# taz.de -- Eduard Schewardnadse über den Mauerfall: "Wir waren nicht unvorber… | |
> "Im schlimmsten Fall hätte die Öffnung der Mauer in einem Dritten | |
> Weltkrieg enden können." Der sowjetische Exaußenminister Schewardnadse | |
> erinnert sich an den 9. November 1989. | |
Bild: Eduard Schewardnadse war sowjetischer Außenminister als in Berlin der "W… | |
Honecker, Genscher, Baker, Gorbatschow: Eduard Schewardnadse erinnert sich | |
an den 9. November 1989 und das, was danach kam | |
taz: Herr Schewardnadse, am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Sie | |
waren damals Außenminister der Sowjetunion. Wo erreichte Sie diese | |
Nachricht und was ging Ihnen in dem Moment durch den Kopf? | |
Eduard Schewardnadse: Unsere Botschaft und der Geheimdienst meldeten seit | |
Monaten jede kleine Bewegung in der DDR. Wir waren über die Vorgänge in | |
Berlin recht gut im Bilde. Die Informationen gingen direkt an das | |
Außenministerium, und ich unterrichtete dann Michail Gorbatschow. | |
Aus den Protokollen der sowjetischen Botschaft geht hervor, dass die | |
DDR-Genossen verzweifelt versuchten, aus Moskau Verhaltensanweisungen zu | |
erhalten. Durften sie die Grenze nun öffnen, um Druck aus dem Kessel zu | |
lassen, oder nicht? Moskau ließ sich aber Zeit. Die UdSSR feierte rund um | |
den 7. November den Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution | |
… | |
Nein, die Feierlichkeiten verliefen wie jedes Jahr, nichts | |
Außergewöhnliches passierte. Die Sowjetführung stand auf der Tribüne des | |
Leninmausoleums auf dem Roten Platz und nahm die Parade ab. Wir waren ja | |
nicht unvorbereitet. Seit September machten wir uns Gedanken, wie wir mit | |
den Folgen der wachsenden Unruhe in der DDR umgehen sollten. Ich hatte | |
damals schon keinen Zweifel mehr, dass die Mauer früher oder später fallen | |
würde. | |
Die politische Führung der UdSSR war von den Ereignissen also nicht | |
überrascht? | |
Wir hatten Vorahnungen und sahen einiges auf uns zukommen. | |
Sie sprachen schon 1986 in einem informellen Zirkel davon, dass eine | |
Wiedervereinigung Deutschlands wohl unausweichlich sei. Was machte Sie da | |
so sicher? | |
Es war wohl Intuition und die Fähigkeit zum realistischen Denken. Ich | |
äußerte mich als Privatmann, nicht als ein Vertreter der sowjetischen | |
Führung. | |
Kannten Sie den DDR-Staatsratschef Erich Honecker persönlich? | |
Ja. Wir waren uns in den letzten Tagen in Berlin begegnet. Er stand in | |
seinem Büro und schaltete den Fernseher an: Ein Bericht aus Bonn lief. Der | |
Beitrag ließ kein gutes Haar an ihm. Der Dolmetscher übersetzte für mich. | |
Ich dachte bei mir: Mein Gott, wie hält der das nur aus? Honecker wollte | |
mich überzeugen, dass ein Zusammenleben mit den Westdeutschen einfach nicht | |
möglich sei. Dann war das Gespräch zu Ende. | |
Nach dem Mauerfall flogen Sie mit Michail Gorbatschow zusammen nach Berlin. | |
War die Lage so brenzlig? Drohten die Militärs einzugreifen? | |
Die Gefahr war real. Vom Geheimdienst aus Berlin erhielt ich laufend | |
Informationen. Die Stimmung in einigen Einheiten war beunruhigend. Ich | |
weihte Gorbatschow ein, und wir beschlossen daraufhin, gemeinsam zu | |
fliegen. Das Politbüro der KPdSU war zwar der Ansicht, es reiche, wenn ich | |
allein ginge, Anweisungen des Außenministers hätten die Militärs aber | |
ignorieren können. Gorbatschow war als Generalsekretär der KPdSU auch noch | |
Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte, und dem gehorchten sie. | |
Deshalb flogen wir beide. | |
Haben Sie dadurch Schlimmeres verhüten können? | |
Wahrscheinlich, es hätte auch anders ausgehen können. In der DDR stand eine | |
halbe Million bis an die Zähne bewaffneter sowjetischer Soldaten. Mit dem | |
Fall der Mauer spitzte sich die Gefahr noch zu. | |
Ein selbstherrlicher Kommandeur hätte eine Katastrophe auslösen können … | |
Konkrete Hinweise hatten wir nicht. Uns war aber bewusst, dass eine solche | |
Gefahr bestand. | |
Was wären die Folgen gewesen? | |
Denkbar waren mehrere Szenarien. Uns war klar, dass die Deutschen harten | |
Widerstand leisten würden. Im schlimmsten Fall hätte die Öffnung der Mauer | |
in einem Dritten Weltkrieg enden können. Gorbatschow und ich befürchteten | |
das zumindest. | |
Sah Gorbatschow die Unausweichlichkeit der Wiedervereinigung ähnlich wie | |
Sie? | |
Gorbatschow hat sich zur Einigung anfangs nie direkt geäußert. Er ist der | |
Frage immer ausgewichen, hat nicht Ja und nicht Nein gesagt. Daraus schloss | |
ich aber, dass er innerlich auf die Wiedervereinigung vorbereitet war. | |
Seltsam, unter vier Augen haben wir nie darüber gesprochen. Auch in den | |
Sitzungen des Politbüros sprach er sich nicht kategorisch gegen die | |
Einigung aus. Er schwieg meistens. | |
Warum war Gorbatschow so vorsichtig? | |
Im Politbüro saßen Leute, die Deutschland auf keinen Fall preisgeben | |
wollten. Der Widerstand war erheblich. 20 Millionen Menschen seien für die | |
Befreiung Deutschlands gefallen und jetzt würden wir es einfach so | |
aufgeben, meinten die Gegner. Gorbatschow lavierte ja nicht zufällig so, | |
wenn er nach der Vereinigung gefragt wurde. Nach dem Fall der Mauer war es | |
einfach nicht mehr möglich, den Einheitsprozess aufzuhalten. Der Widerstand | |
in der sowjetischen Führung machte sich später dann auch an den Bedingungen | |
fest, unter denen die Einheit stattfinden sollte. Was würde mit dem | |
Verteidigungsbündnis des Warschauer Pakts geschehen? Konnte man es | |
zulassen, dass auch das neue Deutschland in der Nato bleibt? Natürlich | |
regte sich da Widerstand. Die Führung war strikt dagegen. Viele hassten | |
mich deswegen und sagten offen: Schewardnadse hat uns verkauft. | |
Schließlich stimmte die Führung dann doch der Wiedervereinigung zu. | |
Es war im Februar 1990 auf der "Open Skies"-Konferenz der Außenminister des | |
Warschauer Pakts und der Nato im kanadischen Ottawa. James Baker [damaliger | |
US-Außenminister, d. Red.] saß mir zunächst gegenüber, dann setzte er sich | |
neben mich. Wir waren damals schon befreundet. "Eduard, was meinst du, ist | |
die Zeit nicht gekommen, über eine deutsche Wiedervereinigung | |
nachzudenken?", fragte er. "Wir denken schon nach, aber das muss sehr | |
überlegt angegangen werden. Was meint Genscher?", fragte ich. Genscher sei | |
einverstanden, meinte Baker. England und Frankreich seien noch dagegen, | |
aber die würde man schon überzeugen. "Das Wichtigste ist eure Position, was | |
meint Gorbatschow?" Wenn die Sowjetunion zustimme, könne der | |
Zwei-plus-Vier-Prozess [beide deutsche Staaten plus USA, UdSSR, England und | |
Frankreich, d. Red.] beginnen. Ich verließ den Raum und rief Gorbatschow | |
an. Zunächst erklärte ich ihm den Zwei-plus-Vier-Mechanismus: "Was meinst | |
du dazu?" Er fragte zurück: "Eduard, was denkst du?" Ich hielte die Zeit | |
für gekommen, sich auf die Einheit einzulassen, sagte ich. Gorbatschow | |
dachte zwei, drei Minuten nach und meinte dann: "Gut, dass die | |
Außenminister diese Frage angehen. Eduard, früher oder später muss eine | |
Entscheidung her." Wenn das Format der Verhandlungen praktikabel sei, hätte | |
er nichts dagegen. Der Weg für den Auftakt der Zwei-plus-Vier-Gespräche war | |
geebnet. | |
Wie war Ihr Verhältnis zu James Baker? Er schenkte Ihnen mal Gummistiefel, | |
haben Sie die noch? | |
Ja. Ich war bei ihm zu Besuch in Wyoming, und er wollte fischen gehen. Nun | |
bin ich kein leidenschaftlicher Angler und habe auch nichts gefangen. Aber | |
er zog auch nur drei kleine Fische aus dem Wasser und warf sie gleich | |
wieder in den See. Die Stiefel sollte ich dann behalten. | |
Was versetzte der Sowjetunion Ende der 1980er den Todesstoß? Spielten die | |
Pläne des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, mit einem SDI-Programm | |
die Systemkonkurrenz auf den Weltraum auszuweiten, eine Rolle? | |
Anfangs zweifelten unsere Wissenschaftler an der Machbarkeit eines kosmisch | |
gestützten Systems. Dann sollte es plötzlich aber doch möglich sein. | |
Voraussetzung war allerdings, dass die Wirtschaft dafür die Grundlagen | |
lieferte. Wir hätten dann für den Bau zwanzig Jahre gebraucht. Die USA | |
hingegen nur zwölf Jahre. Gorbatschow und ich versuchten daraufhin, in die | |
schwierigen Beziehungen zu den USA etwas Entspannung hineinzubringen. | |
Reagan hasste die Sowjetunion. Das erste Treffen mit ihm war auch sehr | |
schwierig. Danach wurde es einfacher. Er war ein begnadeter | |
Anekdotenerzähler. Siebenmal sind wir einander begegnet, und kein einziges | |
Mal hat er denselben Witz erzählt. Als ich an der Reihe war, gab ich auch | |
mal einen zum Besten: "Gott trifft auf Reagan und fragt ihn: ,Wie geht's?' | |
Reagan: ,5 Millionen Arbeitsplätze habe ich geschaffen.' Dann fragt Gott | |
Gorbatschow: ,Wie läuft die Perestroika bei dir?' ,Dem Volk geht es schon | |
besser', sagt der. Schließlich ist Margaret Thatcher an der Reihe: ,Na, | |
meine Tochter, und wie sieht es bei dir aus?' Thatcher: ,Also, erstens bin | |
ich nicht deine Tochter, und zweitens sitzt du auf meinem Platz.' " Aber | |
Spaß beiseite: Ein entscheidender Grund, der den Zerfall am Ende | |
beschleunigte, war das zerrüttete Verhältnis zwischen Gorbatschow und dem | |
späteren russischen Präsidenten Boris Jelzin. | |
Konnten Sie sich das Ende der UdSSR vorstellen, als Sie Außenminister | |
wurden? | |
Ich wollte den Posten nicht, weil ich keine Ahnung von Diplomatie hatte. | |
Gorbatschow bestand darauf, er brauchte einen Politiker, der den Wandel - | |
die Perestroika - vertreten konnte. Ich dachte: Würde mir, einem Georgier, | |
in der Welt nach Stalin noch jemand vertrauen? Jede Entscheidung würde doch | |
in Zweifel gezogen. Auch die Russen, fürchtete ich, könnten mir | |
unterstellen, dass mir Russlands Schicksal egal sei. Ich stimmte dann doch | |
zu. Als Angehöriger einer nationalen Minderheit war ich vielleicht etwas | |
kritischer und sensibler gegenüber dem, was im Land vor sich ging. Dass das | |
Imperium eines Tages auseinanderbrechen würde, war mir bewusst. Nur dachte | |
ich, in zehn, zwölf Jahren vielleicht. Da sollte ich mich gewaltig | |
täuschen. Ganz vier Jahre dauerte es noch. | |
Haben Sie noch Kontakt zu Michail Gorbatschow? | |
In den vergangenen Jahren nur selten. | |
Können Sie es Gorbatschow verzeihen, dass er allein den Friedensnobelpreis | |
erhielt? | |
Ich war nicht eingeschnappt. Hätte Gorbatschow es nur gewollt, wären wir | |
beide ausgezeichnet worden. Nicht der erste Nobelpreis wäre an zwei | |
vergeben worden. Aber nein, beleidigt bin ich nicht. Ich habe so viele | |
Auszeichnungen erhalten, allein in den USA sieben Ehrendoktorwürden, | |
darunter die von Yale. | |
… es reicht … | |
Es reicht … wirklich. | |
9 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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