# taz.de -- Polen in Berlin: Mäntel, Wurst und Vorurteile | |
> Schon vor dem Mauerfall traf Westberlin 1989 auf den Osten - beim | |
> legendären Polenmarkt. Seither formen die östlichen Nachbarn die | |
> Wirtschaft der Stadt mit. Ihr Potenzial aber wird nicht ausgeschöpft. | |
Bild: Das Potential der Nachbarn aus dem Osten wird nicht abgeschöpft. | |
Geblümte Kaffeetassen stehen noch auf dem Tisch, eine gelbe Thermoskanne, | |
Kekse. Es scheint nett zugegangen zu sein an diesem Vormittag im Polnischen | |
Sozialrat. Die Mitarbeiter trafen sich mit deutschen Polizisten zum | |
Seminar. Thema: Wie kann die Polizei besser mit polnischen Migranten | |
umgehen. Witold Kaminski winkt fröhlich ab. Es war eher ein Plaudern. Die | |
Polizisten kommen gern hierher. Problemchen, die heute noch auftreten, sind | |
eigentlich nicht der Rede wert. Eigentlich. | |
Seit 20 Jahren veranstaltet der drahtige kleine Mann mit dem schulterlangen | |
weißen Haar die Polizeiseminare. 1982 gründete er den Sozialrat als | |
Interessenvertretung der polnischen Migranten. Heute ist er eine der | |
größten Selbsthilfeorganisationen der Community in Deutschland. Damals, | |
1989, erzählt Kaminski, habe es einen sehr handfesten Grund für die Arbeit | |
mit der Polizei gegeben: Beschlagnahmungen von Hab und Gut, Misshandlungen | |
und vor allem jede Menge Vorurteile seitens der Behörden. Es war die Zeit | |
des Polenmarkts. Wenn der 62-Jährige sich erinnern soll, dann bekommt seine | |
Stimme einen wehmütigen Klang. "Es ist damals viel Porzellan zerschlagen | |
worden, auf der menschlichen Ebene", sagt der Mann. Und auf der | |
wirtschaftlichen Ebene sei - damals bis heute - viel Potenzial nicht | |
genutzt worden. | |
1988 erlaubte Warschau seinen Bürgern Reisefreiheit. Und die nutzten diese | |
Möglichkeit zu Hunderten, zu Tausenden, um in die visumfreie Stadt Berlin | |
zu fahren. Im Juni 1989 waren es 40.000, die kamen - jeden Tag. Sie reisten | |
mit der Eisenbahn an - 1,80 Mark kostete das Ticket für Berlin-Stettin und | |
zurück -, mit Autos und in Bussen, die an der Straße des 17. Juni parkten, | |
einer hinter dem anderen wie heute die Touristenautos. | |
Die Polen aber wollten sich nicht die Stadt anschauen. Sie wollten Waren | |
verkaufen. Zum Beispiel T-Shirts, die in Polen umgerechnet 5 Pfennig | |
kosteten. Die Rechnung war einfach: Wenn man in Berlin 20 Shirts für 2 Mark | |
das Stück verkaufte, dann hatte man einen Monatsverdienst in Polen | |
zusammen. | |
Für ausländische Korrespondenten war der Polenmarkt das große | |
Medienereignis im Frühsommer des Jahres 1989. Bilder, die kurz darauf nur | |
vom Fall der Mauer übertrumpft wurden. Egal ob junge Männer, ältere Frauen, | |
ob Lehrer oder Ärzte - sie alle breiteten am Reichpietschufer und später am | |
Potsdamer Platz unweit der Philharmonie ihre Decken aus und boten darauf | |
polnische Würste an, eingelegte Pilze, Kristall, Zigaretten, Schnaps. Es | |
waren Bilder vom Handel in seiner Urform. | |
Für Westberlin aber war es eine Zumutung. Die Zeitungen und die Parteien | |
sprachen von unhaltbaren Zuständen, von Schmutz, Kriminalität, | |
Prostitution. Das Phänomen Polenmarkt sahen die Wenigsten der ökonomischen | |
Situation geschuldet, schnell wurde der Handel der Mentalität eines Volkes | |
zugeschrieben. | |
"Die Öffnung zu Polen hat vieles durcheinandergewirbelt", resümiert der | |
Ökonom Dietrich Henckel. Er selbst erlebte den Polenmarkt, wie er sagt, als | |
"Voyeur". Später beschäftigte er sich als Wissenschaftler für regionale | |
Ökonomie mit der informellen Wirtschaft in Berlin. Wo vorher meist nur | |
Türken handelten, kamen nun die Polen, später auch die Russen und die | |
Vietnamesen hinzu. "Die Maueröffnung hat die Struktur der informellen | |
Ökonomie deutlich verändert", sagt Henckel. | |
Interessanter aber noch findet der Raumökonom, dass sich durch den Handel | |
der Polen auch die formelle Ökonomie veränderte. In der Kantstraße | |
siedelten sich Elektronikläden an, einer neben dem anderen. Meist betrieben | |
Polen, die schon länger in der Stadt lebten, die Geschäfte. Hier kauften | |
sich die reisenden Händler für ihr auf dem Polenmarkt verdientes Geld ihre | |
ersten Computer. | |
"Handel ist nie eine Einbahnstraße", sagt Witold Kaminski. "Auch die | |
Westberliner Wirtschaft profitierte. Doch das wollte damals niemand | |
wahrhaben." Dabei war der Polenmarkt, so Kaminski, "eine Chance, sich mit | |
dem deutsch-polnischen Verhältnis auseinanderzusetzen". Denn bevor sich | |
Ost- und Westdeutsche begegneten, traf die Möchtegern-Metropole Westberlin | |
erst mal auf Polen. | |
Das verlief in eingefahrenen Bahnen, gekennzeichnet von Stereotypen und | |
Vorurteilen. Von den Schikanen der Behörden seinen Landsleuten gegenüber | |
erfuhr Witold Kaminski täglich. Hilfesuchende riefen ihn an, kamen zu ihm | |
in seine Wohnung, wenn sie Beschimpfungen oder gar Misshandlungen erlitten | |
hatten oder ihre Waren beschlagnahmt wurden. Sie kamen aber auch, um | |
Zigaretten und Alkohol zu verkaufen. Kaminski erfuhr, dass selbst seine | |
Telefonnummer zum Handelsgut wurde. | |
Schon der CDU/FDP-Senat unter Eberhard Diepgen ließ das Gelände Ende 1988 | |
einzäunen und veranstaltete Großrazzien gegen die Händler. Auch die | |
rot-grüne Nachfolgeregierung unter Walter Momper versuchte im Juni 1989 | |
durch Einzäunen und Verbot, der Situation Herr zu werden. "Es ist | |
vielleicht sehr urdeutsch zu glauben, was man nicht erlaubt, gibt es nicht | |
mehr", sagt Kaminski. Plötzlich gab es hundert Polenmärkte verstreut in der | |
Stadt. | |
Erst nach der Wiedervereinigung verschwanden die Marktpolen nach und nach | |
aus dem Stadtbild. Westberlin hatte mit der deutschen Einheit seinen | |
Sonderstatus verloren. Plötzlich bestand wie im Rest der Bundesrepublik | |
Visumspflicht für Polen. Als diese später wieder abgeschafft wurde, blieben | |
die Händler trotzdem aus. Die Not, an Geld zu kommen, verschwand mit der | |
Privatisierungswelle auch in Polen. Und wer noch mit Gütern handeln wollte, | |
reiste in die Grenzstädte. Heute sind die Polenmärkte auch dort so gut wie | |
verschwunden. | |
Statt Waren werden nun höherwertige Dienstleistungen gehandelt - ob | |
informell oder formell -, von Putzfrauen und Pflegekräften bis hin zum | |
Zahnarzttourismus. Eine ganze informelle Infrastruktur für Pendler hat sich | |
entwickelt, betrieben zumeist von Landsleuten mit einem gesicherten | |
Aufenthaltsstatus. Die Industrie- und Handelskammer verweist stolz auf die | |
offiziellen 5.209 Unternehmen mit polnischen Geschäftsführern in Berlin. | |
Das sind fast so viel wie türkische Firmen: vom Großhändler bis hin zum | |
Busbauer, vom Gastronomiebedarf bis zum Reiseunternehmen. Auch in die | |
andere Richtung, von Berlin nach Polen, so die IHK, "pulsieren die | |
Wirtschaftsadern". | |
Kaminski zeichnet mit dem Finder eine aufsteigende Linie auf den Tisch. | |
"Von außen betrachtet", sagt er, "ist das eine Erfolgsgeschichte." Aber ihm | |
geht die Entwicklung viel zu langsam. Was früher der Schwarzmarkt war, sei | |
heute die Scheinselbstständigkeit. "Kein Mensch weiß, wie viele polnische | |
Einmannfirmen es in Berlin gibt", sagt Kaminski. "Und niemand denkt daran, | |
diese zu legalisieren." Und dann gebe es noch all das ungenutzte Potenzial, | |
wenn der ausgebildete Arzt als Trockenbauer, die Akademikerin als Putzfrau | |
arbeitet. "Ich habe Angst", sagt er, "dass Erfolgsmeldungen den Blick dafür | |
versperren, was wir als Berliner Gesellschaft, als Berliner Wirtschaft | |
verloren haben." | |
Zwar sind die Polen seit fünf Jahren in der EU, eine Arbeitserlaubnis haben | |
viele dennoch nicht. Der Polnische Sozialrat veranstaltet Kurse für | |
polnische Gewerbetreibende, die laut Kaminski oft nicht wissen, was Recht | |
und Unrecht im deutschen Gesetz sei. Gelder für die Schulungen gibt es | |
nicht. "Dabei wäre das eine Investition, die sich schnell auszahlen würde." | |
Genauso wütend macht Kaminski, dass die Polen andererseits keine | |
Integrationsmaßnahmen bekämen. Weil sie eben EU-Bürger sind. | |
Und noch etwas treibt ihn um: Vor zwei Jahren hat er mit einem Kollegen ein | |
Projekt gestartet: Polnische Unternehmer sollen die Brandenburger Stadt | |
Forst vor dem Aussterben retten. Auch andere Dörfer, ganze Regionen könnten | |
von polnischen Zuwanderern profitieren, so die Vision, wenn man nur ihr | |
Potenzial nutze. Dafür müssten jedoch die alten Ängste überwunden werden. | |
"Auf beiden Seiten gibt es Minderwertigkeitskomplexe - weil die Polen so | |
aktiv und weil die Deutschen so organisiert sind." Kaminski und sein | |
Kollege hatten eine Beratungsstelle für polnische Gewerbetreibende | |
aufgebaut, die auf breite Zustimmung stieß. Das Projekt lief Ende | |
vergangenen Jahres aus. Die EU bewilligte keine weiteren Gelder. Die | |
Stadtverwaltung drängte Kaminski zwar, weiter zu helfen - aber für lau will | |
er nicht arbeiten. | |
25 Jun 2009 | |
## AUTOREN | |
Grit Weirauch | |
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