# taz.de -- Ex-Geheimdienstler über Anschläge von 1999: „Leichen wurden in … | |
> Im September 1999 erschütterten Anschläge mehrere russische Städte und | |
> lieferten den Anlass zum zweiten Tschetschenienkrieg. Ex-Geheimdienstler | |
> Trepaschkin über die Attentate. | |
Bild: Zerstört: Haus in Moskau nach Anschlag 1999 | |
taz: Herr Trepaschkin, gibt es inzwischen mehr Erkenntnisse, wer hinter den | |
Anschlägen damals steckte? | |
Michael Trepaschkin: Nein. Die Ermittlungsakten wurden als geheim | |
eingestuft und sind die nächsten 75 Jahre nicht zugänglich. Die | |
Untersuchungskommission der Duma, für die ich als Experte arbeitete, wurde | |
aufgelöst. Zwei ihrer bekannteren Mitglieder, Schtschichotschichin und | |
Juschenko, wurden ermordet. Die Täter wurden auch nicht gefasst. Noch gibt | |
es zwar Zeugen, sie haben aber Angst, weil sie wissen, was mir widerfuhr. | |
In welche Richtung ermittelte die Staatsanwaltschaft? | |
Adam Jekuschew und Jusup Krymschamchalow wurden zu lebenslänglich | |
verurteilt. Sie waren aber nur Helfershelfer, die das Sprengstoffgemisch | |
herstellten, das in Wolgodonsk verwendet worden sein soll und brachten | |
Hexogen nach Wolgodonsk. In Moskau waren sie nie, das ist erwiesen. An den | |
Anschlägen können sie schlechterdings nicht beteiligt gewesen sein. Sie | |
mussten als Sündenböcke herhalten. Wenn sie mehr Schuld auf sich nähmen, | |
hatte man ihnen versprochen, würden sie nur zu 20 Jahren Haft verurteilt. | |
Jetzt sitzen sie für immer, sie wurden betrogen. Damit war der Fall für die | |
Ermittler erledigt. Die eigentlichen Drahtzieher wollte man gar nicht | |
finden. Angeblich sollen die arabischen Feldkommandeure Abi Abu Umar und | |
Chattab den Befehl gegeben haben. Als Beweis diente eine beim getöteten | |
Umar gefundene Zeichnung mit der Sprengskizze eines Hauses. Mehr nicht. | |
Chattab und Umar waren zu dem Zeitpunkt der Schuldsprechung schon tot. Da | |
lag es nahe, ihnen die Sache in die Schuhe zu schieben und den Fall zu | |
schließen. Unter den angeblichen Tätern war kein einziger Tschetschene. | |
Sie verfolgten vor Ihrer Festnahme eine heiße Spur. Eine Schlüsselfigur war | |
ein so genannter Romanowitsch? | |
Romanowitsch erkannten wir anhand einer Phantomzeichnung. Er hatte früher | |
mit dem FSB zusammengearbeitet und unterhielt gute Beziehungen zu | |
Tschetschenen, die den Diensten nahe standen. Romanowitsch hätte das | |
Bindeglied zur Lösung sein können. Denn er mietete die Räume in den Häusern | |
an, wo der Sprengstoff gelagert wurde. Aber nicht unter seinem Namen, | |
sondern mit dem Pass eines längst Verstorbenen. Wir bestanden darauf, ihn | |
zu verhören, weil wir sicher waren, er würde uns auf die richtige Spur | |
bringen. Kaum hatten wir das verlangt, wurde Romanowitsch auf Zypern von | |
einem Mercedes 600 überfahren. | |
Damals wurde gleich der Verdacht laut, der russische Geheimdienst hätte die | |
Finger bei den Anschlägen im Spiel? | |
Zunächst wollte ich das auch nicht glauben. Da man mich aus dem Verkehr zog | |
und die Ermittlungsakten vorenthielt, fehlen mir Teile in der Beweiskette. | |
Der Verdacht erhärtete sich, als ein Kollege aus dem Dezernat für | |
Verbrechensbekämpfung mich ansprach und wissen wollte, ob ich Kontakt zu | |
politischen Kreisen hätte, die sensibles Material veröffentlichen könnten. | |
Es handelte sich um Videoaufnahmen einer Festnahme von Leuten, die mit dem | |
Sprengstoff Hexogen handelten, der bei den Sprengungen verwendet wurde. Das | |
Dezernat war zum Schein auf das Geschäft eingegangen und verhaftete die | |
Gruppe. Wie sich herausstellte, unterstanden die Verhafteten | |
Geheimdienstchef Nikolai Patruschew, der bis heute im Amt ist. Kurz danach | |
drangen FSBler in das Dezernat ein und konfiszierten alle Beweismittel. Die | |
Anordnung kam von Patruschew. | |
Warum waren Sie gegen eine Veröffentlichung? | |
Kollegen und ihre Familien wären gefährdet gewesen. Erst vor Gericht wollte | |
ich das Video zeigen. Als es soweit war, kam mir der FSB mit meiner | |
Verhaftung zuvor. Für mich war dies der Beweis. Ich hatte belastendes | |
Material und war auf der richtigen Fährte. | |
Im November 2006 wurde Ihr Kollege Alexander Litwinenko auf mysteriöse | |
Weise in London mit Polonium vergiftet. Auch er ermittelte in diesem Fall. | |
Litwinenko wollte das Video nach der Flucht nach London gegen den FSB | |
verwenden. Er bot eine Million Dollar. Der Oligarch Boris Beresowski wollte | |
sich wohl an seinem ehemaligen Zögling Putin rächen, vor dem er nach | |
England fliehen musste. Ich habe das Video nicht verkauft. | |
Woher kannten Sie Litwinenko? | |
Er war auf mich angesetzt. Wir arbeiteten beide noch im FSB. Eine Gruppe | |
von FSBlern sollte mich ausschalten. Zu der Zeit suchte jede kriminelle | |
Vereinigung den Schutz des Dienstes. Die Kriminellen zahlten und der | |
Geheimdienst deckte sie. Auf einer Pressekonferenz 1998 enthüllte | |
Litwinenko, dass innerhalb der Organisation eine Abteilung eingerichtet | |
worden war, die bewusst außerhalb des Gesetzes agierte und eigene | |
kommerzielle Interessen verfolgte. Unter anderem sollte Beresowski erledigt | |
werden, weil sie es auf sein Geschäft abgesehen hatten. Es ging um | |
Business, politische Motive dienten nur zur Ablenkung. Ich prozessierte | |
damals gegen Patruschew und seine Leute, darunter Nikolai Kowaljow, Putins | |
Vorgänger als FSB-Chef, und FSB General Michail Barsukow. Ich gewann vor | |
Gericht und sollte verschwinden. Viele Morde gingen auf das Konto der | |
Sicherheitsorgane, die Leichen wurden vor Moskau verscharrt oder in Sümpfen | |
versenkt. Ende der 90er Jahre verlegten sich Innenministerium und in noch | |
größerem Maße der Geheimdienst darauf, Geschäftsleuten Firmen und Eigentum | |
abzunehmen. Kontakte des organisierten Verbrechens reichten bis in die | |
Präsidialadministration. Litwinenko erhielt den Auftrag, mich | |
kaltzustellen. Als er meine Akte las, kamen ihm jedoch Zweifel und er half | |
mir. | |
Glauben Sie, der FSB könnte in die Anschläge verwickelt sein? | |
Zumindest war es nicht ausgeschlossen. Die in der Illegalität agierende | |
FSB-Einheit wurde auch nachdem ihr Treiben publik geworden war nicht | |
aufgelöst. Die Kooperation mit kriminellen Gruppen hat eine längere | |
Vorgeschichte. Schon im ersten Tschetschenienkrieg 1994 kauften | |
tschetschenische Feldkommandeure in Moskau Waffen und wurden vom FSB | |
gedeckt. Kommandeur Salman Radujew schaffte einen Teil der Waffen ins | |
Kriegsgebiet, den anderen ließ er für potenzielle Einsätze in Moskau. Wir | |
hoben eines dieser illegalen Nachschublager aus und ich wurde dafür | |
ausgezeichnet. Als wir dann herausfinden wollten, wer die Hintermänner | |
sind, wurde ich beurlaubt. Bei einer späteren Aktion erwischten wir 30 | |
Waffenschieber in flagranti. Unter ihnen ein General des Generalstabs, | |
einen Agenten des militärischen Geheimdienstes GRU und Mitarbeiter des | |
Innenministeriums sowie des FSB. An den Geschäften war auch Anatoli | |
Kwaschnin, der damalige Kommandeur des kaukasischen Wehrkreises beteiligt. | |
Heute leitet er den sibirischen Wehrkreis. Ex-Generalstabschef Viktor | |
Samsonow und der damalige Innenminister Anatoli Kulikow verdienten auch | |
mit. Die anderen waren Tschetschenen. Im Verhör erzählten sie hemmungslos, | |
wie sie russische Soldaten folterten. Sie waren sich sicher, man würde sie | |
laufen lassen. | |
Die Militärs kamen ungeschoren davon. Wurden die Tschetschenen auch auf | |
freien Fuß gesetzt? | |
Patruschew ordnete deren Freilassung persönlich an. Einen dieser | |
blutrünstigen Feldherren, Abdul hieß er, sah ich kurz vor der Geiselnahme | |
im Moskauer Nord-Ost Musical Theater 2002 in der Präsidialkanzlei. Auch vor | |
der Geiselnahme der Schule in Beslan 2004 hatte ich den FSB informiert. | |
Abdul war einige Monate vorher abgetaucht. Sie konnten sich vor dem | |
Terrorakt in Moskau unbehelligt bewegen, obwohl sie bewaffnet waren. Was | |
darauf schließen ließ, dass sie Protektion von weit oben genossen. Abdul | |
tauchte dann in Beslan wieder auf. Auch die Brüder Tschemtschirow waren | |
unter den Terroristen in Beslan, die vorher in Moskau Geiseln genommen | |
hatten. Wir befreiten diese Geiseln sogar. Später sagte mir eine, sie hätte | |
sich auf Drängen des FSB mit dem Austausch der Brüder einverstanden | |
erklärt. | |
Welche Rolle spielte Putin in Ihrem Fall? | |
Ich hatte keinen Zugang zu Staatsgeheimnissen, wurde aber trotzdem wegen | |
Geheimnisverrats verurteilt. Putin hatte es so befohlen. Der Staatsanwalt | |
räumte ein, dass die Anklage haltlos war. Da die Weisung aber von IHM, | |
Putin, kam – so wird er in diesen Kreisen aus einer Mischung aus Furcht und | |
Ehrfurcht genannt – blieb das Urteil in Kraft. Die alte Garde des FSB hatte | |
sich geweigert, gegen mich vorzugehen. Daraufhin übernahm die | |
Militäranwaltschaft den Fall. Das sind meistens Kader aus der Provinz, die | |
aus Karrieremotiven schneller bereit sind, zwielichtige Befehle | |
auszuführen. | |
Würgte Patruschew die Ermittlungen der Anschläge ab? | |
Er ist kein eigenständig handelnder Typ, eher ein Befehlsempfänger wie sie | |
zuhauf im ZK der Kommunistischen Partei saßen. Hinter ihm kann nur Putin | |
stehen. Ein Ermittler, der mir immer noch zum Geburtstag gratuliert, | |
erzählte mir, wie versucht wurde, ihn systematisch von der Arbeit fern zu | |
halten. | |
Die Gesellschaft war nach den Anschlägen verängstigt, ja paralysiert. Wer | |
profitierte von dem Terror? | |
Putins Popularität schoss augenblicklich in die Höhe. Der Militärisch | |
industrielle Komplex war an einem Krieg in Tschetschenien interessiert, | |
weil die Einnahmen aus den Waffengeschäften schrumpften. Auch dem | |
Geheimdienst und der Armee kam ein neuer Konflikt gelegen. Wo sonst lassen | |
sich Auszeichnungen so leicht verdienen wie in einem Krieg gegen das eigene | |
Volk. | |
17 Sep 2009 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
Klaus-Helge Donath | |
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Russland | |
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