# taz.de -- Botho Strauß und Rainald Goetz: Vom Nachtwind zugewehte Türen | |
> Der Schriftsteller als Mönch und Melancholiker: Zur neuen Ähnlichkeit der | |
> Schreibansätze von Botho Strauß und Rainald Goetz. | |
Bild: Aus kosmischer Sicht ist unser Sonnensystem ein Fliegenschiss. | |
Aus kosmischer Sicht ist unser Sonnensystem ein Fliegenschiss. Hinweise auf | |
die Menschheitsgeschichte lassen sich nur mit gigantischen | |
Inter-Äonen-Mikroskopen entdecken. Einzelwesen in ihrer individuellen | |
Grundausstattung spielen keine Rolle. Statistik, Staaten, Städtebau: alles | |
nur periphere Erscheinung. Der Mensch ist eine flüchtige Vorkommensweise | |
auf Proteinbasis; das Universum wird sein Verschwinden so wenig | |
registrieren wie seine Existenz. | |
Eine solche fatalistische Sicht auf das Leben hat den Vorzug, beruhigend zu | |
wirken. Jede Aufgeregtheit ist damit nur noch lächerlich. | |
Liebesbedürfnisse, Berufskarrieren, Siege und Niederlagen rufen allenfalls | |
mildes Erstaunen hervor. Die Bücher von Botho Strauß entfalten so eine | |
Wirkung, blickt er doch aus größtmöglicher Distanz auf die Gegenwart. Seit | |
Jahren lebt er zurückgezogen in der Uckermark, so weit am Rand, wie es in | |
Deutschland nur geht. Wenn er nur könnte, würde er ganz aus Raum und Zeit | |
emigrieren, um den Zumutungen der Geschichte zu entkommen. Sein neues Buch | |
"Vom Aufenthalt" (Hanser Verlag) besteht aus Aphorismen, | |
Beobachtungssplittern, Zitaten, Skizzen, Reflexionen und ein paar kurzen | |
Szenenentwürfen. Da beweist er, wie gut er erzählen könnte, wenn er wollte. | |
Doch sein Ideal ist keine erzählerische Prosa, keine Geschichte mit Anfang | |
und Ende, sondern "reine Gegenstandlosigkeit, freie themenlose Szenerie, | |
entgrenzte Impression". Dagegen stehen jedoch Publikum, Markt, Politik und | |
andere Zudringlichkeiten der Zeit, die Teilnahme und Engagement verlangen. | |
Strauß würde gerne schweigen, doch dann wäre er kein Dichter mehr. Also | |
erklärt er das Schreiben zu einer höheren Form des Schweigens und sein Buch | |
zur Chance, "mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, ohne mit ihnen | |
kommunizieren zu müssen". Das klingt für Anhänger der | |
Kommunikationsgesellschaft arrogant. "Kommunikation" ist für Strauß so | |
etwas Ähnliches wie die Pest. Und er hat ja recht: Wenn ein Handy-Anbieter | |
mit dem Spruch "Quatschen ohne Ende" für seine Flatrate wirbt, ist es | |
höchste Zeit, sich dem Nirwana zuzuwenden. | |
Das Lesen von Strauß-Büchern ist weniger ein Akt des Verstehens und | |
Dechiffrierens als so etwas wie Versenkung und Kontemplation. Ihr Tonfall | |
ist der eines geheimnisvollen Raunens, oder, wie Strauß das ausdrückt: | |
"Sprache soll man verdunkeln wie einst die Häuser unter Luftangriff." So, | |
wie er Trakl-Gedichte rühmt, so würde er auch die eigenen Notate gerne | |
betrachtet wissen: "Jede Zeile eine lautlos sich schließende, vom Nachtwind | |
zugewehte Tür." Solche Sätze kann man je nach Geneigtheit, Stimmung, | |
Perspektive schön oder kitschig finden, tiefsinnig oder auch nur hohl. | |
Rainald Goetz - ein Autor, der in seiner Grundhaltung der Welt gegenüber | |
wohl das Gegenteil von Botho Strauß verkörpert - bezeichnet sie streng als | |
"Kitschreaktionärheiten". | |
Dass andererseits Botho Strauß einen wie Rainald Goetz, der sich in der | |
doch heftig zu verachtenden "Blogosphäre" und in absoluter Gegenwärtigkeit | |
tummelt, überhaupt zur Kenntnis nimmt, ist eher unwahrscheinlich. Das | |
Internet ist für Strauß ein All, das "von jedermanns erbrochenem Alltag" | |
erfüllt ist: "Das Logbuch einer weltweiten Mitteilungsinkontinenz macht | |
alle Bücher gleich." Das träfe auf Goetz zuerst im Internet publizierte | |
Tagebücher "Abfall für alle" und "Klage" ebenso zu wie auf sein jüngstes | |
Buch, das den für Botho Strauß mit Sicherheit schmerzhaften Titel | |
"Loslabern" (Suhrkamp Verlag) trägt. | |
Für Goetz ist der Alltag alles. Er stenografiert das Geschehen mit und | |
versucht (vergeblich), auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Strauß behauptet | |
dagegen: "Den Alltag habe ich nie gekannt. Der Alltag erwartet uns am Ende | |
der Zeiten." Was auch immer er damit meint. | |
Doch vielleicht ist Goetz programmatisches "Gelaber" nur eine andere Form, | |
dem allgegenwärtigen Oberflächengequatsche zu entkommen. Wo für Strauß das | |
Schweigen Rettung verspricht, weicht Goetz in ein artistisches | |
Hochgeschwindigkeitsschreiben aus: Loslabern als "ethischer Akt". Wo Strauß | |
in seinem "Immediatbüchlein" das Transzendente sucht, stürzt Goetz sich | |
unmittelbar hinein in den Betrieb. Der explosive Herbst 2008 ist dafür | |
besonders geeignet. Es ist die Zeit der Lehman-Pleite und der abstürzenden | |
Börse, von Uwe Tellkamps Roman "Der Turm", dem Unfalltod Jörg Haiders und | |
dem Rücktritt von Kurt Beck am Schwielowsee. Das ist viel Stoff für einen, | |
der dem Irrsinn beharrlich auf der Spur bleibt - ob im Getümmel der | |
Frankfurter Buchmesse oder auf beim Herbstempfang der FAZ in Berlin. | |
"Mittendrin statt nur dabei": Der Slogan eines Sport-Senders wird bei Goetz | |
zu einer wahrhaft kulturkritischen Lebenshaltung. Wer nicht eintaucht ins | |
Chaos, begreift es nicht. Wo Strauß sich nach Stillstand sehnt, nach Ruhe, | |
Beharren, "Aufenthalt", beschleunigt Goetz noch einmal und steigert sich in | |
ein rauschhaftes Sprechen hinein. Gleichwohl bleibt er ein Fremder in | |
dieser merkwürdigen Welt, die er im Kapuzenpullover und ausgerüstet mit | |
Schreibblock und Fotoapparat durchwandert hat - nicht so fern der | |
mönchischen Gestalt, die Botho Strauß auf den Feldern der Uckermark abgibt. | |
Ziel und Resultat sind merkwürdigerweise bei beiden identisch: die heftige, | |
affektive Abwehr der Gesellschaft in ihrem gegenwärtigen Zustand und der | |
Versuch, sie hinter sich zu lassen. Goetz will sie vorwärts überholen, will | |
das Neueste entdecken und erproben. Strauß hält sich dagegen lieber an "das | |
Vertraute", das dem "jeweils Neuen", und an "das Eigene", das dem "Terror | |
des öffentlich gewordenen Privaten" vorzuziehen sei. Dass er, anders als | |
Goetz, an der alten Rechtschreibung festhält, ist durchaus als Statement zu | |
werten. | |
Spätestens seit dem heftig debattierten "Bocksgesang" aus dem Jahr 1993 | |
haben wir uns angewöhnt, Strauß für einen Rechten zu halten. Und | |
High-Speed-Goetz ist irgendwie links. Dabei sind solche Platzanweisungen | |
für exterritoriale Dichter nicht besonders sinnvoll. Der Unterschied ist | |
eher einer des Jargons und der Performance. Was Goetz beim FAZ-Empfang über | |
ein paar Banker notiert, könnte, etwas blasierter formuliert, auch von | |
Strauß stammen: "Jeder hat ja manchmal paar dieser Trottel irgendwo, | |
natürlich auch im Nachtleben, erlebt und sich nur wundern können, über den | |
Abgrund an Stumpfsinn in Hirnen von Tieren, die äußerlich wie Menschen | |
ausschauten. Im Handelsraum, im sogenannten Handelsraum also ging es | |
natürlich rau zu, sie machten grobe, ordinäre Scherze untereinander, | |
Infantilität und Männerschwachsinn, Heterosexualitätsgrobianismus waren in | |
der dortigen Männerwelt trumpf, Dumpftrumpf, sticht, peng, zack, Deal, | |
wieder paar Millionen, bla bla …" | |
Das ist wahrlich nicht weit entfernt von Strauß Tiraden gegen "Hooligans, | |
Sextouristen, ins Handy bramarbasierende Makler und traurige Ritter | |
sozialer Vorteilsbeschaffung" oder gegen die säkulare Kirche: "Eine | |
protestantische Predigt, das ist in den meisten Fällen, als spräche ein | |
Materialprüfer vom TÜV über den Heiligen Gral." Wenn man das | |
Heiligkeitsbedürfnis abzieht, könnte das durchaus von Goetz sein. Ein | |
gewisser Hang ins Religiöse ist auch bei ihm unverkennbar. | |
Da gehen sie also, in ihrer mönchischen Melancholie, über Äcker und durch | |
dunkle Schluchten, und lassen eine Welt hinter sich, die nichts als dummen | |
Fortschritt kennt. Strauß möchte aus der linearen Zeit heraus. Kein Anfang, | |
kein Ende, keine Geschichte. Er stellt sich die Zeit lieber partikular vor, | |
wie Körperzellen, "die Energie aufnehmen von der Umgebung, sie für ihr | |
System nutzen und in gewandelter Form wieder abgeben an ihre Umgebung. Zeit | |
also jenseits von Zeitpfeil und Entropie, jedoch dem Fließgleichgewicht der | |
Erde, der Zelle und der Seele verwandt." Zeit ist für ihn etwas | |
Pulsierendes, das sich in Intervallen äußert, "in Schüben von Dauer, welche | |
sich plötzlich offenbaren". | |
So gedacht wird aber auch das Schreiben zum Problem, weil es linear sein | |
muss und jede Zeile, Wort für Wort, dem nächsten Punkt entgegenstrebt in | |
"grausamem Zwangsverlauf". Wer schreibt, buchstabiert die Zeit. So bliebe | |
Strauß in letzter Konsequenz tatsächlich nur das Verstummen - oder er | |
müsste das Metier wechseln und zum Landschaftsmaler werden, der seine | |
Bilder übereinander schichtet wie die Jahreszeiten. | |
Da kommt dann auch wieder Rainald Goetz ins Spiel, der am Ende seines | |
Buches über eine Ausstellungseröffnung des Malers Albert Oehlen schreibt: | |
"Eine nichtgegenständliche Schriftstellerei, die diesen Gemälden | |
entsprechen könnte, dachte ich, müsste sich mir auftun, das wäre es doch." | |
Da ist Goetz ganz dicht dran an dem, was Strauß "reine Gegenstandlosigkeit, | |
freie themenlose Szenerie, entgrenzte Impression" nennt. | |
Doch auch die Differenz wird an dieser Stelle deutlich. Kunst hat für Goetz | |
immer etwas mit Gesellschaftlichkeit zu tun. Sie ist für ihn - ja, benutzen | |
wir Strauß Schreckenswort: "Kommunikation". Es gibt kein Außerhalb, auch | |
wenn er sich danach sehnt, sondern immer beides: "Autonomie und | |
Gegenwartsgegebenheit in ähnlicher Totalität, Radikalität und doch auch | |
gesellschaftlicher Verantwortlichkeit, der die Bilder, indem sie Anlass der | |
hier versammelten Gesellschaft waren, sich ja auch noch stellten …" Ins | |
weltenferne, völlig losgelöste Schweigen kann einer, der loslabert, Botho | |
Strauß eben doch nicht folgen. | |
22 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Jörg Magenau | |
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