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# taz.de -- Der blanke Hans: Als das Meer zum Salz kam
> Zwei Sturmfluten gestalteten die Nordseeküste neu und schufen das
> Wattenmeer. Das "friesische Atlantis" Rungholt versank im Schlick. Mit
> Raubbau am Salz hatten sich die Einwohner selbst ihr nasses Grab
> gegraben. Jetzt bedroht der steigende Meeresspiegel die Küste.
Bild: Mehrmals im Jahr Land unter: Nur noch die Warften mit den Wohnhäusern ra…
Ein laues Lüftchen war Sören gewiss nicht. Das war schon ein strammer Sturm
am vorigen Wochenende. Zum ersten Mal in der somit offiziell eröffneten
diesjährigen Orkansaison an Norddeutschlands Küsten meldeten die
nordfriesischen Halligen Land unter. Und auch auf dem Hamburger Fischmarkt
schwappte das Hochwasser der Elbe ein bisschen über die Kaikante. Knapp
vier Meter über Normalnull, knapp zwei Meter über dem mittleren Hochwasser
- da gibt es nasse Füße, aber ein Grund zur Sorge ist das nicht.
Am 11. Oktober 1634 war das anders. An jenem Tag, der sich an diesem
Sonntag zum 375. Mal jährt, brach die Burchardiflut über die Deutsche Bucht
herein. Das Hochwasser war gar nicht so riesig, da gab es zuvor und danach
schlimmere Sturmfluten. Mit etwa 15.000 Toten an der Nordseeküste von
Dänemark bis zu den Niederlanden, zwei Drittel davon in Nordfriesland,
zählt dieser Sturm nicht einmal zu den verheerendsten. Vor allem
Ostfriesland sowie die niederländische Küste hatten bis dahin schon ganz
andere Opferzahlen vermelden müssen, deren Höhe an den Tsunami im Indischen
Ozean vor fünf Jahren erinnern: 60.000 Tote im Jahre 1212 und 100.000 Opfer
1228, weitere 50.000 im Jahr 1287, wieder 100.000 in 1421 und erneut in
1530 lauten die Schätzungen.
Die Folgen der Sturmflut von 1634 und der vorhergehenden Marcellusflut von
1362 aber dauern bis heute an, und deshalb beschäftigen sich bis Ende
Oktober die Sturmfluttage in Nordfriesland in Dutzenden von Veranstaltungen
mit diesen Naturkatastrophen. Die beiden "Groten Mandränken" (große
Manntränken), wie sie genannt werden, gestalteten den Küstenverlauf
nördlich der Elbe auf Hunderten von Kilometern neu (siehe Karten). Sie
schufen das Wattenmeer, das die Unesco jüngst in den Rang eines
Weltnaturerbes erhob - eine weltweit einzigartige Naturschönheit auf den
nassen Gräbern ertrunkener Menschen und Tiere.
Bis dahin war die schleswig-holsteinische Westküste ein Labyrinth an
Inseln, Prielen und moorigen Marschen gewesen. Die Inseln Sylt, Föhr und
Amrum gibt es in wiedererkennbarer Form erst seit Mitte des 14.
Jahrhunderts, ebenfalls die meisten Halligen und die Halbinsel Eiderstedt.
Vor 375 Jahren aber wird auch die große Insel Nortstrand (oder
Alt-Nordstrand) in Einzelteile zerlegt: Nordstrand, Pellworm, Südfall und
Nordstrandischmoor sind die Überbleibsel.
Zu diesem Zeitpunkt war die Handelsmetropole Rungholt schon lange Jahre im
Schlick begraben. "Hunderttausende" werden bei der ersten Mandränke 1362
nicht ertrunken sein, wie der Lyriker Detlev von Liliencron 1883 in seinem
Gedicht "Trutz, blanke Hans" fabuliert. Vielleicht 8.000 mögen in der
ganzen Region umgekommen sein, als die nur etwa zwei Meter hohen Deiche
brachen und die Nordsee den kleinen Fluss Norderhever, an dem das
Kirchspiel Rungholt lag, zum reißenden Priel umgestaltete.
Dass es Rungholt gab, ist belegt. Unter anderem mit einer Urkunde, die
Hamburger Kaufleuten Handelsfreiheit zusicherte. Sie wurde am 19. Juli 1361
unterzeichnet und mit einem Siegel versehen. Sechs Monate später war sie
nutzlos. Der Hafenort zwischen den heutigen Inseln Pellworm und Nordstrand
und nördlich der Hallig Südfall verschwand in Schlick und Matsch.
Die Versionen allerdings über den Verlauf der drei lange Tage andauernden
Sturmflut vom 15. bis 17. Januar 1362 sind so zahlreich wie die Legenden
über Rungholt, das manche im Nachhinein zur friesischen Metropole oder gar
zum Atlantis des Nordens verklärten.
Sagenhaft reich soll Rungholt demnach gewesen sein, eines der prächtigsten
Handelszentren seiner Zeit mit Verbindungen bis ins Mittelmeer. Seine
neureichen Bürger sollen sich jedoch eines Lebenswandels befleißigt haben,
welcher der Kirche und dem Herrn kein Wohlgefallen war. Und so erklärt eine
Version, die von kirchlicher Seite aus nahe liegenden Gründen gern und
häufig bemüht wurde, Rungholt zu einem friesischen Sodom und die Sturmflut
zur gerechten Strafe für gotteslästerliches Treiben.
Die Wirklichkeit war, nach allen vorliegenden Quellen, weitaus prosaischer,
die Gier nach Geld trug einen großen Teil zum Untergang bei. Rungholt war
ein zugiges Kaff von kaum mehr als 1.000 Einwohnern mit Reetdachhäusern,
einer Kirche und einem geschützten Hafen nahe des großen Priels Heverstrom.
Seine Bewohner gruben sich ihr nasses Grab selbst - und wer möchte, mag da
einen Zusammenhang mit aktuellen Diskussionen über Klimaschutz und
steigende Meeresspiegel sehen.
Rungholt lag auf einer Torflinse und buddelte sich selbst den Boden unter
den Füßen weg. Großflächig und immer weiter in Richtung Meer wurde das
salzhaltige Torf in Kögen abgebaut, die nur von leichten Sommerdeichen
geschützt wurden. War das Vorkommen ausgebeutet, blieben die Flächen, die
nun unter Normalnull lagen, sich selbst überlassen. Das Meer drang ein, es
blieb, und es kam immer näher. Rungholter Salz war begehrt, bis nach
Schweden und Flandern wurde es gehandelt, und es machte die Kaufleute
wohlhabend - und unvorsichtig. Am Marcellustag 1362 kam für den Hafenort
und mehrere benachbarte Kirchspiele das Ende. Gewinner war das Örtchen
Husum, das plötzlich direkt am Meer lag und zur Fischer- und Hafenstadt
aufstieg.
Ob und was nachfolgende Generationen daraus gelernt haben ist durchaus
umstritten. In der Figur des Schimmel reitenden Deichgrafen Hauke Haien,
der mit dem Bau neuartiger Deiche am Geiz und Starrsinn der Großbauern
scheitert und mit ihnen untergeht, warf schon der Husumer Dichter Theodor
Storm 1888 diese Frage auf.
Die jüngsten Szenarien der Meteorologen gehen von einem Anstieg des
Meeresspiegels um bis zu 140 Zentimeter bis zum Ende dieses Jahrhunderts
aus. Schleswig-Holstein hat deshalb bereits seine Philosophie des Deichbaus
geändert. Deiche werden nicht mehr nur erhöht, die Krone wird gleichzeitig
deutlich verbreitert und abgeflacht. Das soll weitere Erhöhungen mit wenig
Aufwand und geringeren Kosten ermöglichen.
Nach der Sturmflut vom 16. / 17. Februar 1962, bei der in Hamburg 340
Menschen starben, waren an den Unterläufen der Flüsse und an der Küste die
Deiche massiv erhöht worden. Nur deshalb richtete die Sturmflut vom 3. / 4.
Januar 1976 keine nennenswerten Schäden an. Dennoch war sie mit 6,45 Metern
über Normalnull das höchste und schwerste Hochwasser aller Zeiten an der
Nordsee - ungefähr vier Meter höher als die beiden "Groten Mandränken".
Denn wer nicht will weichen, dieses Motto kennen alle an der Küste, der
muss deichen.
8 Oct 2009
## AUTOREN
Sven-Michael Veit
## TAGS
Sturmflut
Nordsee
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