# taz.de -- Spätaussiedler in Deutschland: Die enttäuschte Generation | |
> Die NPD versucht sie für sich zu gewinnen, nicht selten werden sie selbst | |
> Opfer von rechter Gewalt. Über das schwere Ankommen der | |
> Russlanddeutschen. | |
Bild: Wohngegend für Dresdner Russlanddeutsche: Platte im Stadtteil Johannstad… | |
Nach der Ermordung der Ägypterin Marwa El Sherbini in Dresden erklärte das | |
Integrationswerk Sachsen, eine Initiative von 15 | |
Spätaussiedlerorganisationen, sie sähe eine besondere Anfälligkeit von | |
jungen Russlanddeutschen für rechtsextremistisches Gedankengut. Der | |
mutmaßliche Mörder Alex W. war Russlanddeutscher. Ebenfalls in Dresden lief | |
am 13. Februar dieses Jahres bei dem rechtsextremen Aufmarsch zum Jahrestag | |
der Bombardierung der Stadt der Arbeitskreis der Russlanddeutschen in der | |
NPD unter eigenem Transparent mit. Dessen Leiter, Andrej Triller, betreut | |
das Online-Journal Volksdeutsche Stimme, in dem er regelmäßig über | |
NPD-Aktivitäten unter Russlanddeutschen berichtet. So hatte schon im Mai | |
2007 beim 29. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland | |
NPD-Mitglieder russischsprachige Flugblätter verteilt. Etwa 80 Prozent der | |
Teilnehmer des Treffens hätten Material mitgenommen, hieß es parteiintern. | |
Im Bundesinnenministerium hält man allerdings das Ausmaß von Zustimmung zur | |
NPD unter Russlanddeutschen für nicht beunruhigend. | |
Valerias Steinhauer kämpft als Vorsitzender des Vereins Neue Heimat Löbau | |
gegen Fremdenfeindlichkeit. "Gerade die Älteren unter uns haben noch viele | |
positive Erinnerungen an das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten in | |
den 70er- und 80er-Jahren", sagt er. Sein Verein besteht vorwiegend aus | |
Spätaussiedlern. | |
"Ich bin hergekommen, um meinem Jungen das Studium zu ermöglichen", | |
erklärte die Mutter eines hochbegabten russischen Gymnasiasten in Berlin: | |
"In Kasachstan hätten wir nie die dafür notwendigen Schmiergelder | |
aufbringen können." Nach dem Zerfall der Sowjetunion wuchs die Korruption | |
in den ehemaligen Teilstaaten, Fortbildungsmöglichkeiten wurden bevorzugt | |
den nationalen Eliten zuteil. Seit Ende der 80er-Jahre machten | |
Russlanddeutsche vom Angebot der Regierung Kohl Gebrauch, die ihnen die | |
Ausreise und Einbürgerung in die Bundesrepublik ermöglichte. Ausschlag gab | |
die Hoffnung der CDU auf eine neue Wählerschaft, die gegen das Wörtchen | |
"sozialistisch" allergisch war. | |
Die ältere Aussiedlergeneration brach nach Deutschland in der Hoffnung auf, | |
endlich eine Heimat zu finden. Doch die etablierten Bundesbürger empfanden | |
ihre Dialekte und Ansichten als antiquiert und lehnten sie als Fremde ab. | |
"Dort waren wir die Faschisten und hier sind wir die Russen", hört man oft | |
von in jüngerer Zeit ausgesiedelten Jugendlichen. Sie haben gewöhnlich | |
schon einen russischen Elternteil, immer mehr von ihnen sprechen kaum | |
deutsch und bleiben lieber unter ihresgleichen. In der Schule kommen sie | |
oft nicht mit und sehen die Möglichkeit, an den materiellen Segnungen der | |
Bundesrepublik teilzuhaben, in immer größere Ferne rücken. Die | |
Verliererrolle verlassen sie, indem sie sich ganz bewusst verwandeln: von | |
den "Deutschen", als die sie zu Hause beschimpft wurden, in - wie es in | |
einem heute gerappten russischen Lied heißt: "Coole Russen". | |
Von der russischen Kultur geprägt sind sie auch in ihrem konservativen | |
Wertekanon. "Bei uns in Kasachstan ist es gang und gäbe, dass sich die | |
Jugendlichen zweier Dörfer sonnabendnachmittags in der Steppe wie zu einem | |
Fußballspiel treffen, um sich zu prügeln", erzählt Artur, ein | |
Russlanddeutscher aus Berlin Marzahn: "Wer nicht mit Fäusten austeilen und | |
auch was einstecken kann, der ist kein Mann." Ein für alteingesessene | |
Deutsche überkandidelter Ehrbegriff regelt den Umgang miteinander. All | |
diese Stereotype ließen sich leicht in ein rechtsextremes Weltbild | |
eingliedern - und sind nicht weit vom Weltbild unterprivilegierter junger | |
türkischer Männer entfernt. Prügeleien zwischen russlanddeutschen und | |
türkischen Cliquen gehören denn auch zu den häufigsten. "Wenn ihr die | |
Türken rausschmeißen würdet, dann hättet ihr mehr Geld für uns", ist ein | |
von jungen Spätaussiedlern häufiger zu hörendes Argument. | |
"Antiislamismus", so meint Valerias Steinhauer vom Verein Neue Heimat | |
Löbau, könne das eigentlich nicht sein: "Religion spielt für unsere Leute, | |
vor allem für die jüngeren, kaum eine Rolle. Dazu sind sie zu sowjetisch | |
sozialisiert. Aber der starke Anstieg der Fremdenfeindlichkeit in der | |
russischen Öffentlichkeit ist ja kein Geheimnis." | |
In den deutschen Ballungsräumen von Spätaussiedlern ist der Einfluss der | |
russischen Massenmedien sehr groß. In Russland sind abwertende Bemerkungen | |
etwa über die "Jidden" von Dumaabgeordneten aller Parteien an der | |
Tagesordnung. Ein Echo darauf ist vermutlich der in inoffiziellen | |
Gesprächen mit russlanddeutschen Jugendlichen zutage tretende krasse | |
Antisemitismus. | |
Dass zahlreiche Russlanddeutsche hier ihrerseits zu Opfern rechter Gewalt | |
wurden und mehrere dabei ihr Leben verloren, thematisierten die deutschen | |
Medien kaum. "In Löbau gab es 2003 drei von Rechtsradikalen initiierte | |
Massenschlägereien mit russlanddeutschen Jugendlichen", erzählt Steinhauer. | |
"Jetzt", sagt er mit Bezug auf einen Ordnerdienst, "kommen Rechte bei uns | |
nicht mehr vorbei." | |
1 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Barbara Kerneck | |
## TAGS | |
Russland | |
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