# taz.de -- Kolumne Marx 2.0: Heute gibts Kohl | |
> Er wird oft als "Vater der Deutschen Einheit" bezeichnet – dabei ist er | |
> die Rache an ihr. | |
Dieser Tage wird der sogenannte Zehn-Punkte-Plan Helmut Kohls zwanzig Jahre | |
alt. Er ist bis heute das einzig belastbare Indiz dafür, dass der "Kanzler | |
der Einheit" zu dieser, der Einheit, etwas Eigenes beigesteuert hat. Also | |
dass er nicht nur, wie alle anderen Führungskräfte des Westens, den | |
Ereignissen hinterherstolperte. | |
In seiner ganzen Provinzialität, seiner gereizten, humorlosen Spießigkeit | |
war Kohl das westliche Gegenstück zu Erich Honecker. Beide fast zwei | |
Jahrzehnte lang im Amt, wirkten sie wie ausgestopfte Tiere in einer Welt, | |
die längst mit Stil, Coolness und Weltläufigkeit mehr zu tun hatte als mit | |
dem deutschen Heimatfilm. Dennoch ist es heute Konsens, den Dicken aus der | |
Pfalz als den Vater der deutschen Wiedervereinigung zu sehen. Wenn er, was | |
in allernächster Zukunft erwartet wird, stirbt, wird es lange keine Chance | |
mehr geben, dieses Etikett anzuzweifeln. | |
Dann wird ihm wohl für immer ein Ruhm zuerkannt, der in Wirklichkeit den | |
wahren Aktiven jener Zeit gehört, den Menschen im Osten. Denn über Tote | |
spricht man nur Gutes, erst recht über den Vater der Einheit! Selbst | |
tiefrote Linke, die ein halbes Leben lang an Birne verzweifelten, geben | |
sich nun ausgewogen: Der Mann war eine Heimsuchung, aber die Einheit hat er | |
gut hingekriegt. Wirklich? | |
Noch nicht einmal der Zehn-Punkte-Plan taugt tatsächlich als Nachweis für | |
politisches Handeln. Während die Massen bereits lautstark die Einheit | |
forderten, spricht dieses Papierchen noch ausdrücklich nur von einer | |
Konföderation in weiter Ferne. Der Zettel ist mit den Verbündeten nicht | |
abgesprochen und bewirkt einzig eine beträchtliche Verstimmung, also bei | |
genau denen, die Kohl mit seinem Handeln noch erreichen könnte. Als | |
Gorbatschow ihm dann wenig später trotzdem die Einheit vorschlägt, weiß | |
Birne nicht mehr, was er sagen soll. Erst als die Einheit Realität geworden | |
ist, greift Kohl wieder ein - um den dazugewonnenen Landesteil in kürzester | |
Zeit zu zerstören. | |
Obwohl jeder VWL-Student weiß, was passiert, wenn man in einem Werk den | |
gleichen Lohn zahlt wie in einem, dessen Produktivität achtmal höher ist, | |
zieht Kohl sein Ding brachial durch. Die Wirtschaft im Osten bricht | |
vollständig zusammen und für immer. Auf diesen Zusammenhang hingewiesen, | |
reagierte der Altkanzler immer gleich. Sein Gesicht begann zu strahlen, und | |
er tat eine Anekdote kund: Er habe einmal, griente er, in der Menge der | |
DDR-Protestierer ein Plakat gesehen, auf dem der Satz stand: Wenn die | |
D-Mark nicht zu uns kommt, kommen wir zur D-Mark. Danach nur noch ein | |
triumphierender Blick, der sagen sollte: Seht her, die wollten unser Geld | |
und sonst gar nichts. Deshalb mussten wir so handeln. | |
Das Schlimmste daran ist noch nicht einmal, dass Kohl die Leute, die da so | |
lange ihr Leben und ihre Karriere riskiert hatten, im Grunde für ganz | |
normale, ordinäre Bettler hielt. Noch schlimmer ist, dass er sich selbst | |
niemals vorstellen konnte, dass es im Leben je um etwas anderes gehen könne | |
als um die Maximierung von Bimbes. Dieser Oststaat, in dem man so wenig | |
Bimbes machen konnte, wurde nun rasch abgewickelt, mit der Wirtschaft | |
gleich alles andere mit. Es ging schnell. Die Wirtschaft im Westen gönnte | |
sich das Strohfeuer von ein paar Extra-Profiten. Der Kanzler verschränkte | |
die Hände hoch über dem Kopf, diese Geste, für die er wohl eher das | |
Copyright verdient hätte als für irgendeine vaterländische Tat, grinste | |
sein Kohl-Grinsen, und die Medien jubelten, endlich: Glückwunsch, Kanzler! | |
Wir aber wollen uns merken: Helmut Kohl war nicht der Vater der deutschen | |
Einheit. Er war die Rache an ihr. | |
1 Dec 2009 | |
## AUTOREN | |
Joachim Lottmann | |
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