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# taz.de -- Ortstermin Zivildienst: Das unfreiwillige halbe Jahr
> Die Koalition will die Zivildienstzeit auf sechs Monate verkürzen. Die
> Sozialverbände protestieren. Zu Recht? Unsere Autoren begleiten einen
> Zivi bei der Arbeit.
Bild: Vor dem Spaziergang noch schnell einen Apfel: Manuel Lindemann auf Hausbe…
Ob Cordula Ott* Dienstleistung oder Zuwendung wünscht, erkennt Manuel
Lindemann daran, ob der Müll schon vor der Wohnungstür steht. Heute ist
Zuwendungstag, kein Müll vor der Tür, der 23-Jährige klingelt. "Moment",
hallt es, dann öffnet Cordula Ott die Tür. Sie ist barfuß, atmet schwer
unter ihrem Gewicht, über T-Shirt und Shorts trägt sie einen offenen Kittel
mit Blumenmuster. "Ich finde, wir geben uns nicht mehr die Hand - wegen der
Schweinegrippe", sagt Cordula Ott, geht einen Schritt zurück und setzt sich
auf einen Hocker im Eingang ihrer Einraumwohnung.
Die 63-Jährige möchte nicht, dass der Zivildienstleistende, der den Müll
runterbringt, ihre Wohnung betritt. Es riecht darin, das weiß sie. Sie sei
schon immer unordentlich gewesen, sagt sie. Cordula Ott möchte auch nicht
gepflegt werden. Aber manchmal möchte sie reden, 20 Minuten an der Tür.
Über neue Angebote im Supermarkt, über die Bekannten, die sich nicht um sie
kümmern. An solchen Tagen stellt sie die Mülltüten nicht vor die Tür.
Müll runterbringen, Post holen und Gespräche lassen sich nicht über die
Pflegeversicherung abrechnen. Cordula Ott zahlt dafür 7,50 Euro. Die
Sozialstation der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Reinickendorf vermietet ihren
Zivi stundenweise für Tätigkeiten, die im Pflegesystem nicht vorgesehen
sind, aber für viele Patienten zu teuer wären, müssten sie dafür eine
normal verdienende und versicherte Pflegeperson bezahlen.
Manuel Lindemann begleitet Menschen zum Arzt, er macht Einkäufe, holt
Rezepte ab. Vor einigen Tagen haben seine Vorgesetzten entschieden, dass
für ihn kein Nachfolger eingestellt wird, wenn der 23-Jährige im Februar
geht. Die AWO-Sozialstation steigt als Zivildienststelle aus.
Über 75.000 Zivildienstleistende wie Manuel Lindemann helfen momentan alten
Menschen bei alltäglichen Tätigkeiten und auf Pflegestationen, betreuen
Kinder, Behinderte oder Demenzkranke, leisten Fahrdienste oder arbeiten in
Umweltprojekten.
Bisher beträgt die Zivildienstzeit so wie der Wehrdienst neun Monate, die
neue schwarz-gelbe Regierung will beides ab 2011 auf ein halbes Jahr
verkürzen. Es wäre bereits die fünfte Verkürzung seit den 1990er-Jahren,
viele sehen sie als den Anfang vom Ende des Zivildienstes.
Seit die Pläne an die Öffentlichkeit gedrungen sind, reißen die Proteste
der betroffenen Träger und Sozialverbände nicht mehr ab. Die Vorsitzende
des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher, sagte der taz, das "Verhältnis
zwischen Anlernzeit und Dienstzeit" stimme nicht mehr. Der
Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich
Schneider, fürchtet, dass Zivildienstleistende künftig "nicht mehr
vernünftig eingesetzt" werden können.
In manchen Bereichen dürfte es dann keine Zivis mehr geben, etwa bei der
Betreuung behinderter Kinder oder im Kindergarten, weil sie selbst das
verkürzte Kindergartenjahr nicht mehr begleiten könnten. Ähnliches gilt für
die Notfallrettung. Dort wurden schon nach den letzten
Dienstzeitverkürzungen der Einsatz von Zivildienstleistenden reduziert.
Träger wie der Malteser Hilfsdienst wollen nun ganz darauf verzichten. In
diesem Bereich beträgt die Einarbeitungszeit drei Monate, zu lang für eine
Dienstzeit von nur einem halben Jahr. Trotzdem wolle man weiter Zivis
beschäftigen, etwa beim Krankentransport, heißt es bei den Maltesern.
Die AWO-Reinickendorf teilt diese Sichtweise. "Man kann die Zivis in so
kurzer Zeit nicht einarbeiten. Und dann hat man noch einen riesigen Berg
Papierkram mit der Zivildienstbehörde", sagt Alexander Wüsten. Der
Pflegedienstleiter der Sozialstation in Berlin-Reinickendorf sitzt an
seinem Schreibtisch. Breite Schultern, Glatze, drei Ringe im Ohr, drei
Feuerzeuge auf dem Tisch neben dem Aschenbecher mit AWO-Logo.
Wüsten begleitet seit zehn Jahren Zivildienstleistende. "Die Hochzeit ist
eigentlich schon vorbei. Viele Einrichtungen haben bereits in der
Vergangenheit auf Zivis verzichtet", sagt er. Seine Sozialstation hatte vor
fünf Jahren noch vier, bis zum letzten Jahr zwei, jetzt nur noch einen
Zivildienstleistenden.
"Klar ist der Zivi ein Lückenbüßer für die vielen Aufgaben, die wir nicht
abrechnen können. Aber wir benutzen ihn zumindest nicht als billigen Ersatz
für unsere Hauspfleger." Im Gegensatz zu anderen Einrichtungen. "Ich weiß
von Pflegeheimen, in denen ganze Stationen auf Zivis beruhen", sagt Wüsten.
"Wer sich jetzt beklagt, er müsse vier Arbeitskräfte einstellen, wenn er
keine Zivis mehr hat, ist selbst schuld." Dies sei ein falsches Verständnis
vom Zivildienst.
An diesem Punkt setzt auch die Kritik von Peter Tobiassen an. Tobiassen ist
Geschäftsführer der "Zentralstelle Kriegsdienstverweigerer aus
Gewissensgründen", er selbst ist vor mehr als 30 Jahren über den eigenen
Zivildienst auf den Verband aufmerksam geworden. "Wenn eine Organisation
klagt, sie müsse ohne Zivis Hauptamtliche einstellen, verrät sie sich",
sagt Tobiassen. "Alle müssen unterschreiben, dass Zivis nur als Ergänzung,
nicht als Stütze eingesetzt werden."
Auch die Argumente der Trägerorganisationen kann Tobiassen nicht
nachvollziehen. "Von den etwa 3,5 Millionen Beschäftigten in
Zivildienstberufen sind nur knapp 2 Prozent Zivis", rechnet er vor. "Bei
der Verkürzung fällt gerade mal ein halbes Prozent der Stellen weg." Sein
Fazit: "Die Kritik ist Schaumschlägerei!" Auch das Argument, dass mit den
Zivis auch Zeit für persönliche Gespräche wegfallen könnte, teilt er nicht:
"Gerade wenn Zivis keine Pflegetätigkeiten mehr verrichten, wird es mehr
Zeit für Spaziergänge und Gespräche geben."
Tatsächlich könnten in den meisten Bereichen die wegfallenden
Zivildienststellen durch Jugendliche ersetzt werden, die ein Freiwilliges
Soziales Jahr (FSJ) ableisten. Dafür gibt es zum Teil drei Bewerber auf
einen Platz. In dem Bereich, in dem die Zivildienststellen wegfallen werden
- bei der Kinderbetreuung - dürfte der Ersatz durch FSJler deswegen kein
Problem werden. Die Plätze sind für Jugendliche attraktiv.
Für Peter Tobiassen wäre der Schritt zu einem konsequent geförderten
Freiwilligen Sozialen Jahr die richtige Maßnahme. 170 Millionen Euro werden
im Etat des Jugend- und Familienministeriums frei, wenn die Zivildienstzeit
verkürzt wird. Geld, das seiner Meinung nach in das FSJ investiert werden
sollte. "Jede freiwillige Arbeitskraft ist besser als eine erzwungene."
Aber: "Es wäre ehrlicher gewesen, den Wehr- und Zivildienst ganz
abzuschaffen." Auch der grüne Bundestagsabgeordnete Kai Gehring sieht
"immenses Potenzial" beim Freiwilligendienst und bemängelt "ideologisches
Festhalten an der Wehrpflicht".
Dass ein Schlussstrich unter den Wehr- und Zivildienst die ehrlichere
Lösung gewesen wäre, darin sind sich nicht nur Gehring und Tobiassen einig.
Auch Fachleute denken mittlerweile vermehrt in diese Richtung. Werner Hesse
vom Paritätischen Wohlfahrtsverband sagte gestern in der taz, dass
"größerer Handlungsdruck" entstehen würde, wenn man den Zwangsdienst ganz
abschafft. Aber die "billige Unterstützung" durch Zivildienstleistende
würde von Politik und Gesellschaft gerne in Anspruch genommen.
"Ich weiß gar nicht, wie ich das machen soll, wenn Sie nicht mehr da sind",
sagt Cordula Ott bei der Verabschiedung von Manuel Lindemann. Sie ist schon
die Zweite in dieser Woche. Dabei sind Mülldienst und Reden für 7,50 Euro
gar nicht gefährdet. Wenn Lindemann wieder in seinen Beruf als
Orthopädie-Schuhmacher zurückkehrt, soll ein Freiwilliger im Sozialen Jahr
seine Stelle übernehmen. Eine Idee, die viele hätten, sagt
Pflegedienstleiter Alexander Wüsten. Schließlich bleibe die Arbeit ja da -
und auch die Lücke zwischen möglichem Preis und nötiger Bezahlung. Ein
Freiwilliger kostet auch wenig, wie ein Zivi. Aber er ist wenigstens
freiwillig da.
* Name geändert
4 Nov 2009
## AUTOREN
L. Strothmann
G. Repinski
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