# taz.de -- Linke Gewalt nimmt zu: Das Verlangen nach Vergeltung | |
> Erste Zahlen für 2009 zeigen: Politische Gewalt von links hat um bis zu | |
> 40 Prozent zugenommen. Selbst Autonome wundern sich über die junge, | |
> radikale Generation. | |
Bild: Politische Gewalt? Versicherungsbetrug? Oder Vandalismus? Das Auto ist je… | |
Als Joachim Neubert (Name geändert) im August hörte, dass die Gruppe "AK | |
Autonome Schweinegrippe" zwei Molotowcocktails auf die Berliner Außenstelle | |
des Bundeskriminalamtes geworfen hatte, schrieb er eine SMS an Berliner | |
Bekannte: "was für eine rache", darunter "liebe grüße". | |
Rache - Neubert verwendete dieses Wort, weil er eine zunehmende Gewalt von | |
Polizisten beispielsweise auf Demonstrationen wahrnimmt. Dagegen müsse man | |
sich wehren. Damit ist er in der linken Szene nicht allein. "Bei vielen | |
Linksradikalen in meinem Umfeld gibt es ein Verlangen nach Vergeltung", | |
sagt ein Mitglied einer autonomen Gruppe in Freiburg, der in diesem Text | |
Nick genannt werden möchte. "Die Sicherheitsbehörden treten nämlich immer | |
repressiver auf." | |
Am Mittwoch hat die Bild-Zeitung Zahlen veröffentlicht, die scheinbar zu | |
dieser Stimmung bei militanten Linken passen. Das Blatt meldet unter | |
Berufung auf vorläufige Zahlen des Bundeskriminalamtes (BKA), politisch | |
links motivierte Gewalt habe in den ersten neun Monaten des Jahres 2009 um | |
49,4 Prozent zugenommen. Die Zahl aller Straftaten mit linksextremistischem | |
Hintergrund sei um 38,9 Prozent gestiegen. | |
Bei Sachbeschädigungen habe es bundesweit 885 Fälle mehr gegeben, bei | |
Körperverletzungen betrüge das Plus 155 Fälle. Das BKA mochte diese Angaben | |
nicht kommentieren. Offizielle Zahlen werden vom Bundesinnenministerium und | |
Verfassungsschutz erst im Frühjahr 2010 veröffentlicht - dann auch für das | |
gesamte Jahr 2009. | |
Die Bild-Zeitung schreibt weiter, insbesondere die Körperverletzungen gegen | |
Polizeibeamte hätten zugenommen. Waren es 2008 noch 212 Körperverletzungen, | |
so seien es dieses Jahr schon 315 gewesen. Außerdem habe es drei | |
Tötungsversuche gegeben, im Vorjahr dagegen keinen. | |
2008 zählt das BKA im Erfassungsbereich "Politisch motivierte Kriminalität | |
- links" 1188 Gewalttaten, 59 weniger als im Vorjahr. Seit 2005 sind die | |
Zahlen etwa auf gleichem Niveau. Als Gewaltkriminalität ordnet die Polizei | |
etwa Körperverletzungen, Brandstiftung, Landfriedensbruch, gefährliche | |
Eingriffe in den Bahn- und Straßenverkehr und Widerstand gegen | |
Vollstreckungsbeamte ein. Wenn sich die am Mittwoch veröffentlichten Zahlen | |
bestätigen, wäre dies eine Trendwende. | |
Dennoch warnt der Soziologe Peter Imbusch vor voreiligen Schlüssen: "Man | |
darf das Problem nicht verharmlosen", sagt der Linksextremismus-Forscher, | |
"aber insgesamt bleiben die Fallzahlen niedrig und Gewaltexzesse sind die | |
Ausnahme." Imbusch sagt auch, man müsse bei den Formen der Gewalt | |
unterschieden: "Es gibt dabei sehr viel Sachbeschädigung und wenig | |
Körperverletzungen." | |
Doch auch Linksradikale selbst sprechen von einer neuen Militanz. Tim | |
Laumeyer, einer der Sprecher der Antifaschistischen Linken Berlin (ALB) | |
sitzt auf einem Sofa im "Red Stuff", einem Antifa-Laden in | |
Berlin-Kreuzberg. Im Red Stuff herrscht Ordnung und Stil. Weißes Mobiliar, | |
viel Platz, der Verkaufstresen ist von innen rot ausgeleuchtet. Auf einem | |
Tisch liegen sauber gefaltete T-Shirts mit der Aufschrift "Die Yuppie | |
Scum", zu deutsch "Stirb, Yuppie-Abschaum". Laumeyer sagt: "Verkauft sich | |
gut." | |
Es gebe eine neue Bereitschaft zur Gewalt bei jüngeren Leuten, "die ich | |
teilweise gar nicht kenne", erzählt der ALB-Sprecher. Solche Wellen gebe es | |
dann, wenn die Bewegung ein Thema neu oder wieder entdeckt. Derzeit seien | |
dies sozialpolitische Anliegen. Beispiel: die Neuansiedlung von Investoren | |
und Wohlhabenderen in alternativen Vierteln und die daraus resultierende | |
reale oder gefühlte Verdrängung der angestammten Bewohner. Mit diesem Thema | |
werden in Berlin insbesondere Brandstiftungen bei Autos in Verbindung | |
gebracht. | |
Nie gab es dort so viele brennende Autos wie in diesem Jahr. 142 | |
Brandanschläge von insgesamt 214 ordnet die Berliner Polizei 2009 als | |
politisch motiviert ein - also als Taten Linker. Sicher ist diese Zuordnung | |
allerdings nicht. Bekennerschreiben zu Anschlägen auf Privat-Pkws gibt es | |
so gut wie nie. Die 25 Bekennerschreiben aus diesem Jahr beziehen sich auf | |
Anschläge auf Fahrzeuge von Unternehmen und Institutionen, zum Beispiel | |
Bundeswehr, Waffenexporteure oder Justiz. Die Berliner Polizei gibt selbst | |
zu: Die Zuordnung zur linken Szene sei mit großen Unsicherheiten behaftet. | |
Diese Unsicherheit erinnert an die Krawalle bei den Demonstrationen zum | |
Ersten Mai in den vergangen Jahren. Oft waren unter den Festgenommenen | |
Menschen ohne linksradikalen Hintergrund, mindestens zweimal wurden | |
Polizisten in Zivil beim Randalieren erwischt. | |
Die Probleme bei der Zuordnung der Täter kennen auch Linksradikale, die | |
schon länger in der Szene sind: Das Phänomen sei politisch, aber eben keins | |
von klassischen Aktivisten, die ein Bekennerschreiben verfassen, sagt Tim | |
Laumeyer. Und der Autonome aus Freiburg ergänzt: "Auch bei uns haben Autos | |
gebrannt und niemand hat sich dazu bekannt. Man weiß doch inzwischen, dass | |
die Polizei anhand solcher Schreiben sehr viel über die Täter erfährt." Die | |
Gewalt sei anonymer geworden. | |
Der eingangs zitierte Joachim Neubert ist dafür ein Beispiel. Er ist 26 | |
Jahre alt, lebt in einer mittelgroßen Stadt in Bayern, arbeitet als | |
Handwerker. Auf dem Heimweg von Demonstrationen ritzt er manchmal Sitze in | |
Erste-Klasse-Abteilen auf. Manchmal geht er nachts "auf Tour". In seinem | |
Ort gab es ebenfalls zertretene und ausgebrannte Luxusautos. "Es ist ein | |
Zeichen, dass die Menschen sich noch wehren", sagt Neubert. Er mache das | |
schon lange, seine Freunde auch, das sei "ganz normal." | |
Sowohl der ALB-Sprecher Tim Laumeyer als auch Nick aus Freiburg sagen, dass | |
sie selbst solche Aktionen nur begrenzt für wirkungsvoll halten. "Diese | |
Brandstiftungen stehen natürlich für eine Haltung der Ohnmacht", sagt Nick, | |
"aber sie ist wenig zielgerichtet und ohne klare Perspektive." Es sei | |
unklar, wen man angreifen und was man erreichen wolle. | |
Beide sprechen den Anschlägen jedoch eine gewisse Wirksamkeit zu: "Ich | |
behaupte, es funktioniert", sagt Tim Laumeyer. Er zählt Farbbeutelanschläge | |
auf Luxusbauprojekte in die gleiche Kategorie wie Brandstiftungen bei Autos | |
- und hier lassen sich die Folgen messen. Zwei Investoren, die Häuser mit | |
Nobelwohnungen in Kreuzberg bauten, kämpfen mit Leerstand und haben | |
Sicherheitsdienste engagiert. Diese Möglichkeit der Anschläge, erfolgreich | |
zu sein, heißt Angst machen. Menschen fühlen sich unerwünscht und ziehen | |
deshalb nicht in alternative Viertel. Der Freiburger Nick drückt es so aus: | |
"Das ist Terror." | |
Ob es eine Diskussion über Gewalt gibt, ist offenbar regional | |
unterschiedlich. In Freiburg sei das kaum ein Thema, sagt Nick, weil man | |
die eigene Gewalt vor allem als eine Gegenwehr gegen ausufernde | |
Polizeikontrollen und "eher nicht-körperliche Gewalt, die von einer | |
zunehmenden sozialen Kluft ausgeht" empfindet. In Berlin hingegen | |
diskutieren linksradikale Gruppen laut Tim Laumeyer von der | |
Antifaschistischen Linken Berlin das Thema häufig, vor allem, ob Gewalt | |
gegen Menschen erlaubt sei. "Ich denke man sollte der Gewalt gegen Sachen | |
immer den Vorzug geben", sagt er. Das werde allerdings nicht dazu führen, | |
sich von Tätern zu distanzieren. "Immer wenn etwas passiert, verlangen dies | |
die Eliten", sagt Laumeyer. "Doch es ist nicht unsere Aufgabe uns in diesen | |
bestellten Chor einzureihen." | |
16 Dec 2009 | |
## AUTOREN | |
D. Schulz | |
L. Strothmann | |
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