# taz.de -- Gescheitert an der Festung Europa: Georges' Odyssee durch Afrika | |
> Er hatte es fast geschafft, aber kurz vor Lampedusa wurde das Boot von | |
> der libyschen Küstenwache gerammt. Seine Reise führte quer durch Afrika. | |
> Die Geschichte der Odyssee | |
Bild: Ein Boot, das wie jenes von Georges N. ebenfalls absoff: Afrikanische Fl�… | |
Ich bin 30 Jahre alt, diplomierter Betriebswirtschaftler der Universität | |
Douala in Kamerun und arbeitslos. Ein Jahr habe ich mit dem Versuch | |
verbracht, von Afrika nach Europa zu gelangen. Ich habe viel auf dieser | |
Reise gelernt. Wenn meine Familie mir nicht geholfen hätte, wäre ich nicht | |
lebend zurückgekommen, und ich bin ihr unendlich dankbar. Die Überfahrt | |
über das Meer ist sehr riskant, und die langen Fahrten durch die Wüste sind | |
es ebenfalls - es gibt keine Überlebensgarantie. | |
Meine Reise begann an einem Tag im März 2008, kurz nach den schweren | |
Unruhen in Kamerun, bei denen über 100 Jugendliche bei Protesten gegen die | |
Regierung getötet wurden. Ich beschloss wegzugehen. Ich setzte mich in den | |
Zug aus Douala nach Ngaoundéré. Ich hatte als Startkapital 230.000 | |
CFA-Franc (ca. 350 Euro) dabei: ein Teil bestand aus persönlichen | |
Ersparnissen, ein Teil war geborgt. | |
Als ich morgens früh um neun nach 15 Stunden Fahrt in Ngaoundéré ankam, | |
stieg ich sofort in einen Bus nach Kousséri, ganz im Norden Kameruns. Erst | |
in der Nacht darauf kam ich an, um 2 Uhr früh. Zwei Tage blieb ich in | |
Kousséri, dann reiste ich weiter zur nigerianischen Grenze, wo ich | |
problemlos ein kamerunisches Ausreisevisum bekam und ein Transitvisum für | |
Nigeria. Ich gelangte ohne Probleme nach Maiduguri, dann nach Kano, und von | |
dort ging die Reise weiter nach Niger. | |
In Niger fingen die Schwierigkeiten an. Die Sicherheitskräfte an der Grenze | |
verlangen Geld, um dich weiterreisen zu lassen. Und Kameruner sind nicht | |
willkommen, weil sie als Straßenräuber verrufen sind. Nun, ich kam weiter. | |
Aber mit dem Auto durch Niger in Richtung Norden zu fahren, ist nicht | |
einfach, denn es gibt in Niger eine bewaffnete Rebellion. Die Autos müssen | |
im Konvoi fahren, mit Militäreskorte, und die Fahrt dauert mehrere Tage. Es | |
gibt viele Schikanen der Polizei, und wenn du nicht aufpasst, ist nach | |
einer Durchsuchung dein Geld weg, und du kannst von vorne anfangen. | |
Niger ist ein sehr armes Land, alles ist sehr hart und schwierig. Ich habe | |
junge Kameruner gesehen, die dort sechs Monate und mehr arbeiten, um am | |
Ende umgerechnet 50 Euro zu verdienen, wenn sie sie überhaupt bekommen. | |
Wenn dann die Familie von zu Hause nichts schickt, ist es das nackte Elend. | |
Kann man die Polizisten schmieren, ist die Reise leichter. Auf diese Weise | |
gelangte ich bis in die letzte nigrische Stadt vor der Wüste: Arlit. | |
In Arlit läuft der gesamte Handel mit den Maghreb-Ländern zusammen. Es gibt | |
einen großen Busbahnhof, und die Buseigentümer besorgen dir Unterkunft bis | |
zur Abreise. Es gibt zwei Arten von Bussen: Landrovers, die aber teurer | |
sind, weil sie nicht so viele Leute mitnehmen, vielleicht zehn - die Fahrt | |
kostet 25.000 FCFA (ca. 38 Euro). Oder Toyota-Pick-ups, wo man hinten auf | |
der Ladefläche sitzt. Die sind billiger und voller. | |
Wir haben uns in einen Toyota gezwängt, aneinandergedrängt wie die Ziegen, | |
insgesamt passen 35 bis 40 Leute auf einen solchen Wagen. Man muss kräftig | |
sein, um seinen Platz verteidigen zu können. Wer schwächelt, kann | |
herunterfallen, und meistens fährt das Auto dann einfach weiter. Wir haben | |
mehrere junge Leute in der Wüste begraben. | |
Die Wüste ist ein sehr gefährlicher Ort, eine Welt für sich, eine Welt aus | |
Sand und sonst nichts. Jeder Reisende sollte mindestens zehn Liter Wasser | |
dabeihaben und etwas zu essen, also Tapioca, Kekse und große Dosen | |
gezuckerter Milch. Essen kann man nur, wenn der Fahrer Pause macht. Die | |
Fahrt im Pick-up dauert zwei Tage. | |
Unsere Reise endete zehn Kilometer vor Tamanrasset, der ersten großen Stadt | |
in Algerien. Wir mussten aussteigen und einen Führer finden, der uns in der | |
Stadt bei unserer jeweiligen Gemeinschaft unterbrachte. Diese Führer | |
betreiben das als Geschäft, sie warten schon auf die Leute und nehmen sie | |
mit, und wenn man das nicht will, warnen sie die Polizei, also hat man | |
keine Wahl. Die Wohnorte der Klandestinen in Tamanrasset sind die Hölle. | |
Man lebt in den Felsen, auf nacktem Stein und Skorpionen ausgesetzt. Die | |
hygienischen Bedingungen sind miserabel. | |
In Algerien besteht das Problem vor allem darin, nicht verhaftet zu werden. | |
Die Polizei ist allgegenwärtig, und wenn du verhaftet wirst, bringen sie | |
dich zur Grenze zwischen Algerien und Mali an einen sehr üblen Ort namens | |
Tisawati, wo schon viele gestorben sind. Ich hatte Glück, ich konnte | |
arbeiten, und so beschloss ich, weiterzureisen nach Algier, in die | |
Hauptstadt, um von dort aus nach Marokko zu kommen. Ich reiste quer durch | |
das Land und über die Grenze bis zur Grenzanlage der spanischen Exklave | |
Melilla. Ich wähnte mich fast am Ziel. | |
Sieben Tage verbrachte ich im Wald, wo viele Illegale in kleinen | |
Unterschlüpfen hausen. Man lebt von den Resten, die marokkanische und | |
spanische Polizisten in die Mülleimer schmeißen. Abends vertrieben wir uns | |
die Zeit mit Tänzen und Fußball zwischen den verschiedenen Nationalitäten. | |
Es gibt im Wald eine richtige Regierung, jedenfalls nennt sie sich so, sie | |
sorgt für Ordnung, registriert die Neuankömmlinge und verteilt sie nach | |
Herkunftsland. | |
Das Ganze lebt vom Prinzip Hoffnung: Irgendwann schaffst du es über die | |
Grenze und bist in Europa. Also bleiben alle und hoffen. Zurück nach Hause | |
können sie nicht, es wäre ja eine Schande. Die größte Gruppe bilden die | |
Nigerianer. | |
Die Versuche, die Grenzanlagen zu überwinden, sind nach der Ankunftszeit | |
gestaffelt: Die Ältesten gehen zuerst. Einige lebten schon seit Jahren | |
dort. Das hat mich abgeschreckt. Also überlegte ich, einen anderen Weg zu | |
nehmen, über Libyen. Das bedeutete, erneut durch Marokko und quer durch | |
Algerien zu reisen. | |
Trotz der starken Polizeipräsenz ist das nicht unmöglich. Die Araber machen | |
gerne Geschäfte, also geht eigentlich alles. Jeder Klandestine reist mit | |
einem gefälschten malischen Pass, denn die Pässe aus Mali erlauben | |
Reisefreiheit in ganz Westafrika südlich der Sahara. Also ist für die | |
Araber jeder Afrikaner ein Malier. Wenn man keinen malischen Pass hat, muss | |
man im Verborgenen reisen, im Landrover. | |
Das Leben als Klandestiner in Algerien ist nicht einfach. Die meisten | |
verbringen ihre Zeit mit Kartenspiel, Haschischrauchen und, wenn sie mutig | |
sind, nächtlichen Überfällen. Arbeit ist selten, aber wenn man welche | |
findet, gibt es umgerechnet 5 Euro am Tag, davon kann man leben. Ich reiste | |
also durch Algerien und erreichte Djanet im Südosten des Landes, die letzte | |
Stadt vor der Grenze zu Libyen. | |
Dort kannte ich niemanden und hatte Angst vor der Polizei, die ständig | |
patrouilliert. Ich schlief zwei Nächte allein in der Wüste, während ich auf | |
einen Führer nach Libyen wartete. Ich war sehr überrascht, als ich erfuhr, | |
dass der Weg nach Libyen weiter durch die Wüste führt. Wir sollten | |
Essensvorräte mitnehmen und mindestens fünf Liter Wasser. Um elf Uhr abends | |
verließen wir die Stadt - zu der Zeit patrouilliert die Polizei nicht mehr. | |
Wir liefen bis drei Uhr morgens, dann machten wir fünf Stunden Pause zum | |
Schlafen. | |
Ein paar hastige Bissen, dann ging es weiter, wie Soldaten, ohne Pause bis | |
14 Uhr, dann zwei Stunden Pause, dann wieder Wüstenmarsch bis 20 Uhr. Der | |
zweite Tag war sehr schwer, denn der Führer beschleunigte den Marsch, und | |
wer nicht mithielt, wurde einfach in der Wüste zurückgelassen. Das traf | |
mehrere unserer Brüder, sie konnten nicht mehr und hatten kein Wasser mehr. | |
Wer Wasser hat, teilt nicht mit den anderen. | |
Am dritten Tag griffen uns Banditen an, sie waren bewaffnet und wollten | |
Geld. Dem Führer taten sie nichts, und wir merkten, dass Führer und | |
Banditen sich kennen. Die Frauen wurden mitgenommen und in der Wüste | |
vergewaltigt, vier bis fünf Tage lang. Manche wurden so geschlagen, dass | |
sie starben. Ich wurde lediglich verprügelt. Als es weiterging, war unsere | |
Gruppe um die Hälfte geschrumpft. | |
Irgendwann dachte ich: Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr laufen, | |
soll doch eine Patrouille kommen und uns mitnehmen. Aber die Fügung Gottes | |
ergab, dass wir die libysche Stadt Ghat erreichten. Dort ging jeder zu der | |
Gemeinschaft der Klandestinen aus seinem Land. | |
Ich ging also zu den Kamerunern. Die Chefs sind die, die schon am längsten | |
da sind, sie lassen die Neuankömmlinge für sich arbeiten und betrügen sie | |
bei Geldgeschäften. Manche haben bereits arabische Frauen. Ich wurde | |
zunächst gut aufgenommen und konnte mich drei Tage ausruhen. Dann aber muss | |
man arbeiten, denn du musst dich ernähren und Miete zahlen. Jeden Morgen | |
gehen die Klandestinen auf einen öffentlichen Platz namens "Tschad", und | |
die Libyer kommen und suchen Arbeitskräfte aus. Oder ein bereits | |
beschäftigter Klandestiner sucht einen Helfer. | |
Viele von uns fingen hier an zu bedauern, dass sie ihre Heimat verlassen | |
hatten. In Libyen gibt es keine Menschenrechte, man kann sich nicht | |
beschweren. Man muss einfach die Situation ertragen und Mut haben. Ich | |
beschloss, einen Beruf zu lernen. Ich wurde Maurer und Gipser. | |
Damit verdiente ich genug Geld, um nach Sabha, Libyens alter Hauptstadt, | |
weiterreisen zu können. Man muss wissen, dass Libyen ein Militärregime ist, | |
also gehört jeder Mann auch zur Polizei, und man muss immer aufpassen. Wir | |
reisten im hinteren Bereich eines Lieferwagens fünf Stunden lang. | |
Sabha ist eine große Stadt, man verdient dort das Doppelte. Ich bekam mit | |
einem Freund den Auftrag, ein Haus zu bauen. Damit verdiente ich 2.700 | |
Dinar, ungefähr 2.000 Dollar. So hatte ich nun wieder Kapital. | |
Ich fuhr in die Hauptstadt Tripolis am Mittelmeer, um dort auf ein Schiff | |
nach Europa zu kommen. Jeder weiß, wie das geht. Libyer organisieren die | |
Reise, sie heuern Klandestine an, die auf Provisionsbasis Reisewillige | |
suchen. Der Akquisiteur kriegt 150 Dollar pro Person, oder er kann umsonst | |
mitfahren, wenn er fünf Passagiere zusammenkriegt. Als Passagier musst du | |
verhandeln. | |
Der eine zahlt 1.000 Dollar, ein anderer vielleicht 1.200. Gruppenreisen | |
sind billiger. Man bezahlt, dann führen die Vertreter einen zu einer | |
Unterkunft, wo man wartet, bis es losgeht. Die Schiffe fahren im Konvoi. | |
Das erste Reiseangebot kam direkt von unserem libyschen Vermieter, er ist | |
Oberst in der Armee und sagte, er sei ein Cousin des Präsidenten. Er ist | |
nicht der einzige, es gibt ein Netzwerk von hochrangigen libyschen Militärs | |
und Amtspersonen in diesem Gewerbe. | |
Es existieren zwei Sorten von Booten: große Fischerboote, auf denen ist | |
mehr Platz, und kleine Boote, genannt "Lampa-Lampa" nach ihrem Zielort | |
Lampedusa, die sind gefährlicher. Dort passen 25 bis 30 Menschen drauf, | |
aber meistens sind es doppelt so viele. Es werden immer zwei Illegale | |
eingewiesen, das Boot zu steuern, einer sitzt vorne und einer hinten. Sie | |
lernen das eine Woche lang. Die Passagiere dürfen nichts mitnehmen, auch | |
keinen Proviant, sie werden vorher durchsucht. | |
Unsere Gruppe kam aus Kamerun, Nigeria, Burkina und Mali. Wir waren über | |
100. Das Wetter war gut. Das Problem war die Überfrachtung. Wir kamen nur | |
sehr langsam voran. Nach einiger Zeit, ich glaube, wir waren nur noch 100 | |
Kilometer von Lampedusa entfernt, holte uns die libysche Küstenwache ein, | |
stoppte unser Boot und verlangte 50 Dollar von jedem Passagier. Wir hatten | |
dieses Geld nicht, und so fing die Küstenwache an, unser Boot zu rammen. | |
Wir begannen reihenweise ins Wasser zu fallen. Zum Glück kam eine | |
italienische Marinepatrouille vorbei, die Libyer ergriffen die Flucht. Ich | |
schwamm schon im Meer und kämpfte mit den Wellen. Einige waren bereits | |
ertrunken. Die Italiener retteten uns. | |
Sie begleiteten uns zurück nach Libyen, weil sich der Vorfall in libyschen | |
Gewässern ereignet hatte. Wir wurden in ein Gefängnis gebracht, ohne | |
weiteres Verfahren oder Anhörung. Das Gefängnis heißt "Zanzu", es ist | |
berüchtigt für Folter an Schwarzen. Man muss großes Glück haben, dort | |
wieder herauszukommen. Man steckte uns einfach in Zellen, und die Wächter | |
warteten ab, wie es uns schlechter und schlechter ging. Es gibt nichts zu | |
essen. Wer krank wird, bekommt keine Hilfe. Wer stirbt, muss von den | |
anderen begraben werden. Die Wächter dort haben kein Herz. | |
Ich weiß nur noch, dass ich bewusstlos wurde und man mich in ein | |
Krankenhaus brachte, wo ich einen Monat lag, ohne zu wissen, wo ich war und | |
was mit mir los war. Mir hat ein tunesischer Polizist geholfen, der dort | |
ein Praktikum absolvierte. Er kümmerte sich um mich wie um einen Bruder, er | |
schützte mich, und als es mir ein wenig besser ging, kontaktierte er meine | |
Familie. | |
Die Libyer führten an den Afrikanern Operationen durch. Ich sah einen aus | |
Burkina, dem war rechts der Bauch aufgeschnitten, er konnte kaum noch | |
sprechen, nach ein paar Stunden war er tot. Der Tunesier sagte mir, es | |
würden Organe für Experimente entnommen, vor allem Nieren. Ich sah | |
Menschen, denen fehlten die Geschlechtsorgane. Es tut sehr weh, daran zu | |
denken. | |
Wer überlebt hat, bekommt irgendwann einen Bescheid über 1.500 Euro für | |
Krankenhausaufenthalt, Bußgeld und Ausweisung. Meine Familie, von dem | |
Tunesier gewarnt, schaffte es, dieses Geld aufzubringen. Man wird einem | |
Richter vorgeführt, zahlt, und das war es. Aber noch waren die Schikanen | |
nicht vorbei. Man braucht ein Ausreisevisum. Am Flughafen wollten sie nicht | |
glauben, dass ein illegaler Afrikaner ein Flugticket nach Hause besaß, und | |
beschlagnahmten mein Ticket und meinen Pass. Ich musste den Präsidenten der | |
kamerunischen Gemeinschaft in Libyen einschalten, der das Problem für 90 | |
Euro regelte. | |
Ich wollte nur noch nach Hause. Ich hatte genug von dem Elend. Ich traf am | |
23. April 2009 in Kamerun ein, am Flughafen von Douala. Meine Reise hatte | |
über ein Jahr gedauert. | |
2 Jul 2009 | |
## AUTOREN | |
Georges N. | |
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