# taz.de -- Kommentar Amokläufe: Amok im Wahlkampf | |
> Wer auf Videoüberwachung setzt und stärkere Polizeipräsenz fordert, ist | |
> noch kein Befürworter des autoritären Staats. Notwendig aber ist, noch | |
> viel früher hinzuschauen. | |
Bild: Der Oberbürgermeister von Winnenden, Bernhard Fritz, zeigt den neuen Kla… | |
Die Raserei eines bewaffneten Schülers in der Ansbacher Schule, das | |
öffentliche Totschlagen an einer Haltestelle in München-Solln, der Fall | |
eines Mädchens, das jemand in einen Kanalschacht wirft - dass wir entsetzt | |
und voller Abscheu reagieren, spricht dafür, dass in unserer Gesellschaft | |
ein moralisches Sensorium intakt zu sein scheint. Denn wir empfinden mit | |
den Opfern und fühlen uns in ihre Angst und ihre Ohnmacht ein. Auch wenn | |
uns diese Einfühlung nicht nur wütend, sondern selber ängstlich und | |
ohnmächtig machen mag. | |
Zugleich ahnen wir, was auch die Psychoanalyse und die Sozialpsychologie | |
bestätigen: dass es den Tätern genau darauf ankommt, nämlich Angst zu | |
verbreiten und Macht zu spüren, indem sie körperliche Verfügung gewinnen | |
über andere, die sich nicht wehren können, und wenn sie doch Widerstand | |
leisten, diesen mit aller Gewalt zu brechen, um sich für einen Moment stark | |
zu fühlen. | |
Gewiss, es sind beschädigte Seelen, die Therapie bräuchten, damit sie sich | |
nicht an Schwächeren schadlos halten. Unsere Intuitionen reichen jedoch | |
weiter. Taten dieser Art, bei denen jede Hemmung zu fehlen scheint, halten | |
wir für symptomatisch. Sie gelten uns als Zeichen dafür, dass in den | |
Tiefenschichten unserer Gesellschaft etwas nicht stimmen kann. | |
Wenn die Täter, bewusst oder im Unbewussten, in den Kategorien von Macht | |
und Ohnmacht handeln, zeigen sie uns dann nicht die Unterseite einer | |
Konkurrenzgesellschaft, in der nur Gewinner zählen und die Verlierer auf | |
der Strecke bleiben? Denn in den meisten Fällen sind die Totschläger selbst | |
Opfer familiärer Gewalt oder sozialer Diskriminierung. Im Gewaltakt | |
verlassen sie die mentale Verliererposition, was ihnen immerhin mediale | |
Aufmerksamkeit und damit ein Echo bringt. | |
Was folgt daraus? Wer auf Videoüberwachung setzt und stärkere | |
Polizeipräsenz fordert, ist noch kein Befürworter des autoritären Staats. | |
Er müsste aber wissen, dass das Gesehenwerden zum Motivbündel solcher | |
Gewaltinszenierungen dazugehört. Deshalb sollte eine Gesellschaft früher | |
hinschauen, was sich in ihren Weichteilen tut. | |
Eine Kultur der Achtsamkeit könnte dafür sorgen, dass der Wettbewerb um ein | |
besseres Leben etwas anderes als nur winner und loser hervorbringt, die | |
beide ohne Hemmungen sind. Und wo wir gerade Wahlkampf haben: Das wäre ein | |
Thema gewesen. | |
18 Sep 2009 | |
## AUTOREN | |
Martin Altmeyer | |
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