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# taz.de -- Montagsinterview: "Es geht um die Frage, wer dazugehören darf"
> Als er in den 60ern in Neukölln zur Schule ging, war er der einzige Türke
> in der Klasse und wurde behandelt wie alle anderen. Heute ist Semih Kneip
> Sozialarbeiter und kämpft gegen die Stigmatisierung von MigrantInnen.
Bild: Wohnt in einer Kreuzberger Kirche: Semih Kneip
taz: Herr Kneip, sind Sie religiös?
Semih Kneip: Nee, eigentlich nicht. Warum?
Sie wohnen in Kreuzberg in einer Kirche.
Dafür muss man ja nicht religiös sein. Ich habe in dieser Kirche 1981 als
19-Jähriger in der Kinderarbeit ein Praktikum gemacht, daraus ergab sich
später eine Honorarstelle, berufsbegleitend habe ich dann dort eine
Erzieherausbildung gemacht. Über die langjährige Arbeitsbeziehung ist eine
Freundschaft zu dem damaligen Pfarrer entstanden. Als er vor 12 Jahren in
Rente ging, stand die Wohnung zur Vermietung. Seitdem wohnen meine Familie
und ich unterm Glockenturm.
Warum haben Sie sich für den Pädagogenberuf entschieden?
Bewusst die Entscheidung getroffen, dass ich Sozialarbeiter werden will,
habe ich nie. Ich bin da so reingerutscht, ich war mit 19 nicht anders als
die Jugendlichen heute auf der Suche. Ich hatte das Gymnasium kurz vor dem
Abitur abgebrochen, hatte auf Kreta eine Frau kennengelernt, mit der ich
nach Indien wollte. Was ich da ganz genau wollte, wusste ich eigentlich
auch nicht, was ich aber nicht wollte, wusste ich: Schule. Dass ich in den
pädagogischen Bereich, in den Helferbereich sozusagen, reingerutscht bin,
hat vielleicht etwas mit meiner Mutter zu tun: Sie war alleinerziehend, sie
war oft krank, als ich noch ein Kind war, und ich musste mich um sie
kümmern, sie pflegen. So habe ich schon früh gelernt zu helfen. Man könnte
auch sagen, Sozialarbeiter sind Konfliktmanager, und ich habe früh gelernt,
Konflikte, auch eigene, zu managen.
Ihre Mutter war als Alleinerziehende aus der Türkei nach Deutschland
gekommen?
Sie war 1959 in Ankara durch ihre Eltern zwangsverheiratet worden. Nach
vier Tagen Ehe hat sie sich aber von ihrem Mann getrennt, weil sie
eigentlich meinen Vater liebte. Den hat sie später geheiratet, und 1961 kam
ich zur Welt. Als ich 3 war, starb mein Vater. Meine Mutter ist 1966 nach
Deutschland gegangen, hat bei Siemens in Berlin gearbeitet, obwohl sie
ausgebildete Lehrerin war. Zehn Monate später hat sie mich hergeholt. Da
war ich 5.
Wie haben Sie das erlebt?
Ich glaube, als Abenteuer. Ich erinnere mich vor allem an viele
U-Bahn-Fahrten.
U-Bahn-Fahrten? Warum das?
Meine Mutter lebte in einem Wohnheim für türkische Arbeiterinnen. Als der
Hausmeister mitkriegte, dass dort ein Kind lebt, hat er uns vor die Tür
gesetzt. Wir sind dann eine Zeit lang immer bis 22 Uhr U-Bahn gefahren,
manchmal haben wir uns auch in Telefonzellen gestellt und so getan, als ob
wir telefonieren, damit uns keiner da rausschmeißt. Nachts hat meine Mutter
mich dann ins Heim geschmuggelt. Irgendwann ist die Fürsorge auf uns
aufmerksam geworden und hat uns in einem Heim in Schöneberg untergebracht,
wo türkische Paare lebten, die Kinder erwarteten.
Das war ja kein schöner Empfang. Hatten Sie kein Heimweh?
Nein. Ich war hier ja umgeben von lauter Frauen, die teils selber Kinder in
der Türkei zurückgelassen hatten. Sie haben ihre ganze Sehnsucht an mir
gestillt. Ich war immer wertvoll, überall, wo ich hinkam.
Dann wurden Sie mit sechs Jahren ganz ohne Deutschkenntnisse eingeschult?
Ich bin im August 1967 hergekommen und ein Jahr später eingeschult worden.
Deutsch hatte ich da schon ein bisschen gelernt. Ich war damals der einzige
Schüler türkischer Herkunft in meiner Klasse auf der Neuköllner
Karl-Weise-Grundschule.
Wo heute etwa 70 Prozent der Kinder aus Einwandererfamilien stammen.
In der fünften Klasse kam dann noch ein türkischstämmiger Junge, er hieß
Aydin, dazu. Wir wurden nicht anders behandelt als die deutschen Kinder und
haben uns auch nicht anders gefühlt. Migration, Integration waren damals ja
noch keine Wörter. Allen war irgendwie klar: Wir waren die Kinder der
Gastarbeiter, die ein paar Jahre mit unterrichtet werden. Und dann gehen
alle wieder in ihre Heimat zurück.
War das auch die Haltung Ihrer Mutter?
Also, was das Lernen betraf, da war sie immer ziemlich hinterher. Und in
Bezug auf die Rückkehr: Offiziell hat sie auch so geredet, ja, aber
insgeheim, glaube ich, hat sie nicht wirklich ernsthaft daran gedacht
zurückzukehren. Sie konnte hier als Alleinerziehende viel selbstständiger
leben, als das in der Türkei zum damaligen Zeitpunkt möglich gewesen wäre.
Und später hat sie ja auch wieder geheiratet, einen lieben deutschen Mann.
Dem Sie Ihren deutschen Nachnamen verdanken.
Ja, er hat mich adoptiert, weil ich so leichter deutscher Staatsbürger
werden konnte. Das war damals sehr schwierig. Man musste viele Papiere
ausfüllen, unter anderem Fragen beantworten wie die, wo man zwischen 1933
und 1945 gewesen war.
Nun haben Sie einen türkischen Vor- und einen deutschen Nachnamen und fast
Ihr ganzes Leben hier verbracht: Wie würden Sie sich nennen? Deutschtürke?
Turkodeutscher?
So können mich ja andere nennen. Ich bin Berliner.
Vor 40 Jahren waren Sie der einzige türkschstämmige Schüler Ihrer Klasse.
Heute gelten Schüler nichtdeutscher Herkunft, insbesondere arabisch- und
türkischstämmige, als die große Problemgruppe an Berliner Schulen. Was ist
passiert?
Zu meiner Schulzeit glaubten alle, Einwanderer wie Eingesessene, dass wir
eine Zeit lang hier bleiben und dann wieder gehen würden. Diese Idee, dass
wir Gäste sind, die man anständig behandelt, denen man was mitzugeben
versucht, das hat funktioniert. Es gab Berührung, es gab Ansprache. Das ist
heute anders. Es ist klar, dass die Einwanderer bleiben. In Folge dessen
hat sich auch verändert, wie sie wahrgenommen werden. Es werden sehr
schnell irgendwelche Gruppen zu Problemträgern erklärt, ob das nun
SchülerInnen nichtdeutscher Herkunft sind, deren Eltern also über
Migrationserfahrung verfügen, oder ob das die Eltern selbst sind, die mit
Begriffen wie bildungsfern als Problemgruppe beschrieben werden. Man muss
aber differenzierter hingucken, vorher mal tief durchatmen und sich Zeit
lassen, wenn man über diese Themen spricht. Das vermisse ich.
Dann gucken Sie doch jetzt mal differenzierter hin.
Wenn man das tut, erkennt man, dass Probleme immer in einer Interaktion
entstehen. Etwa wenn Lehrer auf Schüler oder Eltern und die umgekehrt auf
Lehrer mit wenig Verständnis füreinander zugehen. Ich bin nicht der
Meinung, dass man ganze Gruppen aufgrund ihrer kulturellen oder religiösen
Hintergründe zu Problemträgern erklären kann. Die Probleme entstehen in der
Schule selbst, in der Interaktion aller Beteiligten.
Bitte Beispiele.
Als Sozialarbeiter habe ich an Schulen, wo Lehrkräfte über Probleme wie
Gewalt unter den Schülern oder Desinteresse der Eltern klagten, Coachings
durchgeführt, an denen alle erwachsenen Beteiligten, also Lehrer- und
ErzieherInnen und Eltern, teilnehmen konnten. An einer Grundschule, wo zu
jedem dieser Treffen immer etwa sieben, acht ErzieherInnen, vier bis fünf
Lehrkräfte und fünf bis zehn Eltern kamen, kam bei jeder Sitzung von den
LehrerInnen die Klage, es seien zu wenig Eltern da. Dabei waren es immer
weniger Lehrkräfte als Eltern. Doch die Haltung der LehrerInnen dazu
änderte sich nicht. An anderen Schulen hieß es gleich: Wir dachten, Sie
kommen her und sagen uns, welche Schüler verhaltensgestört sind, und nehmen
die dann aus dem Unterricht raus, damit wir mit den anderen in Ruhe lernen
können. Das ist natürlich nicht die ausschließliche Haltung von Lehrern,
aber schon eine verbreitete. Da wird eine große Anpassung an die eigenen
Erwartungen vorausgesetzt.
Nach dem Motto: Wenn ihr schon hier bleibt, dann werdet wie wir?
Schule und Mehrheitsgesellschaft leben ja nicht in einem luftleeren Raum.
Es gibt unterschiedliche gesellschaftspolitische Einflüsse, die die
Migranten mal so und mal so darstellen. Es gibt Gesetzestexte und Erlasse,
die das Leben der Gesellschaft beeinflussen. Wenn beispielsweise der
Innensenator von Berlin verfügt, dass nichtdeutschen Jugendlichen, die ab
dem Alter von 16 Jahren einen eigenen Aufenthaltstitel erwerben müssen,
dieser verweigert werden kann, wenn sie 40 unentschuldigte Fehltage oder
mehr als zwei Fünfen auf dem Zeugnis haben, dann hat das einen Einfluss
darauf, wie sehr diese Kinder als gleichwertiger Teil dieser Gesellschaft
wahrgenommen werden, wie sehr sie sich auch selbst als solchen sehen. Auch
die Medien spielen dabei eine wichtige Rolle. Als ich eingestiegen bin in
die soziale Arbeit, benutzte man Begriffe wie Ausländer. Es hieß schon
nicht mehr Gastarbeiter, weil man begriffen hatte: Die kehren so bald nicht
zurück. Heute reden wir von Migranten, von Einwanderung, von Integration.
Das sind politische Vorgaben, die umreißen, was möglich ist an Verständnis,
an Kommunikation. Sie beeinflussen die Menschen in der Gesellschaft, ihre
Art, die Dinge zu sehen und daraus Handlungen erwachsen zu lassen.
Wie verläuft die Einflussnahme solcher Vorgaben, wie entstehen daraus
Handlungen?
Wenn Politik beispielsweise sagt, diese Leute sind integrationsunwillig,
dann kommen die Medien, greifen das auf und recherchieren so lange, bis sie
Beispiele dafür finden. Auch das Schulsystem reagiert, es melden sich
Lehrer und sagen: Genau, auch bei uns an der Schule beobachten wir das. So
werden ganze Kieze zu Problemkiezen voller Integrationsunwilliger. Dann
kommt die Profession der Sozialarbeiter und macht Projekte dazu: etwa
Programme für orientierungslos gewordene türkischstämmige Eltern. Davon
hängen dann wieder Stellen ab, was dazu führt, die Lage immer wieder als
problematisch beschreiben zu müssen, damit die Projekte weitergehen können.
Ich will das nicht pauschalisieren, es gibt durchaus Lehrer und
Sozialarbeiter, die eine andere Haltung dazu haben. Zu beobachten ist aber,
dass in dem ganzen Wirrwarr sich zunehmend alle gegenüberstehen. Oftmals
stehen auch Sozialarbeiter und Lehrer den Objekten ihrer Arbeit gegenüber,
statt sich mit ihnen auf eine Seite zu stellen und in Partnerschaft zu
überlegen, wie wir gemeinsam etwas ändern, wie wir uns gemeinsam über die
Bildung und Erziehung unserer Kinder Gedanken machen können.
Von Schulen wird doch heute zunehmend gefordert, dass Eltern, gerade
Migranteneltern, sich mehr beteiligen sollen.
Sie werden dabei aber meist nicht als gleichberechtigte Partner, sondern
als bildungsfern, als defizitär angesehen. Dabei würde ich auch hinter
diesen Begriff der Bildungsferne ein Fragezeichen setzen. Im Grunde
orientiert der sich an Maßstäben süddeutscher Privatinternate und deren
Bildungsideal - an einer gesellschaftlichen Elite, die selbst eine Art
Parallelgesellschaft ist. Wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass
Eltern, die die deutsche Sprache nicht können, deshalb ja nicht komplett
ungebildet sind. Sie haben Kompetenzen, sprachliche, vielleicht auch
handwerkliche oder solche des Umgehens miteinander. Ich bestreite ja nicht,
dass viele Eltern heute orientierungslos sind. Viele sind heute - ganz
unabhängig von ihrer Herkunft - ratlos, was die Erziehung und Bildung ihrer
Kinder betrifft. Das hat mit dem rasanten Wandel unserer Gesellschaft zu
tun. Was diese Eltern aber nicht brauchen, sind LehrerInnen und andere, die
ihnen Bildungsferne bescheinigen. Sie brauchen Fachleute, die ihnen bei
Bedarf zur Seite stehen und sie unterstützen, statt ihnen zu sagen, was sie
zu tun und zu lassen haben.
Wie kommt es zu diesen Ab- und Ausgrenzungen?
Unsere Gesellschaft ist derzeit einem enormen Wandel unterworfen. Arbeit
wird weniger, gleichzeitig wird den Menschen vorgeworfen, sie wären
Faulpelze, wenn sie nicht arbeiten. Dabei findet ein Um- und Abbau des
Sozialstaates statt, der sich zwangsläufig auf die Institutionen im Kontext
- wie beispielsweise Bildungseinrichtungen - auswirkt. In Zeiten solchen
Wandels tauchen zudem automatisch Fragen danach auf, wie die nachfolgende
Generation zu erziehen ist, was sie lernen, was sie können muss.
Gleichzeitig kann man Veränderungen, Abbau am Sozialstaat am besten
vornehmen, wenn man den davon Betroffenen Probleme und damit Schuld
zuschreibt. So kann bei der Mehrheit Verständnis dafür erzeugt werden, dass
das, was man jetzt unternimmt, richtig und gut ist.
Und das betrifft die Migranten?
Genau, das betrifft die Situation im Themenfeld Migration. Es geht um die
Frage, wer wir sind, wer wir sein wollen und wer künftig legal dazugehören
wird. Deshalb wird uns allen die Forderung nach einem Ministerium für
Integration, wie sie von verschiedenen Seiten immer wieder ins Gespräch
gebracht wird, auch nichts bringen. Jedenfalls nichts Gutes. Denn die
Gesellschaft befindet sich in einer Krise, deren Auslöser aber nicht die
Migranten sind, sondern es ist der enorme und rasante Wandel, dem sie
ausgesetzt ist.
30 Nov 2009
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