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# taz.de -- Ein Jahr nach der Lehman-Pleite: Krise? Welche Krise?
> Eine Katastrophe tritt ein, macht Bumm!, geschieht und ist damit wieder
> vorbei. Die Krise dagegen ist auch heute noch wie Feinstaub: Man weiß,
> sie ist da, aber man sieht keine Trümmer.
Bild: Insolvent! Mitarbeiterinnen verlassen am 15. September 2008 das Lehman Br…
Nachdem vor knapp einem Jahr Lehman-Brothers kollabierte und der ganze
Kapitalismus gleich mit zusammenzubrechen drohte, da war in einem kleinen,
feinen Essay in der taz zu lesen, angesichts der Meldungen beschleiche
einem dieses „merkwürdige Gefühl von Unwirklichkeit. "
Und weiter: "Es erinnert an den GAU von Tschernobyl vor 20 Jahren. Nichts
war zu sehen, zu riechen oder zu hören. Es waren nur diese panikartigen
Meldungen. Und die beängstigenden Aussagen der Regierung, denen lediglich
zu entnehmen war, dass keiner irgendeine Ahnung hatte. Aber dieses
Unsichtbare macht schon allein die Einsicht wirklich schwierig, dass es
sich um eine Katastrophe handeln könnte.“
Das war schön beobachtet. Das Erstaunliche ist freilich: daran hat sich
auch nach einem Jahr nicht so viel geändert.
Gut, es gab einige Wochen, da schlugen jeden Tag ein, zwei dramatische
Pleitemeldungen ein. Aber schnell haben wir begriffen: Wenn eine Firma
insolvent ist, dann stellt die meist nicht die Arbeit ein. Dann kommt ein
Insolvenzverwalter und sucht einen Investor für den Laden. Klappt meist.
Sicherlich: Ein paar Leute haben ihren Job verloren. Manche, die einen
gebraucht hätten, haben keinen gefunden – vorher wäre das leichter gewesen.
Rechnet man alle Tricks weg, gibt es de facto in Deutschland schon wieder
fünf Millionen Arbeitslose. Aber vor ein paar Jahren gab es mehr und
dennoch hatte niemand das Gefühl, wir würden hier durch rauchende Ruinen
stapfen.
Sicherlich haben in meinem Freundeskreis ein paar Leute viel „Geld“
verloren (also virtuelles Vermögen, das sie real nie besessen haben, hat
sich vielleicht halbiert). Aber da ich mich in Kreisen bewege, wo es eher
peinlich ist, zuzugeben, dass man Aktien besitzt, würden sie mir das
wahrscheinlich nicht sagen.
Ein paar Leute, die ihr gesamtes Erspartes in Lehman- oder
Meinl-European-Land-Zertifikate gesteckt haben, haben alles verloren, lese
ich in der Zeitung. Aber ich kenne solche Leute nicht.
Ich kenne aber meinen Freund Konrad, der mir glaubhaft berichtet, dass es
keine Kreditklemme gibt. Zugegeben, die Stichprobe ist etwas klein, aber
dieser Kumpel von mir will das kleine Ferienhaus, das er seit ein paar
Jahren gemietet hat, jetzt kaufen und braucht einen Kredit. Kein Problem,
sagt die Bank. 50.000 Euro, und die Zinsen sind niedrig wie nie.
Immerhin, mir wurde zugetragen, dass eine Zeitschrift, für die ich früher
viel schrieb, die Honorare gekürzt hat. Glücklicherweise habe ich zuletzt
ohnehin sehr selten für sie geschrieben, und die Zeitungen, für die ich
üblicherweise arbeite, haben immer schon wenig bezahlt. Und auch selber
wenig verdient. Sie verdienen jetzt noch weniger. Ich nehme an, dass es die
meisten dennoch überleben werden.
Ich will hier keine Witze machen: Es ging vor zwei Jahren einigen Leuten
wirklich dreckig. Kann sein, dass es zehn Prozent der Menschen, die hier
leben, betraf. Diese Zeit nannte man „Boom“. Heute betrifft das
möglicherweise elf, zwölf Prozent. Und heute sagt man dazu „Krise“. Aber
das ändert für die allermeisten Menschen relativ wenig an der gefühlten
Realität.
Und für die ist die Krise immer noch wie Feinstaub. Man weiß, es gibt sie,
aber man sieht keine Trümmer. Sie ist in Latenz, immer noch im Noch-Nicht.
Und selbst wo man sie ausmachen kann, da sickert sie eher ein, als dass sie
überschwemmt. Und wenn sie mal wo ihre wirklich gemeine Fratze zeigt, da
ist es meist eher so, dass Unternehmen die Krise nützen, um Dinge
durchzusetzen, die in normalen Zeiten nicht so leicht durchgingen.
Schließlich ist das Realste an der Krise immer noch die Angst vor ihr.
Man liest jetzt immer: Im Herbst, da wird es aber dann richtig schlimm. Wir
leben eben in einem Land mit Sozialgesetzgebung und da kann man
Beschäftigte nicht so auf die Straße setzen. Kündigungen müssen angemeldet
werden, sie können oft nur mit Quartalende ausgesprochen werden und dann
gibt es noch Kündigungsfristen. Und man kann Beschäftigte für Kurzarbeit
anmelden. Und. Und. Und. So gibt es einen Verzögerungseffekt, so eine Art
Galgenfrist. Ist die aber einmal aufgezehrt, dann kommt es ganz dicke, so
richtig schlimm, ganz sicher.
An diesen Prognosen ist sicherlich etwas dran, aber man hat doch immer auch
den Eindruck, diese Voraussagen haben ihre Ursache selbst in dem
Unwirklichkeitsgefühl, das alle verwirrt: man will sich förmlich
versichern, dass man irgendwann die Krise ganz gewiss spüren wird.
Wenn man diese Prognosen hört, hat man immer auch ein wenig das Gefühl:
der, der sie ausspricht, wäre enttäuscht, würden sie nicht eintreffen.
Dass von der Krise noch so wenig zu spüren ist, ist Wasser auf den Mühlen
von Verschwörungstheoretikern. Die Unternehmer entlassen erst nach den
Wahlen, damit die Merkel und der Westerwelle die Mehrheit bekommen, liest
man bisweilen. Dabei zeigt ein kleiner Blick über die Landesgrenzen:
Anderswo wird nicht demnächst gewählt, aber dort ist es auch nicht anders.
Unsere Vorstellung davon, wie eine Krise auszusehen hat, wie sie sich
anfühlt, ist, wie unsere Vorstellung von allem, stark medial geprägt.
Krise: Da denken wir an grobkörnige Schwarzweißbilder, mit langen Schlangen
dünner Menschen in altmodischen Anzügen, die Schilder um den Hals tragen
auf denen seht: „Habe Hunger, suche Arbeit, mache alles.“
Oder wir denken an Bilder von Argentiniern, die auf ihre Töpfe klopfen.
Aber diese Krise will partout keine solchen Bilder produzieren. Okay, es
gibt ein paar solcher Bilder: die Lehman-Broker, die am 15. 9. ihr Zeug in
Umzugskartons aus der Bank tragen. Die Häuserreihen in amerikanischen
Vorstädten, wo vor jedem dritten Haus ein „Forclosure“-Schild („zu
ersteigern“) am Zaun hängt. Aber das sind amerikanische Bilder.
Es gibt auch einen voyeuristischen Reiz an der Katastrophe. Wir hängen
gebannt vor den TV-Geräten, wenn ein Tsunami hunderttausende Leute in
wenigen Minuten in den Ozean spült. Wir murmeln dann möglicherweise „so ein
schreckliche Tragödie“, oder „die armen Menschen“, aber wir sind auch
gebannt vom Thrill des Dramas. Der Einbruch der Katastrophe in das Normale
ist immer auch ein Erlebnis. Hinter dieser Frage, „wo bleibt sie denn nun
eigentlich, die Krise?“, steckt daher auch immer eine etwas frivole
Angstlust: Man kann sie natürlich nicht wirklich wollen, aber man will sie
irgendwie doch. Man will das sehen, wie der Zug entgleist.
Aber was ist das für eine Krise, die sich anschleicht, wie ein Gespenst,
das sich in einer dunklen Ecke versteckt? Vier Prozent BIP-Minus, das ist
eine schreckliche Sache, weil die Menschen dann weniger Einkommen haben und
weil dieses „Weniger“ ja auch nicht gleichmäßig und schon gar nicht gerec…
verteilt ist. Aber dennoch ist vier Prozent BIP-Minus vor allem eine Zahl.
Eine statistische Größe. Klar, sie repräsentiert Reales: Maschinen, die
still stehen. Waren, die niemand mehr kauft. Kinder, die kein Fahrrad
bekommen. Aber da ist nur diese Zahl. Virtuell, gewissermaßen.
Ohnehin lehrt uns diese Krise, so lesen wir, wie das Virtuelle mit dem
Realen zusammen hängt. An den Aktienmärkten wird virtuelles Vermögen
vernichtet, Vermögen, das ja nie jemand hatte. Die Menschen betrachteten
den theoretischen Marktwert ihrer Immobilien als Vermögen, auch wenn sie
ihre Häuser gar nicht verkaufen wollen. Aber die Leute betrachteten ihr
virtuelles Vermögen als realen Reichtum und haben ihre Konsumausgaben
danach ausgerichtet.
Jetzt wo sie sich ärmer fühlen, kaufen sie weniger ein. Also wird weniger
Reales produziert. Also nehmen die Firmen weniger ein. Also entlassen sie
Leute oder zahlen denen, die sie nicht entlassen, weniger Geld. Das
Virtuelle ist also nicht einfach virtuell und das Reale nicht einfach real,
das Virtuelle und das Reale sind durch unzählige Fäden verwoben. Aber auch
das Reale kann mehr oder weniger real sein. Hunger und Arbeitslosenheere
sind realer als die Zahl „Minus Vier“.
Das Unwirkliche produziert Wirkliches, aber auch das Wirkliche ist nicht
immer „wirklich wirklich“.
So dominiert über die Krise der Metadiskurs. Da 50 Milliarden für eine
Bankbürgschaft, dort 250 Milliarden für Konjunkturprogramme.
Stimulus-Pläne. Nachfrage. Überkapazität. Handelsbilanz. Exporteinbruch.
Minuswachstum. Wer Bilder von echten Menschen in einer echten Krise
braucht, der schickt ein Fernsehteam nach Island.
Das Gespenstische macht uns kribbelig, und wahrscheinlich mit recht. Eine
Krise, die sich anschleicht, die sich einnistet, die daherwabert wie
Nebelschwaden, die geht vielleicht, wenn sie dann einmal da ist, auch nicht
mehr so schnell weg. Eine Katastrophe tritt ein, macht bumm, ist geschehen
und damit auch schon wieder irgendwie vorbei. Womöglich sind Krisen viel
hinterhältiger.
11 Sep 2009
## AUTOREN
Robert Misik
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