# taz.de -- die wahrheit: Der Umwelt zuliebe | |
> Mit vernebeltem Hirn die BVG sanieren – aufregende Abenteuer im | |
> Halbschlaf am Fahrscheinautomaten. | |
Seit vielen Jahren fahre ich mit schöner Regelmäßigkeit zu den | |
Filmfestspielen nach Berlin. Vor ein paar Tagen nun lagen die | |
Akkreditierungsunterlagen für die Berlinale 2010 in meiner Post. Zwar | |
findet die erst im kommenden Februar statt, aber seit dem Erreichen eines | |
gewissen Lebensalters zeigt meine Erfahrung, dass wir die Geschwindigkeit | |
unterschätzen, mit der Ereignisse, die in vermeintlich weiter Ferne liegen, | |
quasi über Nacht Wirklichkeit werden. Der Anblick der Anmeldeformulare | |
löste jedenfalls Erinnerungen an die gefühlte vier Wochen zurückliegenden | |
Festspiele aus, und wie das bei Erinnerungen so ist, gehen sie eine Weile | |
geradeaus und kommen dann vom Weg ab. Meine landeten in der S-Bahn irgendwo | |
zwischen Nordbahnhof und Potsdamer Platz. Aber dazu später. | |
Jeden Morgen um neun holt der Akkreditierte am zuständigen Schalter seine | |
Kinokarten ab, und wer zu spät kommt, den bestraft der Ticketgott. Um neun | |
Uhr morgens fühlt sich der Berlinalebesucher quasi in der Tiefschlafphase, | |
der Alkohol der vergangenen Nacht schwappt noch im Körper, der Schädel | |
pocht und sogar die bleierne Februargrütze draußen schmerzt in den Augen. | |
Wie immer schon verspätet und noch im Halbschlaf fummelt man Geld für den | |
Ticketautomaten aus dem Portemonnaie, Bahn fährt ein, Automat schluckt | |
bedächtig Münzen, im Hintergrund öffnen sich Zugtüren, Münzen werden | |
verweigert und fallen scheppernd durch, Menschen hasten vorbei, Münzen | |
werden fluchend aus dem Rückgabefach geklaubt und erneut eingeworfen, | |
Menschen - kauft denn hier keiner Fahrkarten? - springen in den Zug, | |
endlich Druckergeräusche, Türen schließen sich und Zug fährt ab - just in | |
dem Augenblick, an dem der Entwerter ins Ticket beißt. Es reicht. Da hilft | |
nur eine Dauerkarte. | |
Das Hirn ist vernebelt, das Angebot verwirrend. Tarifbereiche A, B, AB, ABC | |
… der reinste Alphabetisierungskurs. Daneben jede Menge | |
Produktbeschreibung. Wo zum Teufel ist die Brille? Egal welche, jede | |
Flatrate muss günstiger sein als jedes Mal ein Einzelfahrschein … Am besten | |
"Umweltkarte", danach fühlt man sich gleich irgendwie besser. Der | |
Automatenmund saugt Scheine ein und spuckt im Gegenzug ein Ticket aus. Im | |
Kino wird mit der fabelhaften Sparaktion geprahlt. Die Freundin will Fakten | |
sehen, stolz wird das Schnäppchen präsentiert. Schweigende Betrachtung des | |
unscheinbaren Stücks Papier, dann die ernüchternde Diagnose. "Du hast eine | |
7-Tage-Karte fürs Gesamtnetz gekauft. Inklusive Begleitung und Brandenburg. | |
Bist du sicher, dass das billiger ist?" Nicht nur das Augenlicht, auch | |
meine Rechenfähigkeit hat offenbar gelitten. | |
Später am Nachmittag in der S-Bahn zur Auffrischung vor dem abendlichen | |
Wettbewerbsfilm. Während der Fahrt unter Zuhilfenahme von Brille und | |
Handytaschenrechner eingehendes Studium meiner Umweltkarte … Ergebnis: Der | |
Profit, den ich der BVG verschafft habe, entspricht mehrfacher Strafzahlung | |
für unverbesserliches Schwarzfahren. Eine Stunde später premierenfein | |
aufgedonnert zurück in der S-Bahn, die Investition muss ja ausgeschöpft | |
werden. Vermutlich angezogen vom Duft meines frisch geduschten und | |
parfümierten Körpers macht ein streng riechender Mitreisender es sich an | |
meiner Seite gemütlich. Da, plötzlich: "Die Fahrscheine bitte." Wenigstens | |
darf ich zeigen, was ich habe! In den müffelnden Kleiderberg neben mir | |
kommt Leben. Unser Kontrolleur arbeitet sich durch die Fahrgäste, neben mir | |
wird leise gebetet oder geflucht oder beides. Ich halte meine | |
Luxus-Dauerkarte auf dem Schoß, mein Nachbar scharrt seufzend - "Det nu | |
ooch noch" - mit den dürftig beschuhten Füßen. Vor uns steht jetzt | |
breitbeinig die Autorität und fordert Beförderungsnachweise. Also dann. "Er | |
gehört zu mir", verkünde ich glockenhell. Mein Nachbar starrt mich dankbar | |
an, als sei ich Marianne Rosenberg persönlich. Der BVG-Mensch schaut von | |
einem zum anderen und gibt mir, ohne mit der Wimper zu zucken, meine Karte | |
zurück. Ich lächle freundlich, und während mein Nachbar mir auf dem Rest | |
der Fahrt seine Lebensgeschichte samt Hippiezeit in Benidorm, Scheidung, | |
Wohnungslosigkeit und Zukunftsplänen (Lebensabend in Benidorm) erzählt, | |
überlege ich, ob man nicht auch mal ins brandenburgische Umland … | |
Das Akkreditierungsformular ist in der Post. Im Februar dann Umweltkarte. | |
An Wochenenden kann man da, glaube ich, bis zu zwei Personen mitnehmen. | |
30 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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