# taz.de -- Montagsinterview mit Tagesmutter Kerstin Rietze: "Für die Kinder m… | |
> Die CDU hat Familienministerin Ursula von der Leyen. Die SPD wirbt mit | |
> der TV-Supernanny Katharina Saalfrank. Berlin hat Frauen wie Kerstin | |
> Rietze. Zu DDR-Zeiten war sie Erzieherin in einer Marzahner Riesen-Kita. | |
> Heute betreut sie als Tagesmutter fünf Kleinkinder in ihrer Wohnung. | |
Bild: "Wenn von fünf Kindern mehr als zwei gefüttert werden müssen. Da hab i… | |
taz: Frau Rietze, im Wahlkampf streiten gerade die Supernanny Katharina | |
Saalfrank und die Powermutter Ursula von der Leyen um das beste Konzept. | |
Sie betreuen jeden Tag fünf Kinder und sind damit eigentlich eine | |
Supernanny. Was ist Ihr Geheimnis? | |
Kerstin Rietze: Als Tagesmutter hat man Abstand. Man kann besser sehen, wo | |
die Fehler der Eltern liegen. | |
Und was machen Eltern falsch? | |
Ach, es gibt einfach Momente, wo Eltern so tief drinstecken, dass sie nicht | |
mehr rausgucken können. Die Kinder sind schlau, sie wissen genau, was sie | |
machen müssen, bis es dazu kommt, dass die Mutter sagt: "Ich kann nicht | |
mehr, ich weiß nicht, was ich machen soll." | |
Darf man zum Beispiel rumbrüllen oder nicht? | |
Wenn man mal laut oder wütend sagt: "Also, jetzt reichts mir!", dann ist | |
das in Ordnung. Dann wird das Kind wissen, dass da jetzt gerade eine Grenze | |
war. Man muss nicht immer der Supervater oder die Supermutter sein. Aber | |
wenn ich mit meinem Kind nur schreie, dann wird bald keine Reaktion mehr | |
kommen. | |
Was ist Ihr wichtigster Tipp? | |
Alle Eltern haben mal Probleme mit ihren Kindern. Das ist normal. Für | |
Kinder ist Klarheit das Wichtigste. Sobald kleine Kinder sich viel | |
aussuchen können, sind sie überfordert. | |
Wenn ich meiner Tochter einen Schlafanzug anziehen will, kriegt sie einen | |
Trotzanfall. Was tun? | |
Dann zieht man ihr den Schlafanzug an. | |
Also kämpf ich einem schreienden Kind den Schlafanzug an? | |
Man kann warten, bis der Trotzanfall zu Ende ist. Dann sagt man, okay, ich | |
zieh dir jetzt den Schlafanzug an. Das sind klare Sachen. Die Kinder wollen | |
halt einfach gucken, wie weit sie gehen können. | |
Zähne zusammenbeißen und auf keinen Fall weich werden? | |
Es gibt ja andere Momente, wo das Kind seinen Willen durchsetzen kann. Wenn | |
es heute keinen Löffel will, sondern eine Gabel. Dann kann man ja sagen: | |
"Ja, bitte! Probier die Suppe mit der Gabel zu essen!" Dann ist das eine | |
Sache, die kann es erfahren. | |
Ab wann kann man sein Kind von anderen Leuten betreuen lassen? | |
Wenn man das für sich mit gutem Gewissen vereinbaren kann. Neulich kam zum | |
Beispiel eine Mutter zu mir. Die war noch nicht ganz in der Tür, da hat sie | |
gesagt: "Ich muss wieder gehen. Sie sind mir so was von unsympathisch!" Das | |
war zwar schmerzlich für mich, aber das wäre nie gutgegangen. | |
Irgendwann gehen die meisten Kinder dann in einen Kindergarten. Und | |
beschließen, die Zeit vorm Losgehen zum Ausflippen zu nutzen. | |
Die Kinder spüren ja, wenn man Zeitdruck hat. Dann spüren sie einfach: | |
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich wirklich an die Kante rankomme, wo | |
meine Mutter völlig fertig ist, und hinterher, wenn sie das Kind im | |
Kindergarten abgegeben hat, dann vor der Tür weint. Solche Momente gibt es | |
überall. Die muss es vielleicht auch geben, um diese Beziehung zueinander | |
intakt zu halten. | |
Die Supernanny im Fernsehen zeigt einen ganzen Katalog von | |
Disziplinierungsmaßnahmen. Sie schickt Kinder zum Beispiel für eine Auszeit | |
auf die "stille Treppe". | |
Jetzt lernen alle Leute, dass man so was machen soll. Dann wird es so oft | |
gemacht, dass es keinen Reiz mehr auf die Kinder hat. | |
Welchen Erziehungsratgeber würden Sie empfehlen? | |
Gern habe ich das Buch von diesem Winterhoff gelesen: "Wie wir unsere | |
Kinder zu Tyrannen erziehen". Er beschreibt das, was ich jeden Tag sehe. | |
Dass es wirklich so ist, dass die Kinder Eltern haben wollen, nicht nur | |
gute Kumpel. Heutzutage hat man Eltern, wo die Kinder ganz viel dürfen. | |
Was ist daran so schlecht? | |
Für die Kinder muss klar sein, wer Erwachsener ist und wer Kind. Die Kinder | |
müssen das Gefühl haben, dass sie wirklich jemanden haben, der manche | |
Entscheidung für sie treffen kann. Man sieht aber, dass viele Eltern vor | |
lauter Nettseinwollen einfach eine Grenze überschreiten. | |
Zum Beispiel? | |
Das Kind will etwas nicht machen. Da sagen die Eltern dann nicht klar: "Ich | |
möchte das jetzt." Sondern da wird gesagt: "Ach, guck mal hier!" Die Kinder | |
sind aber schlau, sie bekommen das mit, dass das nur ein Ablenkungsmanöver | |
ist. Die Eltern denken: "Hurra, hat geklappt!" Aber beim vierten Mal steigt | |
das Kind dann nicht mehr drauf ein, und man muss sich wieder was Neues | |
ausdenken. Anstatt ganz klar zu sagen: Im Winter werden die Schuhe | |
angezogen, weil es kalt draußen ist. Das ist ja nichts Schlimmes, was man | |
da sagt. | |
Die Eltern heute wollen den Kindern einfach Frustrationen ersparen. | |
Das merke ich häufig, dass die Kinder eine sehr niedrige Frustrationsgrenze | |
haben. Wenn man nein sagt, fangen sie sofort an zu weinen. Früher konnten | |
die Kinder damit anders umgehen. | |
Sie dagegen haben gerade neun Stunden lang fünf Kinder betreut und machen | |
dafür einen ziemlich entspannten Eindruck. Wann sind Sie denn mal | |
gestresst? | |
Wenn von fünf Kindern mehr als zwei gefüttert werden müssen. Da muss man am | |
besten allen gleichzeitig was in den Mund schieben. Da habe ich Stress. | |
Bestechen Sie die Kinder dann wenigstens mit Süßigkeiten? | |
Bei mir gibt es viel selbst gemachte Fruchtaufstriche und einen selbst | |
gemachten Schokoladenaufstrich aufs Brot. Gummibärchen nur zum Fasching und | |
zum Geburtstag. Unser Papagei ruft oft laut: "Bitte! Bitte! Schoko! | |
Schoko!" Die Kinder sind dann sehr stolz, wenn sie ihm sagen können, dass | |
es jetzt keine Schokolade gibt. | |
Die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen will mehr Möglichkeiten | |
zur Kinderbetreuung schaffen. Die Wunderwaffe sind dabei die Tagesmütter. | |
Hat sich das bei Ihnen bemerkbar gemacht? | |
Es gibt jetzt viel mehr Tagesmütter. Und früher konnte jeder Tagesmutter | |
werden, der ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen konnte. Heute gibt | |
es Vorbereitungskurse, richtige Zertifikate und viel mehr Angebote zur | |
Fortbildung. Auch eine gesunde Konkurrenz unter den Tagesmüttern. | |
Früher dachten viele, eine Tagesmutter ist eine arbeitslose Frau, die mit | |
ein paar Kindern zu Hause auf dem Sofa sitzt, nebenher ihren Haushalt macht | |
und dafür auch noch Geld bekommt. | |
Es gibt auch heute immer noch Eltern, die sich fragen: Was macht die Frau | |
denn mit den Kindern? Die kann ja machen, was sie will. | |
Aber das Image Ihres Berufs ist doch gar nicht mehr so schlecht. | |
Die Nachfrage ist einfach groß. Dabei wird nicht wirkliche Werbung gemacht. | |
Wie bewerten Sie unterm Strich die Maßnahmen von Frau von der Leyen? | |
Das ist ein Anfang, um die Tagesmütter mit den Erzieherinnen | |
gleichzustellen. Aber bei weitem nicht genug. | |
Was fehlt? | |
Zum Beispiel Investitionsprogramme. Alles, was ich in meinem Kinderzimmer | |
habe, habe ich ja selbst finanziert. Es gibt zwar seit 2008 | |
Investitionsprogramme, aber in Pankow wurden die Gelder letztes Jahr nicht | |
ausgegeben. Die Psychologin, die uns betreut hat, wird auch eingespart. | |
Außerdem müsste es eine Vertretung geben, wenn man krank ist. Und eine | |
gerechtere Bezahlung. Wir bekommen 20 Tage im Monat bezahlt, auch wenn der | |
Monat 23 Tage hat. Ist ein Kind drei Tage krank, wird mir ein Teil des | |
Geldes für diese Tage abgezogen, obwohl ich ja trotzdem da bin. Diese | |
Ungerechtigkeiten müssten abgeschafft werden. | |
Warum sind Sie nicht Erzieherin geblieben? | |
Ich hab in Marzahn gearbeitet. Die Kinder waren nicht nur acht Stunden da, | |
sondern zehn, elf und zwölf Stunden. Weil die Eltern zu ihren | |
Arbeitsstellen so weite Anfahrtswege hatten. Ich hatte allein 25 Kinder zu | |
betreuen. Und nachmittags manchmal 50 Kinder allein in einem Turnraum. Das | |
war der Horror. Man konnte ja nichts machen mit den Kindern, man konnte sie | |
nur noch stillhalten. Das war nicht, was ich wollte. | |
Nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter sind Sie Tagesmutter geworden. Was | |
ist denn der Unterschied zwischen einer Tagesmutter und einer Erzieherin? | |
Eine Erzieherin in der Kita kann schicke Sachen anhaben oder nicht. Alles | |
andere weiß man nicht. Ob sie zu Hause Löwen auf dem Sofa sitzen hat oder | |
sechs Hunde. Bei mir dagegen kennen die Eltern alles, weil alles hier in | |
der Wohnung stattfindet. Und dann sind es natürlich weniger Kinder als in | |
einer Kita. Ich wollte, dass meine Tochter andere Kinder hat zum Spielen, | |
aber ich wollte sie in keine Krippe geben, so wie ich das mit meinen großen | |
Kindern machen musste. | |
Warum nicht? | |
Als meine großen Kinder klein waren, konnte sich kaum jemand leisten, zu | |
Hause zu bleiben. Beide Eltern mussten Geld verdienen, sonst war es einfach | |
zu wenig. Mein Sohn ist mit fünf Monaten in die Krippe gegangen. | |
War das falsch? | |
Die Babys wurden damals in der Garderobe nackig gemacht und nackt der | |
Erzieherin übergeben. Alles Persönliche wurde abgelegt. Dann wurde Fieber | |
gemessen. Dann konnte man zur Arbeit gehen. Im Nachhinein fand ich das ganz | |
schrecklich. Da war wirklich alles weg, was von der Familie kam! Aber | |
meinem Sohn gings gut. Meine zweite Tochter hat das dagegen nicht | |
verkraftet. Sie war neun Monate alt, als ich sie in die Krippe gegeben | |
habe. Sie ist schwer krank geworden. Und das hat sich hingezogen bis zur | |
Schule. Da hab ich dann immer gedacht: Sie war krank, weil es nicht so war, | |
wie sie es vielleicht gebraucht hätte. | |
Schlechtes Gewissen? | |
Nö. Das passte damals in die Zeit. | |
Mit ihrer jüngsten Tochter wollten Sie es dennoch anders machen. | |
Ich wollte ein Westkind haben. | |
Ein Westkind? | |
Ich hab zu DDR-Zeiten genäht, gestrickt, alles selbst gemacht. Der Horror | |
war in Marzahn im Winter, man möchte einen Schneeanzug kaufen fürs Kind. | |
Meine Mutter und ich sind in das einzige Kaufhaus, was es gab. Es war klar, | |
dass irgendwann an diesem Tag dort Schneeanzüge rausgefahren werden. Alle | |
Leute drängelten sich herum, nur um diesen einen Wagen abzupassen und | |
irgendwas zu erwischen. Das fand ich schrecklich. So war Schuhkauf. So war | |
der Kauf von Kordhosen. Das wollte ich jetzt einfach mal anders auskosten. | |
Ein Westkind also. | |
Meine jüngste Tochter hatte aber auch keine bessere oder leichtere | |
Entwicklung als meine mittlere Tochter. Sie war auch viel krank. Obwohl sie | |
bis zum dritten Lebensjahr mit mir zu Hause war. | |
Was ist der Unterschied zwischen einer West- und einer Ost-Erziehung? | |
Im Westen gabs erst die Autoritären, dann die Antiautoritären. Und da gabs | |
ja auch Kinderläden. Kleine Läden, wo wenige Kinder waren. Im Osten gabs | |
nur die Volksbildung, die gesagt hat, was die Kinder zu lernen haben und | |
was nicht. Das war natürlich ein ganz großer Unterschied. Es war allerdings | |
nicht so, dass die Kinder in den Ost-Kitas stundenlang in der Reihe auf | |
Töpfen sitzen mussten. Das hört man ja ganz oft. Ich hab das nie erlebt. | |
Auch im Osten wurde versucht, die Kinder individuell zu betrachten. Sicher | |
war das durch die Menge der Kinder nur begrenzt möglich. Aber damals war es | |
wie heute: Alles steht und fällt mit der richtigen Erzieherin. | |
Aber die Mütter haben sich nach dem Mauerfall doch verändert? | |
Zu DDR-Zeiten war es üblich, dass man in jungen Jahren Kinder bekam. Wer | |
keins hatte, war fast Außenseiter. Kurz nach der Wende kam der | |
Geburtenknick bei den Ostfrauen. Wir hatten ja zu Ostzeiten viele Rechte | |
als Familienfrau gehabt, die waren nun weg. Wenn man jetzt als Frau ein | |
Kind bekommt, dann ganz bewusst. Die Väter nehmen neuerdings auch die zwei | |
Monate Väterzeit. Das wirkt sich sicherlich auch auf das Mutterbild aus. | |
Die Väter wissen jetzt, dass man als Mutter nicht zu Hause sitzt und | |
Zeitung liest. | |
Und wie finden es Ihre eigenen Kinder, dass Sie Tagesmutter sind? | |
Es ist immer viel los bei uns. Für ein pubertierendes Kind ist es sicher | |
auch schön, wenn die Eltern mal nicht zu Hause sind. Mal heimlich und | |
allein irgendein blödes Zeug machen. Das hatten meine Kinder nie. Ich bin | |
ja eigentlich immer da. | |
26 Jul 2009 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Küppers | |
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