# taz.de -- Hurtigruten: Nächstes Mal bis Kirkenes | |
> Nur die Gänge mit den Kabinen sind für den Rollstuhl zu eng, ansonsten | |
> ist das Schiff weitgehend barrierefrei. Eine Seereise entlang der | |
> norwegischen Küste auf der Postschiffroute ohne stressige Animation | |
Bild: Mit dem Postschiff durch den Fjord | |
Am Anfang war viel Angst. Angst vor dem ersten Flug nach der schweren | |
Gehirnoperation vor eineinhalb Jahren. Und Angst vor Überforderung, denn es | |
ist das erste Mal, dass sich Gisela Bosse mit ihrem Rollstuhl auf eine | |
mehrtägige Auslansdreise begibt. Als die "M/S Nordkapp" aber eine | |
Tagesreise nach dem Start in der norwegischen Hansestadt Bergen die letzte | |
Kurve nimmt und in den malerischen 15 Kilometer langen Geirangerfjord | |
einläuft, sind die Befürchtungen verflogen, ist die Anspannung vorbei. | |
Gisela Bosse sitzt in ihrem Daunenmantel eingehüllt mit ihrem Rollstuhl auf | |
dem Aussichtsdeck des Postschiffs. Die Sonne scheint ihr ins Gesicht. | |
Gemächlich zieht die imposante Landschaft des seit Juli 2005 zum | |
Unesco-Weltnaturerbe zählenden wohl bekanntesten Fjords Norwegens an ihr | |
vorbei. Der Himmel ist strahlend blau. Es herrscht ein für Mitte September | |
außerordentlich gutes Wetter. Die Fahrt führt durch engste Schluchten. | |
Gelegentlich sieht man in der spärlich besiedelten Uferlandschaft einen | |
zwischenzeitlich aufgegebenen Bauernhof oder eine einsame Sommerhütte, alle | |
wie an den Berg geklebt und nur über steile Pfade oder Leitern zu | |
erreichen. Die "M/S Nordkapp" passiert einen gewaltigen aufragenden | |
Felshang, über den zahlreiche Wasserfälle in das Trogtal stürzen, genannt | |
die "sieben Schwestern". Dann endet der Fjord in einem Talkessel aus einem | |
türkisfarbenen See, eingerahmt von grünen Wald- und Wiesengürteln, die in | |
mehr als tausend Meter hohe Felsmassive übergehen, auf denen auch im Sommer | |
noch der Schnee liegt. "Die Landschaft ist so schön, dass es innerlich | |
schmerzt", hat Norwegens Schauspielerin und Regisseurin Liv Ulmann 1978 in | |
ihrem Buch "Wandlungen" geschrieben. | |
Einen vollen Tag dauert der Ausflug von der Küstenstadt Ålesund durch das | |
weit verzweigte Fjordsystem ins Landesinnere nach Geiranger und zurück. Ein | |
Tag der Erholung für die gelernte Werkzeugmacherin Gisela Bosse. Die | |
Anreise aus Berlin mit Umsteigen in Frankfurt am Main am Tag zuvor war | |
nicht nur anstrengend, sie war für die Frau im Rollstuhl vor allem Neuland. | |
Seit ihrer Krebsoperation im Frühjahr 2008 ist die 51-Jährige im Alltag auf | |
professionelle Hilfe angewiesen, und sie hasst das. Am Morgen zum Aufstehen | |
kommen die Mitarbeiter eines ambulanten Dienstes, im Tagesablauf wechseln | |
sich Ergotherapie, Krankengymnastik und Lymphdrainage ab, an den meisten | |
Abenden bringen Bekannte Gisela Bosse ins Bett. Verträgt sich das mit einer | |
insgesamt einwöchigen Reise, zumal wenn es an Bord des Postschiffs keine | |
medizinische Einrichtung gibt? | |
Für eine möglichst unkomplizierte An- und Abreise hatten Gisela Bosse und | |
ihr Begleiter eine Fahrt mit der "M/S Nordkapp" von Bergen nach Trondheim | |
und eine Rückfahrt nach Bergen mit dem baugleichen Schwesterschiff "M/S | |
Nordlys" geplant. Beide Dampfer begegnen sich am Vormittag am | |
Hurtigruten-Kai in Trondheim. Das Umsteigen erweist sich einfacher als | |
gedacht. Mit dem Fahrstuhl geht es von Deck 3, auf dem neben dem | |
Empfangsschalter die behindertengerechten Kabinen sind, hinunter auf das | |
Fahrzeugdeck, von dort wird der Rollstuhl über die Rampe an Land geschoben. | |
Beide Schiffe sind weitgehend barrierefrei und verfügen über Aufzüge, mit | |
denen der Speisesaal, das Panoramadeck, das bordeigene Café oder die Bar zu | |
erreichen sind. Nur die Gänge auf den Decks mit den Passagierkabinen sind | |
für den Rollstuhl zu eng. Und weil die Schiffe im Laufe des Tages immer | |
mehrmals anlegen, ist auch die Frage einer medizinischen Versorgung nicht | |
wirklich kompliziert. Sollte es notwendig werden, funkt die Besatzung den | |
Arzt an Land an, der dann bei der Einfahrt in den Hafen bereitsteht. | |
Als "Die schönste Seereise der Welt" wirbt die altehrwürdige | |
Hurtigruten-Linie für die rund 2.900 Kilometer lange Fahrt zwischen dem | |
südlichen Bergen und Kirkenes im Nordosten in der Barentssee. Eine der | |
schönsten ist sie mit Sicherheit, und anders als auf den meisten | |
Kreuzfahrtschiffen gibt es keine nervigen Animateure. Events sind hier auf | |
die vorbeigleitende Natur beschränkt. Selbst die beiden Hotwhirlpools auf | |
Deck 5 im Freien werden von den Passagieren meist gemieden. | |
Ohne Begleitung geht wenig: Um auf das Panoramadeck zu gelangen, muss man | |
die massiven Türen aufstemmen, die bei schweren Seegang verriegelt werden | |
können. Vom Rollstuhl aus lässt sich das Schloss nicht öffnen. Gisela Bosse | |
probiert es wiederholt vergeblich. Lästig ist das schon, wenn auch meist | |
eine helfende Hand zur Stelle ist. Überhaupt, die Frau im Rollstuhl wird | |
vom Personal und von den Mitreisenden ausgesprochen zuvorkommend behandelt | |
- sei es am Buffet im Speisesaal, vor dem Kaffeeautomaten oder im | |
bordeigenen Souvenirshop. | |
Seit am 2. Juli 1893 das erste Postschiff von Bergen in Richtung Hammerfest | |
in See stach, ist in puncto Komfort einiges investiert worden, die Seefahrt | |
ist heutzutage geradezu luxuriös. Vieles von der ursprünglichen Atmosphäre | |
der Hurtigruten ist jedoch erhalten geblieben. Stand lange Zeit der | |
Transport von Post und anderen Waren in den auf dem Landweg nur schwer | |
zugänglichen Norden im Vordergrund, so sind die Hurtigruten heute eine | |
Mischung aus erholsamer Seereise und alltäglichem Transportmittel für die | |
Küstenbewohner. | |
Die Hauptattraktion an Bord ist die vorbeiziehende Natur - das gilt im | |
Sommer wie im Winter. Ob die Syv Søestre, die Bergformation der Sieben | |
Schwestern, oder der Torghatten, der Berg mit einem großen Loch in der Nähe | |
von Brønnøysund - um die Inseln und Berggipfel an der zerklüfteten | |
Fjordküste ranken sich Sagen. Eindrucksvoll ist auch die Fahrt zu den steil | |
aus dem Meer herausragenden Inseln der Lofoten. | |
Die Lofoten bekommt Gisela Bosse dieses Mal nicht zu Gesicht - die | |
Inselgruppe liegt mehrere Tagesetappen nördlich von Trondheim. Je weiter es | |
nach Norden geht, desto kürzer wird im Herbst das Tageslicht. Nördlich des | |
Polarkreises auf der Höhe der Stadt Bodø weicht das Tageslicht in den | |
Wintermonaten einer wenig Stunden dauernden Dämmerung. Dann wird es an Bord | |
der Hurtigruten-Schiffe beschaulich. Die Auslastung der Schiffe ist gering, | |
man befindet sich unter Gleichgesinnten, unter Reisenden, die das | |
Naturschauspiel schätzen und genießen. Und dank des Golfstroms wird es auch | |
an Deck nicht so kalt, wie man vermuten würde. | |
Wenn die Landwege unpassierbar werden, wird den Passagieren die Bedeutung | |
der Hurtigruten für die Küstenbevölkerung deutlich. Ihre Funktion als | |
Postschiffe haben die Boote der Hurtigruten zwar in den vergangenen 15 | |
Jahren weitgehend verloren. Die Post erreicht den Norden weitaus schneller | |
per Flugzeug - nur im Winter, wenn die Straße zugeschneit und die Flugzeuge | |
wegen schlechten Wetters Startverbot haben, werden die schwimmenden | |
Luxushotels wieder zum Postdampfer. | |
Auf dem Weg zurück von Trondheim nach Bergen wird die See rauer. Die Wolken | |
hängen tief, es beginnt zu regnen. Typisches Herbstwetter. Auf dem | |
Panoramadeck verharren einige wenige in Decken gehüllt auf ihren | |
Liegestühlen. Gisela Bosse wird es zu kalt, es ist Zeit für einen Kaffee | |
auf Deck 5 in der Cafeteria. Über Kristiansund, Molde und Ålesund führen | |
die beiden letzten Tagesetappen zurück nach Bergen. Hinter großen Fenstern | |
zieht schließlich der Leuchtturm Holmengrå vorbei, das Schiff passiert den | |
westlichsten Punkt seiner Reise. Die "M/S Polarlys" fährt durch die | |
Øygraden genannte Küstenlinie, deren unzählige Schären sich der Wucht des | |
offenen Meeres entgegenstemmen und so die Küste beschützen. | |
Ob sie die Reise bereue, ob sie zu anstrengend war? Auf keinen Fall, sagt | |
Gisela Bosse. Jetzt, wo die meisten ihrer Bedenken vor Reisebeginn | |
zerstreut sind, würde sie das Programm allerdings ändern: Kein Umsteigen in | |
Trondheim. Stattdessen weiter zu den Inseln der Lofoten und vielleicht | |
sogar bis Kirkenes. | |
21 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Wolfgang Gast | |
## TAGS | |
Reiseland Norwegen | |
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