# taz.de -- Mauerfall als Domino-Aktion: Hauptsache, es steht Berlin drauf! | |
> Wenn bunte Steine fallen: Mit der "Domino-Aktion" am Montag wird der Fall | |
> der Mauer nachgespielt. Das ist "Be Berlin", ein Gedenk-Event erster | |
> Güte, nur die richtige Performance fehlt. | |
Bild: Die Umfaller: Rund 1.000 Dominosteine stehen bereits am Brandenburger Tor… | |
Es hat in Berlin nie an Pathos gefehlt, das Ende der Mauer zu feiern. 1994, | |
fünf Jahre nach dem Mauerfall, wurde mit Lichterketten quer durch die Stadt | |
das Gefühl der Freiheit hochgespült. 1999, zum zehnjährigen Geburtstag, | |
versetzten die "Scorpions" mit "Wind of Change" Hunderttausende in | |
nationalen Freudentaumel. | |
Zum 20. Jahrestag erreicht das Jubiläum eine Steigerung, deren | |
bedeutungsschwangere Ausmaße fast schon peinlich sind: Von Richard Wagners | |
Lohengrin bis zu Nicolas Sarkozy ist am 9. 11. beim "Fest der Freiheit" am | |
Brandenburger Tor alles dabei, was man eigentlich nicht unbedingt hören | |
oder sehen möchte. Auf einer Richter-Skala der Gedenkfeierlichkeiten | |
besetzt das Mauerfallspektakel 2009 mindestens eine 7,5 - was einer | |
mittleren Katastrophe gleichkommt. | |
Mauerfallfeiern fetzt. Dass auf der Megaparty aus Staatsakt, Volksfest und | |
Feuerwerk zudem bei der "Domino-Aktion" 1.000 übergroße, von Jugendlichen, | |
Künstlern oder Politikern (so auch Nelson Mandela) vieler Länder bunt | |
bemalte Dominosteine gekippt werden und so den Mauerfall symbolisieren, | |
gibt dem Event zusätzlich Power. | |
Das provoziert natürlich die Frage, ob man sich angesichts vieler bunter | |
Mauerteile ("viele bunte Smarties") als Highlight des Festes nicht doch um | |
das Profil des Gedenkjahres langsam Gedanken machen muss. Ist so eine 1,5 | |
Kilometer lange Kettenreaktion zwischen Reichstag und Potsdamer Platz | |
lustig, aber nicht auch blöd? Und geht da nicht ein Erinnerungskitsch ab, | |
dass es einen graust? | |
Richtig ist, dass die Erinnerungsmaschinerie speziell beim Mauerfall | |
mittlerweile auf einen Eventismus eigener Prägung fixiert ist. Events à la | |
Domino-Aktion machen sich gut in einer Zeit, die Geschichte allerorten als | |
das Pfund entdeckt, mit dem sich trefflich wuchern lässt: ob zur | |
Unterhaltung, zur Bekräftigung der Identität oder zu beidem zugleich. | |
Geschichts-Events dieser Art, urteilt der Historiker Martin Sabrow, Chef | |
des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung, sind "problematisch", | |
da sie hauptsächlich am Effekt, an der "Magie der Jubiläen" interessiert | |
sind. Ihre Orientierung zielt auf das Gefühl, "historische Beziehungen und | |
Komplexe werden zerhackt zugunsten der Befriedigung eines punktuellen | |
Geschichtsinteresses". | |
Gäbe es nur diese Perspektive als Auseinandersetzung mit der Geschichte, | |
wären die Zweifel am Mauergedenken 2009 mehr als berechtigt. Doch war und | |
ist das gesamte Gedenkjahr mehr als nur Show. Mit unzähligen Ausstellungen, | |
wissenschaftlichen Tagungen, Veranstaltungen, Gesprächsreihen, | |
Theateraufführungen wurde dem Diskurs um die Aufarbeitung der Geschichte | |
1989 bis 2009 nachgegangen. Zeitzeugen haben Auskunft gegeben über den | |
Zustand der "inneren Spaltung". Die "Deutungshoheit" der Geschichte von | |
1989 hat sich von West nach Ost verschoben. Was der Aufstand gegen die | |
Diktatur, die friedliche Revolution waren, wer die Protagonisten 1989 | |
gewesen sind, was an Hoffnungen existierte und in Desillusion mündete, | |
gewinnt an Klarheit. | |
Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums, hat das bemerkenswerte Bild | |
gezeichnet, dass die Akteure von damals erneut begonnen haben, "aus dem | |
Schneckenhaus herauszukommen". Der Boden, der nach dem Herbst 89 den | |
Reformern und Bürgerrechtlern in der DDR von der Einheitsdynamik weggezogen | |
wurde, wird - zumindest gedanklich - stückweise zurückerobert. | |
Die "Domino-Aktion" spiegelt viel von diesem Prozess der | |
Deutungsverschiebung. Sie hat den Charme eines naiven, aber gewaltigen | |
Kunstwerks oder Spiels, das Weltgeschichte erzählt. Der Mauerfall wird | |
nachgespielt, ein bisschen revolutionäre Nostalgie auch. Und mit alldem ist | |
das Gedenken zudem zwischen Ironie und Ernsthaftigkeit gut aufgehoben. Also | |
warum nicht so? | |
Wenn man der Meinung Klaus Wowereits ist, der das Malprojekt der | |
Jugendlichen als "wichtige Auseinandersetzung mit der Geschichte des | |
Mauerbaus und -falls" sieht, könnte man das Ganze unbekümmert im PR- und | |
Eventbereich einfach belassen. Mauergeschichte, egal ob dominomäßig, lustig | |
und bunt, bildet. Hauptsache, es steht Berlin drauf und macht Spaß. Sicher, | |
das wird es: "Be Berlin!" | |
Welche Potenziale die Domino-Aktion hätte freisetzen können, zeigt ein | |
Vergleich: Die Ausstellung am Alexanderplatz "20 Jahre Fall der Mauer" der | |
Robert-Havemann-Gesellschaft hat sich ganz unprätentiös dem großen Thema | |
gewidmet. Die Schau bespielt auch einen historischen Ort vom Herbst 1989. | |
Die Fotografien von damals ins Museum zu stecken, wäre einem | |
Navigationsfehler gleichgekommen. Wo, wenn nicht auf dem Alex, kann die | |
emotionale Kraft jener Zeit besser in die Erinnerung gerufen werden als | |
hier, begründete Tom Sello, Kurator der Schau, die Wahl des | |
Ausstellungsorts. Und ganz wichtig für Sello: "Der Ort lässt keine | |
Konkurrenz zwischen Außenraum und Ausstellungsgestaltung entstehen." | |
Man kann von der Domino-Aktion halten, was man möchte. Auf jeden Fall | |
setzen sie und der Prozess der Entstehung viel frei: Sie bildet eine | |
Fortsetzung der westlichen schrillen Mauer-Graffiti. Die Steine sind | |
Reminiszenzen an die East Side Gallery. Ihre ProduzentInnen aus aller Welt | |
spiegeln, mal naiv, mal reflektiert, ihr ganz subjektives Bild der Stadt | |
und des Mauerfalls wider. Es sind anarchische und laute, grelle und | |
melancholische Motive. Die Domino-Aktion ist global, multikulturell und | |
komplex, sie ist Pop und Spiel, subjektiv, kollektiv und kreativ - und | |
damit Freiheit. | |
In der Aktion chiffriert sind noch andere Bilder von 1989: die | |
Selbstbestimmung der eigenen Motive und Interessen, der Sturz der | |
osteuropäischen Diktaturen, der Domino-Effekt der Demokratisierung und | |
schließlich der lustvolle Fall der Mauer. | |
Hätten die Veranstalter diese großen Bedeutungen herausgearbeitet und vor | |
allem herausgelöst aus der unsäglichen Konkurrenz der großen Party am | |
Montagabend, sie hätten der Domino-Aktion eine wesentliche Steigerung und | |
Funktion beschert. Diese Performance gehört, wie die Ausstellung am | |
Alexanderplatz, an ihre authentischen Räume, damit die eigene Aura besser | |
spürbar wird. Das Spiel und Kunstwerk im Rausch der Massen und | |
großkopferten Wichtigtuerei zu belassen, zieht Substanz ab. | |
Die Mauer fiel auch am Brandenburger Tor. Sie fiel aber viel wesentlicher | |
an Orten wie der Gethsemanekirche, dem Alexanderplatz vom 4. November, den | |
Widerstandsnestern in Prenzlauer Berg, im Neuen Forum, an der Bornholmer | |
Brücke et cetera. Dort fiel "the Wall". In diesen Kontext hätte der | |
Dominosteinfall gehört. So bleibt keine Kunstperformance. Nicht mal eine | |
wirklich poppige Aktion. Denn die Dominosteine stürzen leider nur peu à | |
peu! Eine Kettenreaktion interruptus, weil immer Reden diese aufhalten. Ein | |
echter Mauer-Showdown sieht anders aus. Wie mutlos. | |
7 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Rolf Lautenschläger | |
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