# taz.de -- Sommernachlese: Der Spinnenhirt | |
> Ein Ferienhaus auf Korfu, der Vermieter ein Antikonsumist. Und auch das | |
> Meer ist nicht so nah wie versprochen | |
Bild: Freilaufende und krähende Hähne auf Korfu | |
Da setzt einer eine Anzeige in die tageszeitung: "Sonniges Steinhaus zu | |
vermieten, 35 Euro pro Woche, ruhiger, inspirierender Ort auf Korfu, schön | |
für Künstler." Niemand hat sich auf die Anzeige gemeldet. Alle haben wohl | |
gedacht: Ein Ferienhaus, das 35 Euro die Woche kostet, kann nichts taugen. | |
Ich rufe in Korfu an. | |
Kostas spricht gut Deutsch, hat in Deutschland Psychologie studiert. Nein, | |
35 EuroproWoche sei kein Druckfehler. Das Haus inmitten eines Bergdorfes, | |
mit Blick auf Olivenwälder und ganz in der Nähe das Meer. Einfach sei es, | |
das schon. Aber es sei ja auch nicht sehr teuer. Nein, sage ich, teuer sei | |
es weiß Gott nicht. Ob es Strom und Wasser habe, eventuell gar ein Bad, | |
eine Dusche, ein Klo? Kostas ist beleidigt: zwei Bäder, eine Dusche, eine | |
Badewanne, drei Schlafräume, eine große Küche, ein Garten, eine Terrasse | |
mit Weitblick, über all das verfüge das Haus. Und als kurz darauf mein | |
Faxgerät seine akribische, mit vielen Erklärungen gespickte Handzeichnung | |
auswirft, traue ich meinen Augen nicht: Es ist nicht ein, es sind zwei | |
Häuser, die er anbietet. Die Betten seien bezogen, die Bezüge gewaschen. | |
Allerdings benutze er kein Waschmittel. Die Toilettenspülung sei defekt. | |
Ohnehin sei es ökologischer, mit Abwasser die Toilette zu spülen. Er | |
brauche auch nicht den stromfressenden Wasserboiler. Erfrischender sei das | |
von der Sonne gewärmte Wasser. Er, Kostas, sei Antikonsumist und wünsche | |
einen guten Aufenthalt. Der Antikonsumist irritiert meine Tochter. Und doch | |
lassen wir uns ein. | |
Millionen Pauschaltouristen folgen Kaiserin Sisi und Wilhelm II. an die | |
berühmten Strände Korfus. Wir aber schrauben uns in die Berge, fahren über | |
kurvige, enge Straßen durch silbern schimmernde Oliven. Grün, wie kann eine | |
Insel unter der sengenden Sonne so grün sein? Dann, an den Hang eines | |
Berges gepresst, das Dorf. Weißer Stein, verwinkelte Häuschen mit kleinen, | |
bunt geschminkten Fensteraugen, mit verblichenen Dachziegeln auf dem Kopf, | |
herausragend der viereckige Kirchturm, und es geht unerhört steil aufwärts. | |
Am Ortseingang ein Verkehrsschild, das Hupen verbietet. Eine Haarnadelkurve | |
und aus allen Rohren dröhnt‘s: In den Gassen ein mächtiger Auftrieb, jeder | |
hupt, denn selbst die Hauptstraße hat nicht die Breite, zwei Fahrzeuge | |
aneinander vorbeizulassen. Der Verkehr stockt. Alles ist blockiert. | |
Inmitten von Lärm und Gestank sitzen zu beiden Seiten die Männer des | |
Dorfes, rauchen, trinken Kaffee und palavern. Einer mit strengem Blick | |
erhebt sich und gebietet sämtlichen Fahrzeugen einer Richtung, gleichzeitig | |
zurückzusetzen, bis eine Durchfahrt frei wird und erst die eine, dann die | |
andere Kolonne weiterfahren kann. Der Mann zündet sich eine weitere Kippe | |
an und kehrt an seinen Tisch zurück. Ich rangiere den Wagen Zentimeter für | |
Zentimeter vorwärts, bis nur noch ein Finger an jeder Seite zwischen Wagen | |
und Mauer passt. Neben dem Abstellplatz sitzen zwei schwarz verhüllte | |
Frauen. Ich frage auf Englisch, ob ich hier parken darf. Sie starren mich | |
aus ihren kleinen Augen an, mehr Krähen als Frauen, und wir eilen schwer | |
bepackt los, folgen Kostas’ Wegbeschreibung. Immer steiler wird es, und | |
alle sind auf der Straße, die Kinder, die Männer, die Frauen, die Alten, | |
die Krähen. Und so viele Blonde, Blauäugige. Aus kleinen Läden rufen uns | |
Händler ihr "Jassas!" zu, und ich denke, Jesses! Ein Alter mit einer dicken | |
Brille liegt ausgestreckt auf dem Boden, grüßt alle Vorbeikommenden. | |
Diogenes auf Korfu! | |
Wir finden das Haus nicht, meine Tochter rollt mit den Augen. Wir holen | |
einen Ladenbesitzer aus seiner Bude zwischen flimmerndem Fernseher, | |
Konservendosen und Waschmittel heraus. "Kostas", sagt er, und schreitet | |
voran, den Berg hinauf. Das Tor, in das unser Schlüssel passt, ist in | |
keiner Weise orange, so wie Kostas geschrieben hat. Es ist weiß, einfach | |
weiß. Hat Kostas vielleicht eine andere Wahrnehmung? Dieser Eindruck | |
verdichtet sich, als wir die Küche betreten. Die abgestandene Luft, die | |
allgegenwärtigen Spinnweben, die wahllos mit Kunstdrucken zugehängten | |
Wände, der schmutzige Herd, die mit Drähten geflickten Stühle, und jede | |
Ecke, jeder Winkel vollgestellt. Vor allem mit Büchern. Der zweite größere | |
Raum ist unverputzt, ein Abstellraumohne Fenster. Heerscharen Mücken haben | |
nur auf uns gewartet. | |
Meine Tochter flüchtet in den ersten Stock. Die Zimmer dort sind winzig | |
klein. Die Bilder an den spinnwebüberzogenen Wänden sehr persönlich, | |
Porträts und Leitsprüche: "Selbstachtung ist ein Geschenk, das nur du dir | |
selbst machen kannst!" Im Bad bricht Putz von den Wänden, Kacheln haben | |
sich gelöst. Die Badewanne hat als Farbmischbehältnis gedient. "Es hätte | |
mir zu denken geben sollen, dass Kostas ohne Waschmittel wäscht", sagt | |
meine Tochter. Ich sehe in ihr gefrustetes Gesicht. Sie spricht nicht mehr | |
mit mir. Mein Argument, dies sei ein Ferienhaus für 5 Euro pro Tag, und | |
genau in diesem Zustand sei es auch, verfängt nicht, denn von ihr aus hätte | |
ich gerne ein Fünf-Sterne-Hotel mieten können. | |
Und während ich schönzureden versuche, relativiere, beschwichtige, zu | |
putzen beginne, rappelt es an der Tür. Eine grelle Stimme, ich öffne und | |
schon steht inmitten der Spinnenküche eine Alte von der Größe eines | |
Mädchens, mit der Stimme eines Mädchens. Sie spricht und lacht mit wenigen | |
Zähnen und scheint hier zu Hause zu sein. Die Alte spricht wie ein | |
Maschinengewehr. Ochi, nein, nichts verstanden. Da läuft sie raus und kommt | |
wiedermit zwei Säcken voller Tomaten und Gurken und Paprika undZwiebeln. | |
Efkaristo, sage ich, aber sie redet schon wieder, fragt etwas, und als ich | |
wieder den Kopf schüttele, läuft sie wieder losundholt noch einen Sack | |
Kartoffeln. Ich zücke das Portemonnaie. Jetzt sagt sie das erste Wort, das | |
ich verstehe: Ochi! Dann redet sie wieder, unterbricht für ein diabolisches | |
Lachen. Sie geht so plötzlich, wie sie kam. Auf dem Küchentisch, unter | |
einer Girlande getrockneter Apfelsinenschalen, die die Spinnen zu | |
kunstfertigen Vertäuungen genutzt haben, finden wir Pralinen und Wein und | |
einen Brief mit den besten Wünschen von Kostas. "Siehst du!", sage ich zu | |
meiner Tochter, aber sie sieht nur die Weben. Kostas hat uns aufgenommen. | |
An den Schränken steht "Handtücher", "Bettwäsche", "Schuhe". Kostas ist ein | |
Sammler. "Messie!", sagt meine Tochter. | |
Wir betreten den Garten, der mit Plastikflaschen, zerbrochenem Gerät, | |
demontierten Fahrrädern vollgestellt ist. Kostas hat uns Wasserflaschen | |
hingestellt, die jetzt warm sind für die erste Dusche. An alles hat er | |
gedacht, sage ich. Das Wasser allerdings hat Algen angesetzt und ich gebe | |
es den Pflanzen. Dann entdecke ich die marmorgeflieste Veranda. Kostas hat | |
ein eisernes Bettgestell aufgestellt, das auch diesem Ort den Charme einer | |
Abstellkammer verleiht, und doch weiß ich, dass er uns nur ein Bett unter | |
freiem Himmel anbieten will. Meine Tochter will umgehend abreisen. Ich | |
bestimme autoritär, dass wir bleiben. | |
Die Nächte hier sind schwül und mückendurchsirrt. Aus den Olivenwäldern | |
schallt das Gebell wilder Hunde. Die Morgen brechen rot über die Berge, | |
tönen in das kleine Fenster aus tausend Hahnenhälsen. Um 9 beginnt der | |
Lautsprecher zu knarren. Die Durchsagen so emphatisch, dass ich sie für | |
politische Agitation aus dem Büro der Kommunisten unten im Dorf halte. Auf | |
dem steilen Weg hinab in den Ort verzweigen sich die Wege immer weiter. | |
Viele leere, teils verfallende Häuser. Liegen Flaschen herum, weil das Haus | |
als Müllhalde dient, oder sammelt hier ein anderer Kostas Altglas? | |
Schuppen, bedeckt mit dem Blech plattgeklopfter Metallfässer, Bidonville am | |
Rande Europas. Autos parken inmitten der Olivenhaine, und erst von nahem | |
erkenne ich, dass sie Wracks sind oder Unterstellkammern oder | |
Ersatzteillager. Hier wird nichts weggeworfen oder alles fallen gelassen, | |
je nach Blickwinkel. Kostas ist nur ein Sohn seines Dorfes. Das Dorf der | |
Spinnenzüchter. | |
Ein Grieche, der ein wenig Deutsch spricht, erklärt, dass man das Dorf | |
Klein-Moskau nenne. Zur Zeit der Diktatur sei der Dorfpolizist entlassen | |
worden, weil er sich mit einer Tochter aus linkem Hause eingelassen habe. | |
Jetzt betreibe er die kleine Taverne. Ich frage ihn, wo er Deutsch gelernt | |
hat. In Wolfsburg, erklärt er. Er gehört zu der Generation, die vor 20 | |
Jahren in Stuttgart, in Köln, im Ruhrgebiet gearbeitet hat. Sie loben | |
Deutschland und sind froh, wieder zurück zu sein, in ihrem Dorf. | |
Die Erfahrung in Deutschland habe den Menschen entweder gut getan oder sie | |
zerstört, sagt Kostas, als er eines Tages plötzlich auftaucht. Wer | |
gewinnen, wer scheitern wird, konnte man schon sehen, als sie aufbrachen. | |
Er selbst ist klein, dünn, braungebrannt. Er hat Wassermelonen mitgebracht | |
und bittet uns, die Kerne für ihn zu sammeln. Auf Korfu züchtet der in | |
Deutschland promovierte Psychologe Feigen, Maulbeeren und Tomaten. Ob viele | |
Griechen mit deutschen Partnern ins Dorf zurückgekehrt seien, frage ich | |
ihn, denn all die Blonden erstaunen mich. Nein, das Blonde komme nicht aus | |
Deutschland. Varagulis sei ein weit verbreiteter Name im Dorf. Er leite | |
sich von "Varanger" ab, einer Gegend im äußersten Nordosten Norwegens. Von | |
dort kamen die Wikinger, die im Solde Byzanz’ vor 1.000 Jahren Korfu gegen | |
die Angreifer verteidigten. Siehst du, sage ich zu meiner Tochter, das sind | |
alles Germanen wie wir. Sie verdreht die Augen. Meine Tochter will an den | |
Strand und braun werden. | |
Auch das Meer ist nicht so nah, wie Kostas versprochen hat. Eine halbe | |
Stunde Fußweg durch Olivenwald. Meine Tochter stöhnt. Aber dann tun sich | |
plötzlich leere Buchten auf. Und ein Wasser, klar bis auf den Grund. Dies | |
die erste echte Entschädigung für sie, die nicht interessiert, ob die | |
Schrotthaufen von Wikingern oder Griechen stammen. Die Spinnen sind ihr | |
Bedrohung, und das Meer ist ihre Zuflucht. Wir steigen hinab, treiben | |
wunderbar leicht zwischen dem urwüchsigen Farn, den der Wind kräuselt, der | |
Strömungswind. Die Luft, die wir nicht atmen können, erfüllt von bunten | |
Vögeln, und wie eine Wolke Insekten glitzern die Fischschwärme. | |
11 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Andreas Kirchgässner | |
## TAGS | |
Reiseland Griechenland | |
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