| # taz.de -- Georgien ein Jahr nach Kriegsbeginn: Stimmen der Hasen und der Geier | |
| > Vor einem Jahr begann der Kaukasuskrieg. Die georgische Schriftstellerin | |
| > und Aktivistin Naira Gelaschwili über ihre persönlichen Erlebnisse. | |
| Bild: Noch immer nicht zurück zu Hause: So wie diesen Flüchtlingen in Tserova… | |
| Flüchtlingskinder in Georgien - es gibt sie heutzutage überall, ein Jahr | |
| nach dem Krieg zwischen Georgien und Russland. 25 von ihnen sind jetzt in | |
| dem georgischen Dorf Nukriani. Dort nehmen sie an der "multiethnischen | |
| Sommerschule" teil - einem Projekt des Kaukasischen Hauses, das schon zum | |
| dritten Mal von der holländischen Stiftung "Haella" unterstützt wird. | |
| Endlich sind die Kinder heiter und fröhlich. Sie bewegen sich viel an der | |
| frischen Luft, lernen, sie spielen in einem Theaterstück mit und essen | |
| viermal täglich. Aber der Lärm von zwei Hubschraubern, die sehr oft über | |
| das Dorf fliegen, macht sie und die Dorfbewohner nervös, obwohl durchaus | |
| bekannt ist, dass in diesen Hubschraubern nicht die Russen mit ihren Bomben | |
| sitzen, sondern Georgiens Präsident Michail Saakaschwili, der in das | |
| benachbarte Städtchen Signachi zum Mittagessen fliegt. In Tiflis kann er | |
| das Leben nicht mehr genießen. Zu groß ist der Hass in der Hauptstadt auf | |
| ihn und seine Freunde. Wie der Politologe Ramas Klimiaschwili schreibt: | |
| "Saakaschwili würde gerne Georgien verlassen, aber die USA erlauben ihm das | |
| nicht. Sie brauchen ihn noch." | |
| Auch im Juli vergangenen Jahres saßen wir - fünf Mitarbeiter des | |
| Kaukasischen Hauses - zusammen, um Teilnehmer für die Sommerschule | |
| auszusuchen. Das Problem war, dass die Kinder, die Opfer vergangener | |
| Konflikte um Südossetien und Abchasien geworden waren, der Altersgruppe | |
| unserer Schule (11 bis 12 Jahre) nicht mehr entsprachen. | |
| Also mussten wir entweder die Altersgruppe ändern oder statt | |
| Flüchtlingskindern sozial schwache Kinder aufnehmen. "Oh Gott! Es ist doch | |
| ein Glück, dass wir keine neuen Flüchtlinge haben!", rief Rusudan | |
| Kaischauri, eine der bedeutendsten Dichterinnen Georgiens und zugleich | |
| Direktorin der Wochenendschule. Die ganze Last von erschütterten | |
| Kinderseelen und gebrochenen Herzen, von der die Politiker keine Ahnung | |
| haben und haben wollen, liegt seit Jahren auf den Schultern dieser Lehrerin | |
| und ihrer Kollegen. | |
| "Warte ein bisschen! Dank unseren Leuchten der Demokratie und Titanen des | |
| politischen Denkens bekommen wir bald neue verbrannte Dörfer und | |
| Flüchtlinge!", sagte düster eine Lehrerin. "Bitte, schweig!", sagte eine | |
| andere Mitarbeiterin des Hauses. "Bis zum September bleibt doch nur ein | |
| Monat. Was kann in einem Monat geschehen?" - "Alles", murmelte ich. | |
| Am 7. August 2008, nach dem Ausbruch der Kämpfe zwischen Georgien und | |
| Russland, flohen Tausende Zivilisten aus Südossetien in die georgische | |
| Hauptstadt Tiflis. Da kamen Frauen, Männer, Alte und Kinder, Lastwagen mit | |
| Soldaten und Waffen, Verwundeten, Toten und Sterbenden in die Hauptstadt. | |
| Ein anderer Autostrom floss in die andere Richtung: aus Tiflis nach Kacheti | |
| (Teil Ostgeorgiens), nach Armenien oder Aserbaidschan. Es flohen alle, die | |
| fliehen wollten und konnten. Denn der Vorsitzende des georgischen | |
| Parlaments hatte mit seinem panischen Auftritt im Fernsehen die ganze | |
| Bevölkerung in tiefste Angst versetzt. "Bald kommt die wilde russische | |
| Armee nach Tiflis", schrie er da, "verteidigt euch mit allem, was ihr habt: | |
| mit Messern, Gabeln, Stöcken, Röhren und Regenschirmen!" | |
| Ungefähr 130.000 Georgier wurden aus ihren Dörfern von ossetischen und | |
| russischen Kriminellen, Soldaten und Nichtsoldaten vertrieben. Hunderte von | |
| ihnen wurden gefoltert, ermordet, verbrannt. Etwa 150 alte georgische | |
| Dörfer waren in nur zwei Tagen verloren. | |
| Nach der militärischen Okkupation des georgischen Territoriums durch | |
| Russland begann die Okkupation der Vernunft und Seele des georgischen | |
| Volkes durch die eigenen Machthaber: Alle sechs vom Innenministerium und | |
| von "Sicherheitsdiensten" kontrollierten Fernsehkanäle sowie viele | |
| Rundfunkkanäle fingen an, die Menschen zu überzeugen, dass diese Niederlage | |
| gegen Russland fast ein Sieg gewesen ist und Präsident Saakaschwili gar | |
| nicht so schlimm war. Schlimm und grausam waren nur Russland und die | |
| georgische Opposition. | |
| Dabei stand der Fernsehkanal Rustavi 2 hinsichtlich der Betäubung der | |
| Bevölkerung an erster Stelle. "Hätte Hitler Rustavi 2 gehabt, so hätten die | |
| Deutschen bis heute nicht mitbekommen, dass sie den Krieg verloren haben", | |
| resümierte der Vorsitzende der georgischen Arbeitspartei, Schalwa | |
| Natelaschwili. | |
| Diese permanente und schamlosen Lüge, das wahnsinnige Pathos, wenn Hunderte | |
| Leichen der von der eigenen Führung preisgegebenen georgischen Soldaten in | |
| der sengenden Sonne verwesten und dann von den Osseten mit Benzin | |
| übergossen und verbrannt wurden, warf das trauernde Volk völlig aus der | |
| Bahn und entstellte die Seele der Kinder. Wieder mussten wir versuchen, die | |
| gebrochenen Herzen und vergifteten Seelen zu heilen. Aber jetzt, in einer | |
| Atmosphäre aggressiver Lügen, war das besonders schwer geworden. | |
| Seit einem Jahr herrscht der Krieg in den Menschen. Alle wissen, | |
| Kriegskinder haben viele Ängste: Angst vor Flugzeugen, ganz besonders vor | |
| Hubschraubern, die sie früher geliebt haben, vor Feuerwerken, Feuer, Lärm | |
| und Dunkelheit. Sie haben Albträume. | |
| Ein Mädchen, Lia, hatte Angst vor den Stimmen der Hasen. "Die Hasen haben | |
| doch keine Stimmen!", rief eine junge Lehrerin auf. "Doch!", erwiderte das | |
| Kind. "Ich höre ihr Schreien in meinem Traum." - "Und warum schreien sie?", | |
| fragte ich vorsichtig. Erst nach zwei Monaten bekamen wir eine Antwort auf | |
| diese Frage. Es stellte sich heraus, dass "Kühe, Hunde, Katzen, Ziegen, | |
| zwei Schafe, Hühner, Truthähne - alle waren draußen, als plötzlich das | |
| Feuer ausbrach. Sie konnten weglaufen. Nur die Hasen saßen in einem | |
| geschlossenen Käfig, und alle hatten vergessen, die Tür aufzumachen. "Und | |
| sie haben doch auf mich gehofft!", wiederholte das Kind und konnte nicht | |
| mehr aufhören zu weinen. | |
| Immer wieder hörte Lia die Stimmen der Hasen. Auch ein Psychotherapeut | |
| konnte ihr nicht helfen. Eines Tages war eine Frau, auch ein Flüchtling, | |
| bei uns in der Schule zu Gast. In der Küche erzählte man ihr heimlich die | |
| Hasengeschichte. In der Pause sagte sie so nebenbei: "Es ist doch gut, dass | |
| es wenigstens einige gute Kriegsgesetze gibt!" -"Kriegsgesetze? Welche?", | |
| fragten die Kinder. "Wieso, wisst ihr das nicht? Alle Verbrecher müssen | |
| alle Türen aufmachen, bevor sie das Haus oder den Garten verbrennen, alle | |
| Türen für die Menschen, Tiere und Vögel. Das ist doch klar, ganz besonders | |
| im Kaukasus." "Und die Russen?" "Ach, sie sind inzwischen auch Kaukasier | |
| geworden und halten sich an dieselben Gesetze." Seither hörte Lia die | |
| Stimmen der Hasen nicht mehr. Wir wussten damals nicht, dass der Mann | |
| dieser Frau in seinem Haus verbrannt war, weil die "Verbrecher" ihm die Tür | |
| nicht aufgemacht hatten. | |
| Nur gut, dass Lia nicht nach Nukriani fahren konnte! Wer weiß, vielleicht | |
| hätten diese Hubschrauber die Stimmen der Hasen wiedererweckt. Am 9. August | |
| geht die Sommerschule zu Ende. Und die Kinder werden in ihre grausamen | |
| Ghettos in der Nähe von Tiflis oder Zerowani zurückkehren - dorthin, wo auf | |
| der salzigen Erde nichts wächst, und unter der brennenden Sonne Schlangen | |
| und Eidechsen über den Boden gleiten. | |
| Man könnte für die Flüchtlinge richtige Häuser in den Dörfern kaufen, die | |
| an die Region Zchinwali grenzen. Das wäre billiger, als diese flüchtig | |
| gebauten Unterkünfte. Aber dann könnte man sie nicht mehr kontrollieren, | |
| damit sie den Besuchern nicht erzählen, was sie mit eigenen Augen gesehen | |
| haben. Außerdem kann man die kompakt wohnenden Gruppen besser beeinflussen, | |
| damit sie ihre Stimmen bei möglichen vorgezogenen Wahlen nur den | |
| Nationalisten geben. Zudem ist es doch bequem, sie westlichen Gästen zu | |
| zeigen, nach dem Motto "Ihr müsst doch jetzt helfen!". | |
| Und so werden sie alle weiter leben: die Flüchtlingskinder ohne ihr | |
| Heimatdorf, der Präsident ohne seine Mutterstadt und sein Volk, sollte | |
| dieses mit einer neuen Kraft im Herbst das Land erschüttern. | |
| Und genau das haben in Georgien viele vor. | |
| *** | |
| NAIRA GELASCHWILI, 61, ist georgische Schriftstellerin, Germanistin und | |
| Übersetzerin. Naira Gelaschwili leitet das Kaukasische Haus im georgischen | |
| Tiflis, das sich vor allem für die Verständigung zwischen den Völkern des | |
| Kaukasus einsetzt. Zurzeit betreut sie Jugendliche, die durch den Krieg im | |
| Kaukasus entwurzelt wurden. | |
| 6 Aug 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Naira Gelaschwili | |
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