kita in Neukölln zu landen. | |
Hatice Coskun kommt eben aus dem Kurs ihres Dozenten Johannes Sumser, es | |
ging um die Geschichte der Pädagogik. Er spielte ihnen auf einem | |
Kassettenrekorder die "Reichenberger Rede" Adolf Hitlers von 1938 vor. Ziel | |
der NS-Pädagogik, so schreit der Führer wie ein böser Geist aus den | |
Lautsprechern, sei es, die Jugend zu Nationalsozialisten zu machen - "und | |
sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben!". Dozent Sumser kennt die Rede | |
fast auswendig, ihn empört sie immer noch. Seine Schüler teilen diese | |
Empörung kaum. Oder zeigen es zumindest nicht. | |
Aber vielleicht ist diese dunkle Welt, diese schwarze Pädagogik auch viel | |
zu weit weg von den jungen Menschen, die heute Erzieherinnen und Erzieher | |
werden wollen. Es wird viel gelächelt an der Fachschule für Sozialpädagogik | |
- man hört Vogelgezwitscher; Lärm und Brüllerei kann man sich hier gar | |
nicht vorstellen. Alexander Voßebürger-Dohme ist ein Kommilitone von Hatice | |
Coskun und einer der ganz wenigen Männer mit Berufsziel Erzieher. Der | |
39-Jährige hat einen langen Umweg über ein abgebrochenes Geophysikstudium | |
hinter sich, ist aber jetzt Feuer und Flamme für seinen späteren Beruf. "Es | |
gibt nichts Größeres, als jeden Tag freundlich begrüßt zu werden", sagt er, | |
"Kinder sind immer gut drauf." | |
Voßebürger-Dohme, selbst Vater zweier Kinder, sagt, er habe keine Angst vor | |
dem Stress, der ihn im Job erwarte: "Dieser Lärmpegel existiert im Wald | |
nicht", sagt er. Er hat sich ganz bewusst eine Praktikumsstelle in einem | |
Waldkindergarten gesucht. Hier möchte er arbeiten. Seine Idee ist, später | |
einmal mit einem naturwissenschaftlichen Erziehungsprogramm durch die Kitas | |
zu ziehen. Das werde ihm helfen, dem Stress und der Routine zu entgehen, | |
meint er eifrig. | |
Ähnlich leidenschaftlich redet auch Ilse Wehrmann über die Arbeit mit den | |
Kleinsten. Eben hat die Kita-Expertin auf dem Evangelischen Kirchentag in | |
Bremen auf dem Podium "Kinder-Reich. Mein Armutsfaktor ist ein Schatz" | |
gesprochen. "Die Kinder sind doch ein Stückchen komplizierter geworden", | |
sagt die frühere Geschäftsführerin der Evangelischen Tageseinrichtungen für | |
Kinder in Bremen. Die Kita-Erzieherinnen müssten heute den Dreisprung von | |
Erziehung, Bildung und Betreuung schaffen - und das unter den Argusaugen | |
von Eltern, die wollen, dass ihre Kinder "am besten im Kindergarten Abitur | |
machen", wie die Wissenschaftlerin sarkastisch sagt. Die heutigen Kinder | |
"bringen mehr Defizite mit". Da fragten sich manche Erzieherinnen, ob sie | |
sich nun mehr um die Kinder oder um deren Eltern kümmern müssten. | |
Wehrmann fordert eine Akademisierung der Ausbildung, auch "wenn dies nicht | |
alle Probleme lösen wird". Nötig sei zunächst einmal mehr berufsbegleitende | |
Fortbildung. Ebenso die Verkleinerung der Gruppen, auch um den Lärm zu | |
verringern. Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di verlangte am Mittwoch | |
unter anderem mehr Lärmdämmung in den Kitas. Der Lärmpegel einer | |
Kindergruppe sei mit dem eines startenden Flugzeugs zu vergleichen. Die | |
Erzieherinnen seien "Zukunftsgestalter unseres Landes", sagt Ilse Wehrmann | |
mit angenehmem Pathos, "Kinderpolitik ist Wirtschaftspolitik". "Weil wir | |
Kinder nicht wertschätzen, schätzen wir unsere Pädagogen nicht sehr", sagt | |
sie - und das ist nur eines der Bonmots, die sie so mühelos hervorzaubern | |
kann wie Kinder ein Lächeln. | |
Weniger blumig spricht Barbara Wetzel, Sabine Müllers Chefin, in der | |
Berliner Markgrafenstraße über das Engagement, aber auch den Stress ihrer | |
Erzieherinnen - der einzige Mann hier ist der Hausmeister. Die | |
Erzieherinnen seien in "einem Beruf, der Verschleiß erzeugt", sagt die | |
58-Jährige. "Es ist eine unglaubliche nervliche Belastung": "Wenn es mal | |
regnet und es ist kalt, dann sieht es hier anders aus", betont sie. Schuld | |
am Stress der Erzieherinnen sei natürlich der Lärm, aber auch die "hohe | |
Verantwortung". In ihrer Kita mit bis zu 90 Prozent Kindern aus | |
Migrantenfamilien leiste ihr Personal viel Integrations- und Lernarbeit. | |
"Wir müssen uns immer wieder hinterfragen." Dabei finden sie und ihre | |
Koleiterin Sylvia Klose die multikulturelle Atmosphäre sehr gut. "Die | |
Kinder befruchten sich gegenseitig, wenn sie aus verschiedenen Kulturen | |
kommen", sagt Sylvia Klose, "sie lernen voneinander." | |
In einer Pause setzt sie sich mit einer schwarzen Gitarre in den Garten. | |
Sie will die Kinder zum Singen bringen. Ein Lied geht um eine Busfahrt, bei | |
der laut Refrain alles "stun-den-lang" dauert. "Die Kinder im Bus machen | |
viel Krach - stun-den-lang", singt Sylvia Klose. Kaum ein Kind singt mit. | |
27 May 2009 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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