# taz.de -- Von wegen "Yes, we gähn": Die Legende von der Langeweile | |
> Der Medien-Vorwurf des inhaltsleeren, öden, entpolitisierten Wahlkampfs | |
> ist heuchlerisch: Es ist die Politik, die unter der Art ihrer | |
> öffentlichen Präsentation leiden muss - und mit ihr die Wähler. | |
Bild: Wenn am Sonntag um 18 Uhr die Wahllokale schließen, dann verlässt der P… | |
I. Der Karneval des Wahlkampfs | |
Demokratie ist ein System organisierter Unsicherheit. In feststehenden | |
Intervallen wird politische Herrschaft neu verteilt nach einem Mechanismus | |
- dem der demokratischen Wahl, dessen zentrale Funktion es ist, die | |
Gesellschaft bis zuletzt über sein Ergebnis im Ungewissen zu lassen. Wie | |
eindeutig auch immer die Prognosen ausfallen mögen, endgültig "sicher" ist | |
der Wahlausgang erst, nachdem alle Stimmen ausgezählt sind. Der Wahlkampf | |
definiert die Zwischenphase, in der die alte Regierung nicht mehr und die | |
neue Regierung noch nicht regiert, in der eine alte, demokratische | |
Repräsentationsbefugnis erloschen, aber eine neue noch nicht ausgestellt | |
ist. In dieser Phase demokratischen Machttransfers wird die (politische) | |
Gesellschaft zur unstrukturierten Gemeinschaft, Regierung und Opposition | |
begegnen sich nun gleichgestellt als Parteien, sie sind auf einen | |
gemeinsamen Status reduziert. In dieser Zeit fällt die Herrschaft an den | |
Souverän, das Wahlvolk, zurück. Niemand kann nun in seinem Namen handeln, | |
politische Repräsentation endet hier. Diese Übergangsphase ist daher eine | |
Zeit inszenierter Formlosigkeit, der "Antistruktur", des Karnevals des | |
Wahlkampfs. | |
Eine Reihe von symbolischen Vorkehrungen lassen diese politische | |
Zeitstruktur der Demokratie sinnfällig werden. Dem sachlichen | |
Diskontinuitätsprinzip (in der zu Ende gehenden Legislaturperiode nicht | |
mehr abgeschlossene Gesetzgebungsverfahren müssen in der neuen | |
Legislaturperiode vollkommen neu eingebracht werden) entspricht ein | |
personelles: In Zeiten des Wahlkampfs kann man beobachten, wie sich | |
öffentliche Amtsträger in parteipolitische Amtsträgeraspiranten | |
zurückverwandeln. Das Werbeverbot für amtierende Regierungen in eigener, | |
nun parteipolitischer Sache ist deswegen nicht nur mit dem Prinzip der | |
Chancengleichheit zwischen Regierung und Opposition begründet. Schließlich | |
dient vor allem der Wahlvorgang selbst als kollektives, aber bis zur | |
gleichzeitigen Schließung der Wahllokale im Ergebnis geheimes | |
Simultanereignis dazu, der demokratischen Neuzuweisung zeitlich begrenzter | |
Herrschaft eine allgemein sichtbare narrative Struktur mit klar | |
demarkiertem Beginn und Ende zu geben. Die demokratische | |
Ursprungsbehauptung "Alle Macht geht vom Volke aus" kann in der Wahl nur | |
dann regelmäßig beglaubigt werden, wenn die Wahl tatsächlich ein Ereignis | |
mit konkretem Beginn und Ende, eigenem Ort und eigener Zeit ist. | |
Mit der erhöhten politischen Unsicherheit in Zeiten des demokratischen | |
Herrschaftsübergangs fällt auch die Gesellschaft regelmäßig in einen | |
Zustand erhöhter Erregung, nervöser Anspannung, die Ausdruck jenes | |
anomischen Zustandes temporärer Herrschaftslosigkeit ist, in den | |
Demokratien in festen Zeitabständen fallen (müssen). | |
II. "Das ist Demokratie / langweilig wird sie nie" (Andreas Dorau, 1988) | |
Gesellschaftliche Erregung? Nervöse Anspannung? Erhöhte politische | |
Unsicherheit? Haben wir nicht soeben einen "Wahlkampf wie auf Propofol" | |
erlebt? Hat Andreas Dorau vielleicht doch Unrecht? | |
Ziehen wir vom Langeweilevorwurf die der besonderen Konstellation einer | |
großen Koalition geschuldete verständliche Hemmung von Union und SPD ab, | |
ihre letzten vier Jahre gemeinsamer Regierungsverantwortung | |
schlechtzureden, und stellen wir weiterhin in Rechnung, dass in der | |
schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit das Publikum wohl etwas | |
anderes als eine gebremste Sachauseinandersetzung noch weniger geduldet | |
hätte, so bleibt vom Vorwurf des öden, inhaltsleeren, entpolitisierten | |
Wahlkampfs nicht viel mehr als eine interessengeleitete Legende. Sie lenkt | |
davon ab, dass die Langeweile nicht eine an der Politik ist, sondern eine | |
an der heute dominanten Form ihrer Darstellung. Diese ist sichtbar an ihre | |
Grenzen gestoßen. | |
Will man daher von den leeren Ritualen der Politik reden, so wäre zuerst zu | |
sprechen von einem bis zur Besinnungslosigkeit alimentierten | |
öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dessen politische Berichterstattung mit | |
viel Aufklärungsemphase, aber ohne jeglichen Erkenntnisgewinn, einen | |
Leerlauf der Bilder, ein wildes Stimmengewirr produziert. Das Wort von der | |
"Christiansenisierung der Politik" erinnert wenigstens daran, wer | |
verantwortlich ist, denn es ist ja nicht so, dass die Politik das Format | |
ihrer Präsentation frei bestimmen kann. Im Fernsehen in seiner aktuellen | |
Verfassung kommt Politik nur deformiert zur Darstellung: Personalisiert, | |
reduziert auf die aktuelle Gesprächsrundenperformanz, als Kommunikation | |
unter Anwesenden. Dabei wird suggeriert, der Informationsauftrag sei schon | |
dann erfüllt, wenn fünf Personen sich eine Stunde lang wechselseitig ins | |
Wort fallen. Hier fällt Politik mit ihrer Beobachtung in eins. Kein | |
Distanz-, kein Reflexionsgewinn, soweit man blickt. | |
Darüber, dass uns das dominante Format der Gesprächsrunde politische | |
Berichterstattung in ihrer Schwundstufe bietet, darüber können auch | |
inflationäre Kurzeinspielungen nicht hinweg täuschen: Als in Frank | |
Plasbergs "Hart aber Fair"-Sendung kürzlich die Rede auf Roland Kochs | |
Bemerkung vom Ypsilanti-Gen der Sozialdemokratie kam, wurde das | |
Experteninterview mit einem Biologen geführt! Die zentrale Maxime des | |
Mediums - KISS ("Keep it simple, stupid") - rechtfertigt, so scheint es, | |
die maximale intellektuelle Unterforderung des Publikums. Es ist jedoch | |
unfair, den Überdruss an der Politik, der in erster Linie ein Überdruss an | |
dieser Darstellung von Politik ist, wiederum als Vorwurf - | |
Politikverdrossenheit wegen angeblicher Inhaltsleere - bei den Parteien | |
abzuladen. | |
Niedergangshypothesen dieser Art mit ihrem leicht bildungsbürgerlichem | |
Einschlag ("Leute, lest mehr Zeitung und seht weniger fern") sind zur Zeit | |
nicht sonderlich originell, aber die Konjunktur entsprechender | |
Zeitdiagnosen - "Seichtgebiete", "Die verblödete Republik", "Dummgeglotzt" | |
etc. - zeigt an, dass da offensichtlich etwas ist. Aber wichtiger ist es | |
vielleicht zu bestimmen, was genau mit der Politik passiert durch die Art | |
ihrer öffentlichen Präsentation. Eine Antwort auf diese Frage mag zugleich | |
erhellen, woher sich aktuell das gesteigerte Interesse an dem | |
Inszenatorischen, Theatralischen, Performativem der Politik, an den | |
Symbolen, Gesten und Ritualen der Macht speist. | |
III. Politische Kommunikation unter Anwesenden | |
Es ist wohl nicht zufällig, dass man anregende Erklärungshinweise vor allem | |
bei Historikern findet, bei Historikern wie Barbara Stollberg-Rilinger | |
(Münster) oder Rudolf Schlögl (Konstanz), die sich mit politischer | |
Repräsentation und politischer Kommunikation in der Frühmoderne | |
beschäftigen. Stollberg-Rilinger wie Schlögl betonen, dass die Geschichte | |
des Wandels politischer Kommunikation vor allem als Mediengeschichte zu | |
schreiben ist. Und sie schildern, wie das Zeremonielle und die performative | |
Realität höfischer Repräsentation, das Zusammen-Fallen des politischen | |
Entscheidens mit seiner Beobachtung durch die Beteiligten, durch die | |
zunehmende Verschriftlichung der politischen Kommunikation in den | |
Hintergrund traten. Politik wurde aus ihrem unmittelbaren | |
Entstehungskontext gelöst, der politische Zeithorizont gestreckt, die | |
Widerspruchswahrscheinlichkeit erhöht: Politik hörte auf, ein "zeremoniell | |
geformter Interaktionszusammenhang" unter Anwesenden (Schlögl) zu sein. | |
Im Medium ihrer fernsehgerechten Darstellung, der Unmittelbarkeit und | |
Gleichzeitigkeit der Bilder wird politische Repräsentation jedoch heute - | |
so scheint es - wieder "höfischer". Entscheidend wird wieder Performanz, | |
der persönliche Fehltritt oder das individuelle Ungeschick in der | |
öffentlichen Darstellung. Ob es dem Fernsehen gelingt, hinter die Maske zu | |
schauen, die man dem Politiker zuvor aufgezwungen hat. Die Medien lauern | |
auf die Verletzung einer bizarren Etikette öffentlicher Darstellung, der | |
sich die Kandidaten zuvor unterwerfen müssen. Politik bedeutet dann, dass | |
Frau Merkel in der Öffentlichkeit in keine Bratwurst beißen darf, weil das | |
unvorteilhafte Bilder gibt. | |
Es herrscht wieder der Aberglaube an die ganz äußeren Formen. Auch die Rede | |
von der Floskelhaftigkeit der Politikersprache ist heuchlerisch, wenn die | |
ganze journalistische Anstrengung ausschließlich darauf gerichtet ist, den | |
einzelnen Politiker der Verletzung einer jener politischen Sprechformeln zu | |
überführen, deren Allgegenwart man zugleich beklagt. Züchtet man sich auf | |
diesem Weg einen Politikertypus heran, der die neue politische | |
"Verhaltenslehre der Kälte" perfekt verinnerlicht hat, dann macht das | |
nachträgliche "Mir ist langweilig" wenig Sinn. Dass unter diesen | |
Bedingungen das schauspielerische Vermögen zur Hauptqualifikation eines | |
Politikers wird, kann nicht ernsthaft der Politik als Verlogenheit | |
angerechnet werden. | |
Rituelle Politik erschöpft sich daher nicht mehr in den politische | |
Übergangsriten in Zeiten des Herrschaftswechsels, in der ritualisierte | |
Mobilisierung des eigenen Lagers, den Kundgebungen auf den Marktplätzen, | |
dem Bad in der Menge, in getätschelten Kinderköpfen. Zu diesen Elementen | |
eines alten Politikmodus gehört auch die Simulation von Handeln durch die, | |
die Entscheiden: Betriebsbesichtigungen mit dem obligatorischen roten | |
Knopf, der das Förderband in Gang setzt, Spatenstiche, zerschnittene | |
Einweihungsbänder. Diese hergebrachten Politikrituale ragen in die neue | |
politische Welt wie ein Überbleibsel aus der alten hinein, und das auch | |
nur, weil sie geschehen unter den Augen eines immer präsenten Journalisten- | |
und Photographentrosses, der auf der beständigen Suche nach dem nächsten | |
entblößenden Bild ist. | |
25 Sep 2009 | |
## AUTOREN | |
Philip Manow | |
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