# taz.de -- Das Wiesn-Attentat von 1980: Viele offene Fragen | |
> 29 Jahre nach dem Wiesn-Attentat gibt es mehr Fragen als je zuvor. | |
> Erneute Ermittlungen sind schwer, weil die Asservatenkammer mit allen | |
> Beweismitteln vernichtet wurde. | |
Bild: Auf dem Münchner Oktoberfest ereignete sich 1980 der schlimmste Terroran… | |
MÜNCHEN taz | Zuerst der Feuerstoß. Dann die Druckwelle. Der Flug durch die | |
Luft. Die brennenden Haare. Das zerschmetterte Knie. Der Splitter in der | |
Lunge. Die geplatzten Trommelfelle. Die Wunden an den Beinen. All das Blut. | |
Doch Renate Martinez bleibt tapfer. "Kümmern Sie sich um die | |
Schwerverletzten", sagt sie den Ärzten, die sie sofort behandeln wollen. | |
Heute lacht sie über diesen Satz. Schließlich hatte sie wegen der | |
eingefallenen Lunge schon blaue Lippen, war "halb am Abnippeln". Ihr Glück, | |
dass sie - anders als die meisten der mehr als 200 Verletzten - keinen | |
Alkohol getrunken hatte. So war eine schnelle Narkose und Operation | |
möglich. Die 34-Jährige überlebte, 13 andere Menschen starben. Und | |
seltsamerweise, so erzählt Renate Martinez 29 Jahre nach dem Anschlag auf | |
der hölzernen Eckbank ihres Wohnzimmers in München, hatte sie unmittelbar | |
nach der Explosion nur zwei Gedanken: "Hilfe, die Haare brennen!" Und: "Das | |
werden sie wieder den Linken in die Schuhe schieben." | |
Der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik | |
ereignete sich am 26. September 1980 am Haupteingang des Münchner | |
Oktoberfestes an der Theresienwiese. Neun Tage später war Bundestagswahl, | |
eine erregte Zeit. In den Umfragen lag der bayerische Ministerpräsidenten | |
Franz Josef Strauß (CSU) als Herausforderer hinter Kanzler Helmut Schmidt | |
(SPD). Und tatsächlich: "In der ersten besoffenen Nacht", so erinnert sich | |
Renate Martinez, machte Strauß linke Terroristen für die Bombe | |
verantwortlich. | |
Doch wenige Stunden später wurde klar: Eher das Gegenteil stimmte. Der | |
rechtsextreme Gundolf Köhler, ein 21-jähriger Geologiestudent, hatte die | |
Bombe an den Tatort gelegt. Bei der Explosion starb er selbst. Das | |
bayerische Landeskriminalamt und später auch der Generalbundesanwalt kamen | |
nach ihren Ermittlungen zu dem Ergebnis: Köhler habe nicht aus | |
rechtsextremistischen Motiven, sondern vielmehr als sexuell frustrierter, | |
verwirrter Einzeltäter gehandelt, Hilfe von Neonazis, etwa der | |
Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG), habe er nicht erhalten. | |
"Die Einzeltäterthese habe ich nie geglaubt", sagt dagegen Renate Martinez. | |
Das sagen mittlerweile viele. Doch die Behörden hielten und halten eisern | |
an dieser These fest. Obwohl sie zum Himmel stinkt. Seit Jahrzehnten. Nun | |
kommt ein neuer Skandal dazu. Und endlich etwas Bewegung in die Sache. | |
Der Münchner Autor und Journalist Ulrich Chaussy, Jahrgang 1952, sitzt vor | |
seinem Bier in dem Speiselokal Lenz unweit der Theresienwiese. Schon 1985 | |
hat er ein Buch vorgelegt. "Ich habe nicht die Auflösung dieses Anschlages | |
gefunden", sagt er bescheiden. Aber klar ist nach Chaussys Recherche: Der | |
Attentäter Köhler wurde unmittelbar vor dem Anschlag am Tatort mit zwei | |
Leuten gesehen, die er gekannt haben musste. | |
Zeugenaussagen belegen die Flucht einer Person kurz vor der Detonation und | |
die Selbstbezichtigung eines anderen nach der Explosion, noch am | |
Anschlagsort: "Ich wollts nicht. Ich kann nichts dafür, bringts mich um." | |
Köhler war, zumindest zeitweise, Mitglied der Hoffmann-Truppe, nahm an | |
mehreren ihrer Wehrübungen teil. Zwei Mitglieder der Gruppe bezichtigten | |
sich später vor Zeugen der Mittäterschaft. | |
Doch die Ermittler gingen diesen Hinweisen bestenfalls halbherzig nach. | |
Alles wurde auf die These "unpolitischer Einzeltäter" zugeschnitten, Zeugen | |
geradezu gedrängt, sie zu stützen. "Man versuchte das zu begradigen", sagt | |
Chaussy. Vieles, beispielsweise der verwendete Zünder und Sprengstoff, | |
passen nicht zur Einzeltäterthese. | |
Aber auch Köhlers Psychogramm und die Lebensumstände, etwa ein gerade erst | |
abgeschlossener Bausparvertrag, sprechen gegen den bombastischen Selbstmord | |
aus Frust samt Massenmord. Der sanfte und vorsichtige Chaussy betont, er | |
wolle kein Michael Kohlhaas werden, jeder Eifer ist ihm fremd: "Die Leute | |
wollen immer Gewissheiten haben", sagt er, "aber die einfachen Gewissheiten | |
gibt es in solchen Fällen nicht." | |
Und hier, ganz gewiss, beginnt der neue Skandal. Denn alle Asservate, also | |
alle materiellen Beweismittel vor allem vom Tatort, sind vor zwölf Jahren | |
in Polizeihand vernichtet worden - erneute Ermittlungen werden schwer. | |
In seiner Schwabinger Kanzlei blättert der Anwalt Werner Dietrich in den | |
Akten, seit mehr als 25 Jahren arbeitet er mit Chaussy zusammen. Dietrich | |
will mit einigen Opfern des Attentats eine Wiederaufnahme der Ermittlungen | |
erreichen. Wegen der Erkenntnisse Chaussys. Aber auch wegen neuer | |
kriminologischer Methoden, etwa der DNA-Überprüfung, die schon oft neue | |
Erkenntnisse ans Tageslicht bringen konnten. So fand man am Tatort | |
beispielsweise das Glied eines Fingers. | |
Es war weder Köhler noch einem der Opfer zuzuordnen. Anfang des Jahres aber | |
erfuhr der Anwalt durch die Behörden von dem mehr als ungewöhnlichen | |
Umstand, dass der "zuständige Staatsanwalt" die Asservate 1997 vernichten | |
ließ. Und dies in einem Fall, so betont Dietrich, "der nicht rechtskräftig | |
abgeschlossen und nicht verjährt ist. Das grenzt an Strafvereitelung im | |
Amt." Soll hier wieder etwas vertuscht werden? | |
An dieser Stelle häufen sich die Fragezeichen - und viele davon sind in | |
einer Kleinen Anfrage zu finden, die Jerzy Montag am 15. Mai dieses Jahres | |
an die Bundesregierung gerichtet hat. Der ehemalige Kanzleikompagnon | |
Dietrichs und jetzige Grünen-Abgeordnete stellte mit Fraktionskollegen über | |
150 Fragen zum Oktoberfest-Attentat und seinen Hintergründen. | |
Die Fragen beruhen zum großen Teil auf den neuen Erkenntnissen des Berliner | |
Publizisten Tobias von Heymann, der 2008 ein Buch zum Thema vorgelegt hat. | |
Sein Coup: Heymann wertete dazu fast 8.000 Seiten Akten aus, die | |
ausgerechnet die Stasi zum Anschlag gesammelt hatte. Demnach beschatteten | |
Verfassungsschützer mehrerer Bundesländer 22 Stunden vor dem Attentat die | |
WSG Hoffmann, die zudem massive Hilfe durch einen V-Mann des | |
Verfassungsschutzes erhielt - einmal etwa kaufte er den Nazis mit | |
Staatsknete einen VW-Bus. | |
Was also wussten die Verfassungsschützer schon vorab vom Anschlag? Waren | |
sie gar - ungewollt und indirekt - beteiligt? Könnte dies die, vorsichtig | |
gesagt, zögerlichen Ermittlungen erklären? Wie kommen zwei ungenannte | |
Staatssekretäre vom Bundesministerium des Innern den Stasi-Akten zufolge zu | |
der internen Einschätzung, dass "der Bombenanschlag durch | |
rechts-extremistische Kreise inszeniert worden ist"? | |
Der Rechtsextremist Heinz Lembke, der enge Kontakte zur WSG Hoffmann hatte, | |
wurde kurz nach dem Oktoberfest-Anschlag verdächtigt, möglicherweise den | |
Münchner Sprengstoff geliefert zu haben. Lemke hatte 33 versteckte | |
Waffenlager in der Lüneburger Heide, in denen er unter anderem 156 Kilo | |
Sprengstoff, 50 Panzerfäuste und 258 Handgranaten hortete. Nach seiner | |
Festnahme wurde er erhängt in seiner Zelle gefunden. Es war der Morgen vor | |
seinem geplanten Verhör. | |
Hier ist die letzte Spur, nach der die Grünen durch die Blume fragten: War | |
die WSG Hoffmann am Ende Teil einer "Stay-Behind"-Armee, die | |
erwiesenermaßen in fast allen Nato-Staaten während des Kalten Krieges | |
existierte? Solche paramilitärischen Gruppen waren dazu gedacht, nach einer | |
sowjetischen Eroberung westlicher Staaten im Hinterland Guerilla-Aktionen | |
gegen die Roten zu verüben. | |
In Deutschland gab es solche Geheimkommandos, die später dem | |
Bundesnachrichtendienst unterstellt wurden. In Italien hießen sie "Gladio" | |
und waren an dem Bombenanschlag von Bologna im August 1980 beteiligt. Das | |
gilt als sicher. Dabei starben, wenige Wochen vor dem Münchner Attentat, 85 | |
Menschen, 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Die offen ausgesprochene | |
Logik dahinter: Der Anschlag wurde linken Terroristen in die Schuhe | |
geschoben, auf dass das Volk aus Angst rechte, antikommunistische Politiker | |
wähle. | |
War der Münchner Anschlag neun Tage vor der Bundestagswahl also eine | |
ähnliche Aktion eines "Stay-Behind"-Kommandos zugunsten von Strauß - eine | |
Aktion allerdings, die fehlschlug, weil der Attentäter dabei aus Versehen | |
umkam und so der rechte Hintergrund aufflog? Der angesehene Schweizer | |
Historiker Daniele Ganser, der zu "Gladio" intensiv geforscht hat, verweist | |
darauf, dass Waffenlager der deutschen Geheimarmee gemäß den Aussagen von | |
Wehrsportgruppen-Mitgliedern "für den Bombenanschlag am Oktoberfest 1980 in | |
München verwendet" wurden. | |
Chaussy und Dietrich meiden solch dünnes Eis. Dietrich sagt, er sei bei | |
dieser Geheimarmeethese zurückhaltend - "im Moment noch". Klar sei aber | |
auch, dass dies Thema nun komme. Und immerhin: Mitte Mai schrieb ihm der | |
Generalbundesanwalt, man wolle "in nächster Zeit" die Akten der | |
Stasi-Behörden zum Oktoberfest-Attentat einsehen. Dafür erhielt Dietrich | |
vom bayerischen Landeskriminalamt Mitte Juli die Auskunft, er dürfe nicht | |
in den verbliebenen Spurenakten zum Anschlag recherchieren. Auch die | |
Stasi-Unterlagenbehörden schrieb ihm, dass er zu ihren Oktoberfest-Akten | |
"kein Zugangsrecht" habe. | |
7 Aug 2009 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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