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# taz.de -- die wahrheit: Der Engelskasten
> Aufregende Abenteuer in der Gemeinde Nottuln
Am 14. November des Jahres 2003 geschah es, dass die am ganzen Körper dicht
behaarten Bürger des kleinen, verschlafenen Dörfchens Nottuln durch eine
völlig unfassbare Begebenheit aus ihrem westfälischen Alltag gerissen
wurden. Der Alltag der Nottulner besteht seit jeher darin, sich schon vor
dem Aufstehen das ortsübliche Fußpils - ein für nicht Ortsansässige etwas
gewöhnungsbedürftiges Gebräu aus dem, was sich die Nottulner einmal im Jahr
von den Fußsohlen schaben, und der Plörre aus dem Dorfrinnstein - sich
dieses Fußpils also schon vor dem Aufstehen gleich hektoliterweise in die
quadratischen Stumpfköpfe zu gießen und nach dem Aufstehen in der örtlichen
Schenke dem Dorfgötzen zu huldigen. Der Dorfgötze ist ein alter
Kartoffelsack, der angeblich vor vielen Jahrzehnten einmal aus dem
benachbarten Havixbeck geliefert wurde und daher als weitgereister und
gebildeter Dörfler galt, dem zu huldigen den Nottulnern oberste Pflicht
war.
Doch an jenem besagten Novembertag des Jahres 2003 begab es sich, dass
wispernde Stimmen den Alltag der Nottulner aus den Fugen geraten ließen. An
diesem trüben und verregneten Nachmittag, während die Nottulner in der
Schenke bei mehreren grobgehauenen Krügen Fußpils missmutig vor sich hin
huldigten, geschah es, dass plötzlich aufgeregt der Bürgermeister Josef
Schalau in die Schenke stürmte und japsend, keuchend und stotternd keinen
vernünftigen Ton herausbrachte. Da dies aber der ganz normale Zustand des
Bürgermeisters Schalau war, schenkten die Dörfler ihm zuerst keinerlei
Aufmerksamkeit, bis Schalau immer wieder zur Tür, zurück zu den Dörflern
und wieder zur Tür rannte, gleich einem treuen Hund, der seinem Herrchen
etwas zeigen will. Da aber die Nottulner von Natur aus nicht die
begriffsfreudigsten Zeitgenossen sind, dauerte es eine ganze Weile, bis die
Dörfler ihrem Bürgermeister endlich auf die Hauptstraße folgten, die für
normale Menschen eher als ein schlammiger Trampelpfad wahrgenommen werden
dürfte, wenn sich jemals ein Fremder in diesen gottverlassenen Ort verirren
würde, was aber noch niemals geschehen ist, sodass die Notullner allesamt
eng miteinander verwandt sind, was sich zuweilen auch in ihrem Äußeren
niederschlägt.
Nun standen also die Dörfler auf der Straße und hielten maulaffenfeil, denn
vor ihnen stand kein Geringerer als der Dorfweise Jupp Hoffschulte, der
seit dem Jahre des Herrn 1987 als verschollen gegolten hatte. Jupp
Hoffschulte hatte in jüngeren Jahren beinahe einmal einen Schulabschluss
geschafft und wurde daher bis zu seinem Verschwinden als ein Gelehrter
verehrt. Und nun stand er wieder hier und hielt einen Kasten in der Hand,
aus dem die Stimmen von Engeln wisperten, wie er den schreckensbleichen
Umstehenden erklärte. Diesen göttlichen Kasten habe er als großzügigen Lohn
für 16 Jahre im Dienste des Bürgermeisters von Havixbeck bekommen, dem er
seit seinem Aufbruch aus Nottuln tagtäglich die nackten, völlig unbehaarten
Füße habe massieren müssen.
Die Dorfbewohner gerieten in Angst, als sie von den unbehaarten Füßen des
Havixbecker Bürgermeisters hörten. Schnell entledigten sie alle sich ihrer
groben Gummistiefel, warfen diese hoch in die Luft, vergewisserten sich,
dass ihre eigenen hornigen Mauken noch voller Wolle waren, bevor die
Stiefel ihnen auf die klobigen Schädel knallten. Den wispernden Stimmen aus
dem Engelskasten zollten sie allerdings keinerlei weitere Beachtung, hatten
sie doch schon ihren Dorfgötzen, den alten Kartoffelsack, und somit an
Spiritualität mehr als genug.
Der Dorfpfarrer Huber jedoch erhob warnend die Hand: Ebenso gut wie Engel,
könnten aus dem wispernden Kasten auch Dämonen sprechen, alles sei eh
einerlei und das Gleiche, und man täte sicher gut daran, ein großes Feuer
zu entfachen und den angeblichen Engelskasten hineinzuwerfen. Bei dieser
schönen Gelegenheit, erklärte der Dorfpfarrer - und eine purpurne Röte, die
sicher nicht allein dem übermäßigen Genuss des Fußpilzes geschuldet war,
ergriff dabei seine pockige Nase -, bei dieser Gelegenheit also, könne man
doch auch Hühner bei lebendigem Leibe essen und mit zuckenden Gliedmaßen um
die Flammen tanzen, denn er glaubte, irgendwo gelesen zu haben, dass man
das bei Engelskastenverbrennungen halt so mache.
Die Nottulner walkten sich eine halbe Stunde lang ihre warzigen Kinne,
bevor sie ein spontanes Beifallsgegrunze hören ließen. Und alsbald sah man
sie zu ihren Hütten schlurfen, in denen sie in ihre kotigen Koben sanken
und schnarchend diesen aufregenden Tag ausklingen ließen.
Der Dorfpfarrer Huber aber, der jagte noch bis in die frühen Morgenstunden
Nottulner Hühner. Der Dorfweise Jupp Hoffschulte steht noch heute mit
seinem Transistorradio am Nottulner Marktplatz und wartet auf das große
Feuer.
13 Nov 2009
## AUTOREN
Corinna Stegemann
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