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# taz.de -- Rettung des finnischen Urwalds: Der sture Hirte
> Kalevi Paadar lebte von seinen Rentieren und sie vom Urwald. Doch die
> Holzindustrie stellte alles infrage. Sie stritten Jahrzehnte, bis zu den
> Vereinten Nationen. Jetzt hat er gewonnen.
Bild: Rentiere fressen die Bartflechten, die von den Ästen der Bäume hängen.…
NELLIM/LAPPLAND taz | Es ist jetzt so, dass Kalevi Paadar sich morgens im
Dunklen auf seinen Snowscooter schwingen, den Motor anwerfen und losbrausen
kann, hinein in die endlosen, verschneiten Wälder, immer den Spuren der
Rentiere folgend. Ein kaltes und einsames Fahren durch die Finsternis. Denn
so ist es nun mal hier oben im Norden Lapplands: dass sich um diese Zeit im
Winter die Sonne nicht zeigt, am Morgen nicht und schon gar nicht für den
Rest des Tages.
Kalevi Paadar gleitet also durch die schwarzen Wälder, sucht seine
Rentiere, treibt sie zusammen, der Schnee stiebt, die zitternden
Scheinwerfer des Snowscooters weisen die Richtung. Ein Mann allein mit sich
und seiner Aufgabe. Er fährt und fährt durch die Dunkelheit, nur das
Brummen des Snowscooters fährt mit. Keine Planierraupe schneidet ihm den
Weg ab, keine Holzfäller mit Kettensägen, keine kreischenden Maschinen
reißen kahle Stellen in den Wald.
Kalevi Paadar auf seinem Schlitten, die Bäume und die Rentiere haben
endlich Ruhe. Er nennt diese Ruhe: "Friede auf Erden". Das mag pathetisch
klingen, aber da der Rentierhirte Kalevi Paadar sparsam mit Worten umgeht,
sollte man diesen Ausdruck vor allem als Hinweis auf die vorangegangenen
Verletzungen sehen.
Tatsache ist: Es gibt viele frohe Botschaften, die mit der neuen Ruhe
zusammenkommen. Kalevi Paadar muss sich nicht mehr morgens in seinen Toyota
setzen und durch den Schnee zum Gerichtsgebäude in die Provinzhauptstadt
Ivalo schlittern. Manche Leute im Dorf gucken nicht mehr weg, wenn sie ihn
auf der Straße sehen. Vielleicht würde er sogar im schmalen Supermarkt von
Nellim wieder bedient. Aber er hat es nicht mehr probiert, seit es zu
unschönen Szenen mit der Besitzerin des Ladens gekommen ist. Das war zu
jener Zeit, als die Dinge durcheinander gerieten in der
200-Einwohner-Gemeinde. Zu der Zeit als der große Krach eskalierte.
Die wunderbare und global bedeutsame Nachricht aus Nellim im Norden
Lapplands jedoch ist, dass der sechzig Jahre alt Rentierhirte Kalevi Paadar
es geschafft hat, 16.000 Hektar finnischen Urwalds zu retten. Ein kleiner,
schweigsamer Mann. Einer mit dunklen strubbeligen Haaren und scheuen
Knopfaugen. Ein Sami, ein Angehöriger der Minderheit, die als ursprüngliche
Bevölkerung Lapplands gilt. Ein introvertierter Kauz, der in einer
verrümpelten, ehemaligen Gaststätte an der Dorfstraße wohnt, und seit er
mit fünfzehn Jahren die Schule geschmissen hat, draußen mit den Rentieren
unterwegs ist. So wie sein Vater, sein Großvater und die Generationen davor
es waren. Ein Leben, das von den Tieren bestimmt ist. Ein Dasein, das
keinen Platz lässt für Luxus. Wenn Paadar einen Gebrauchtwagen kauft,
bezahlt er ihn mit zwei Plastiksäcken Rentierfleisch und einem Sack Fisch.
Die neue Ruhe in Nellim steht nun für das schöne Ende eines langen Streits
zwischen zwei Männern. Ein Krach, der das Dorf tief gespalten hat. Ein
Streit, der über Nellim hinauswuchs, bis die Sache irgendwann sogar die
Sphäre internationaler Aufmerksamkeit erreichte. Ein Konflikt, über den die
beiden Männer alt geworden sind.
Aber nun, vor ein paar Monaten, hat sich Kalevi Paadars Gegenspieler Pertti
Heikkuri von der staatlichen Forstbehörde Metsähallitus in einen
Kneipenraum mit einem schiefen Grinsen neben ihn gestellt und gesagt: "Wir
müssen uns nie mehr über Wälder unterhalten." Und das ist nach all den
Jahren eine unglaubliche Angelegenheit.
Jetzt sitzt Oberförster Pertti Heikkuri allein in der dunklen Ecke
derselben Kneipe in Ivalo, rund fünfzig Kilometer südlich von Nellim. Aus
dem Nebenraum jault eine Karaoke-Gesellschaft herüber, und der Lärm der
anderen Gäste verstärkt den Eindruck von Verlassenheit, die den Mann in der
Ecke umgibt. Tatsächlich sieht der 54 Jahre alte Heikkuri mit den
wässerigen Augen, den strähnigen, grauen Haaren und dem Schnauzbart aus wie
ein melancholischer Held aus einem skandinavischen Film. "Es ist nicht
schön, einen solchen Konflikt ständig mit sich herumzutragen", sagt er, als
er seine Version erzählt. Das Schleppen in seiner Stimme verrät, dass er
sich über seine problematische Rolle in der Auseinandersetzung bewusst ist.
Seinen Anfang nahm der Streit zwischen Oberförster Pertti Heikkuri und dem
Rentierhirten Kalevi Paadar aus Nellim, als das staatliche finnische
Forstamt Metsähallitus in den Siebzigerjahren begann, im großen Stil die
Wälder Lapplands zu roden.
Holz schien in Finnland schier unbeschränkt vorhanden. Die Holzfäller von
Metsähallitus machten sich über riesige Waldgebiete her, und auch wenn
Förster Heikkuri diese Tatsache gern unerwähnt lässt, war es doch so, dass
seine Holzfäller wüste, öde Landschaften hinterließen, wenn sie nach der
Arbeit nach Hause fuhren.
## Der Förster ließ immer mehr Bäume roden
Große Gebiete lappländischen Urwalds waren verloren. Auch für die Rentiere.
Sie fressen die Bartflechten, die von den Ästen der Bäume hängen. In den
langen Wintermonaten sind die Bartflechten fast die einzige Nahrung, die
die Rentiere finden können. Mit simpler Aufforstung ist es daher nicht
getan. Die klimatischen Bedingungen sind hart. Die Bäume brauchen
Jahrzehnte, bis sie eine passable Größe erreicht haben. Und die
Bartflechten wachsen nur an Bäumen, die mehrere hundert Jahre alt sind.
Der Rentierhirte Paadar aus Nellim beobachtete die vom Oberförster Heikkuri
geschickten Holzfäller mit ihren zerstörerischen Maschinen und begriff,
dass, wenn sie weitermachten, seine Rentiere nicht würden überleben können.
Mit den Tieren würde seine eigene Lebensgrundlage schwinden, ebenso wie die
der anderen Rentierhirten im Dorf. Die Sami sind keine gesprächigen Leute.
Aber so wie die Dinge lagen, musste Paadar mit Heikkuri reden.
Die Verhandlungen, die er und alle anderen Rentierhirten mit dem
Oberförster in den folgenden Jahren führten, liefen immer nach dem selben
Muster ab: Die Männer beugten sich über Karten, die Heikkuri mitbrachte.
Heikkuri malte mit einem bunten Stift Kreise um verschiedene Waldgebiete.
Er fragte die Rentierhirten, welche Bereiche sie den Holzfällern überlassen
wollten. Im Gegenzug wurden andere Zonen vorerst verschont. Wenn der Wald
dann gerodet war, tauchte Heikkuri wieder mit seinen Karten auf und
verlangte neue Gebiete. Dreißig Jahre lang kam er immer wieder. Man muss
sich den Oberförster in dieser Zeit wohl wie ein Ungeheuer vorstellen, das
nie genug bekommt.
Perttie Heikkuri sitzt in seiner Kneipenecke und beschreibt sein Vorgehen
weniger drastisch: "Ich hatte eigentlich ein gutes Verhältnis zu Kalevi, es
lief okay zwischen uns." Dabei dauerte das Ringen um den Wald nun schon
länger als manche Ehe, Heikkuris vier Kinder waren mittlerweile erwachsen
geworden. Um das Jahr 2001 bemerkte der Förster allerdings beim
Rentierhirten eine Veränderung. Irgendein Hebel in Paadars Innerem schien
umgelegt zu sein. Er ließ nicht mehr mit sich reden, wenn Heikkuri mit den
Karten kam. "Ich weiß nicht, was es war, dass er das Ganze plötzlich so
weit treiben musste. Er machte die Sache größer als sie eigentlich ist",
knurrt Heikkuri.
Paadar sitzt abwartend auf dem schrabbeligen Schaukelstuhl im Wohnzimmer
seiner Junggesellenbude in Nellim, die Lampe hängt schief von der Decke, im
Kamin stapeln sich leere Bierdosen, zwei Hunde schnarchen in einer Ecke.
Paadar guckt zur Seite, in Schweigen versunken. Ein Schweigen, das so lange
dauert, dass zeitweise unklar ist, ob er an diesem Abend überhaupt noch
einmal daraus auftauchen wird. Irgendwann sagt er mit einer Stimme, die
knarzt und knattert wie ein kaputter Außenbordmotor: "Wir mussten etwas
tun. Sonst wäre alles verloren gewesen."
Er hatte begriffen, dass Heikkuri und seinen Holzfäller niemals Ruhe geben
würden. Sie würden immer wiederkommen und den ganzen Wald fällen, bis zum
letzten Nadelbaum. Paadar beschloss, zu anderen Maßnahmen zu greifen. Er
beschloss, mit den Greenpeace-Leuten zusammenzuarbeiten.
## Die Vegetarier von Greenpeace machten Wind
Die Greenpeace-Leute waren schon länger in der Gegend. Es waren junge,
tatendurstige Menschen, die zu den samischen Rentierhirten liefen und sie
nach den Wäldern fragten. Die Tatsache, dass in Lappland viele Sami gemäß
der Tradition und mangels Alternativen immer noch von den Rentieren leben,
machte sie zu den Hauptleidtragenden der Waldzerstörung. Im Frühjahr 2004
kam sogar ein Waldexperte von Greenpeace aus Hamburg angereist. Deutschland
ist der wichtigste Abnehmer des Papiers, das aus dem finnischen Holz
produziert wird.
Dem Rentierhierten gefielen die Greenpeace-Leute, auch wenn sie fast alle
Vegetarier waren und sich zierten, wenn man ihnen ein paar Scheiben
Rentierwurst anbot. Der Waldexperte aus Deutschland sagte, er wolle die
Sache an die ganz große Glocke hängen. Er wollte internationales Aufsehen
erregen. Der Waldexperte redete mehr, als es die Menschen in dieser Gegend
gewohnt sind. Er sprach von einem Protestcamp, das sie nächstes Frühjahr im
Wald aufbauen wollten. Paadar hatte die Ahnung, dass mit dem Waldexperten
etwas in Bewegung geraten könnte. Vielleicht braucht man einen lauten
Schwätzer, um in der Welt Gehör zu finden. Er lud die Greenpeace-Leute ein,
das Camp in Nellim aufzubauen.
Der Waldexperte fuhr zurück nach Hamburg. Kurz darauf besuchte er mit zwei
aus Lappland angereisten Sami-Rentierhirten den Verband deutscher
Zeitschriftenverlage in Berlin. Die Rentierhirten erzählten den Verlegern
von der Urwaldzerstörung. Hinterher gab es hektische Telefongespräche
zwischen deutschen Verlagsmanagern und finnischen Papierfabrikanten. Der
Waldexperte hatte begonnen, Wirbel zu machen.
Im März 2005 bezogen dann rund zwanzig Greenpeace-Aktivisten aus Brasilien,
Italien, Deutschland, Schweden und Neuseeland zwei Wohncontainer im Wald
bei Nellim. Die Aktivisten liefen mit Paadar durch den verschneiten Wald
und hängten Schilder auf. Darauf stand: "Achtung! Wichtiger Wald für die
Rentierwirtschaft!"
Man kann sich vorstellen, dass nicht alle im Dorf begeistert waren von den
Entwicklungen. Nicht alle in Nellim leben von den Rentieren, es gibt drei
Metsähallitus-Holzfäller im Ort, und einer von ihnen ist Kalevi Paadars
Bruder. Der Konflikt begann einen Keil durchs Dorf zu treiben. In einer
stillen Region wird es nicht gern gesehen, wenn ein einfacher Hirte den
Mund aufmacht. Die Menschen scheuen Konflikte. Sie sperren die Häuser und
Autos nicht ab. Andererseits besitzt fast jeder eine Jagdwaffe. Es gibt
viele, die schon mittags gegen die Dunkelheit antrinken. Oberförster
Heikkuri erklärt: "Die Leute wollten sich nicht von irgendwelchen jungen
Hippie-Typen aus der Stadt sagen lassen, wie sie zu leben haben."
Kurzum: Die Holzfällergewerkschaft rief zum Boykott von Rentierfleisch auf.
Unterschriften gegen Kalevi Paadar und das Camp wurden gesammelt. Alte
Männer, die jahrelang nur schweigend in der Ecke gesessen waren, sprangen
auf Dorfversammlungen auf und brüllten Kalevi Paadar an. Die Besitzerin des
Dorfsupermarkts weigerte sich, die Greenpeace-Aktivisten zu bedienen.
Wenige Meter neben dem Greenpeace-Camp bauten Holzfäller ein Zelt auf und
nannten es "Anti-Terror-Camp".
Die Dinge gerieten außer Kontrolle. Tagsüber lagen die Holzfäller im Zelt
und betranken sich, nachts wummerten sie besoffen mit den Fäusten gegen die
Türen der Greenpeace-Container. Sie ließen ihre Kettensägen aufheulen und
brausten mit ihren Snowscootern durch die Nacht wie wild gewordene
Teenager. Sie rissen die Greenpeace-Schilder ab, hängten Galgen im Wald auf
und verbrannten Holzkreuze. Sie schmierten Hühnermist gegen die Scheiben
der Greenpeace-Container. Ein Greenpeace-Mann erhielt per Telefon eine
Morddrohung.
Die Aktivisten blieben. Sie luden den Geschäftsführer von Stora Enso ein,
der größten finnischen Papierfabrik. Tatsächlich kam der Geschäftsführer
aus Helsinki, stapfte mit den Aktivisten und Paadar durch den Wald, schaute
sich die Bartflechten an den Ästen an und dann die abgesägten Stämme am
Straßenrand. Er dachte an die Telefonate mit den deutschen Verlagsmanagern.
Nach seiner Rückkehr nach Helsinki schickte er eine Presseerklärung heraus,
in der stand, dass Stora Enso bis auf Weiteres kein Holz mehr aus dem
umstrittenen Gebiet verarbeiten werde. Da stoppte Metsähallitus das
Baumfällen.
## Die Sägen kamen wieder, der Hirte ging aufs Ganze
Die Greenpeace-Aktivisten bauten ihr Camp ab und reisten weiter. Kalevi
Paadar blieb zurück, ging fischen, guckte nach seinen Rentieren. Lauerte.
Er traute dem Frieden und Oberförster Heikkuri nicht.
Tatsächlich fing Metsähallitus wenige Monate später wieder damit an, rund
um Nellim Bäume zu fällen. Vielleicht hatte Paadar nichts mehr zu
verlieren. Vielleicht hatten sich die Maschinen von Metsähallitus so weit
in sein Leben gesägt, dass er nicht mehr zurückkonnte. Er sitzt in seinem
Schaukelstuhl, er mag es nicht erklären, guckt auf den Boden. Damals
jedenfalls entschied er, aufs Ganze zu gehen.
Er reichte gegen das Forstamt Metsähallitus und die finnische Regierung
eine Klage beim Amtsgericht in Ivalo ein. In der Klage stand, dass die
Abholzung die Rentierhaltung beeinträchtige und so die Kultur der Sami
bedrohe. Paadar schickte die Klage gleichzeitig zum UN-Menschenrechtsrat
nach Genf. Seine neuen Greenpeace-Freunde hatten ihn auf diese Idee
gebracht. "Einfach sehr nette Leute", ist alles, was er heute dazu sagt, er
schaukelt provozierend in seinem Schaukelstuhl.
Die Klage war ein Coup. Denn sie beinhaltete einen großen Vorwurf. Einen
Vorwurf, der den Rentierhirten Paadar aus seinem gelben Holzhaus an der
Nellimer Dorfstraße heraushievte und in einen größeren
gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang stellte. Er war auf einmal nicht nur
ein einfacher Rentierhirte, sondern Anghöriger einer bedrohten Minderheit.
Als Oberförster Heikkuri von der Klage erfuhr, konnte er es nicht fassen.
Auch jetzt in der Kneipe in Ivalo ist er nicht darüber hinweg. Er rutscht
auf seinem Stuhl herum und schwitzt. "Die Vorstellung, dass unsere
Baumfällarbeiten die samische Kultur bedrohen, ist lächerlich!", ruft er.
"Ich bin selber Sami! Viele meiner Holzfäller sind Sami! Kalevis eigener
Bruder ist Holzfäller! Dieser Vorwurf ist ein Totschlagargument!" Heikkuri
guckt wütend gegen die Wand.
In der Forstbehörde klingelte das Telefon ununterbrochen. Die Kunden der
Holzverarbeitungsbetrieben riefen an, Heikkuris Chefs aus Helsinki
polterten am Telefon, Politiker stellten Fragen, Fernsehteams wollten in
den Wald fahren. Es hörte nicht auf.
Nellim war zerrissen. Den Rentierhirten flog neue Hoffnung zu. Unterdessen
schrieben die Anhänger der Anti-Kalevi-Paadar-Bewegung einen Brief an den
UN-Menschenrechtsrat. Sie schrieben, der Mann sei ein "von Greenpeace
manipuliertes Meerschweinchen".
Kurz darauf schickte der UN-Menschenrechtsrat eine E-Mail an den finnischen
Außenminister. Der Rat empfahl der finnischen Regierung, den Holzeinschlag
zu unterbrechen, bis der Fall geklärt sei. Eine Niederlage für Oberförster
Heikkuri. Die Forstbehörde kündigte an, die Arbeit in der Gegend um Nellim
ruhen zu lassen.
Wenig später protestierten Greenpeace-Aktivisten mit Schlauchbooten im
Hafen von Lübeck gegen die Urwaldzerstörung in Finnland. Die Aktivisten
blockierten einen Frachter, der Papier aus Finnland nach Deutschland
liefert.
Paadar bekam inzwischen E-Mails und Anrufe aus der ganzen Welt. Er war
jetzt so etwas wie ein Held, ein Symbol für den Widerstand gegen die
Globalisierung. Die Sami-Vereinigung in Finnland kürte ihn zum "Sami des
Jahres 2006". In Nellim wechselten indes viele die Straßenseite, wenn sie
ihn sahen. Paadar brummt: "Die Leute von anderswo waren freundlicher als
die Leute im Dorf."
Dann begann der Prozess am Amtsgericht Ivalo. Die Verhandlung dauerte.
Heikkuris Gutachter behaupteten, die Rentiere fräßen überhaupt keine
Bartflechten. Sie höhnten, die Rentiere könnten ja nicht auf Bäume
klettern, um die Flechten zu erreichen. Richter und Anwälte fuhren in den
Wald, um den Zustand der Bäume zu inspizieren. Die Aktenordner auf
Heikkuris Schreibtisch stapelten sich, die Kollegen in der Forstbehörde
spotteten, ob er angesichts der Gerichtstermine je wieder zur Arbeit
erscheinen werde. Und mit jedem Verhandlungstag sah der Rentierhirte Kalevi
Paadar die Anwaltskosten weiter wachsen. Wenn er den Prozess verlieren
würde, das wusste er, würde es ihn Kopf und Kragen kosten. Er war nervös.
Im August 2008 gab der Richter in Ivalo der Forstbehörde Metsähallitus
Recht. Viele fühlten sich in ihrem Verdacht bestätigt, dass die Sami keine
Chance haben vor einem finnischen Gericht. Paadar ging trotzdem in
Berufung.
Ob er bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen würde,
fragte ihn damals ein Journalist. Er antwortete in der gewohnt knappen Art:
"Ja."
Der Streit zwischen den beiden Männern dauerte nun schon fast vierzig
Jahre. Oberförster Heikkuri merkte, dass der innere Hebel bei Kalevi Paadar
eingerastet war, er würde diesen Hebel nicht mehr umlegen können. Die
Papierfabrik Stora Enso hatte endgültig entschieden, kein Holz mehr aus der
Region zu kaufen, auch sonst war der Imageschaden beträchtlich. Den
Holzeinschlag gegen all diese Widerstände durchzusetzen, versprach keinen
finanziellen Gewinn mehr. Heikkuri spürte neuerdings ein böses Stechen in
der Herzgegend, er merkte, dass die Sache zu viele Nerven kostete, er
merkte, dass dabei alle immer verloren. Er telefonierte mit seinen Chefs in
Helsinki. Im Februar 2009 lud er Paadar in die Kneipe nach Ivalo ein.
Es folgten mehrere solcher Kneipentreffen. Heikkuri packte seine Karten
aus, dieses Mal zeichnete Paadar Kreise um verschiedene Waldgebiete,
Heikkuri schüttelte den Kopf, packte die Karten wieder ein, fuhr ins Büro,
telefonierte mit Helsinki, lud Paadar wieder ein, der malte neue Kreise auf
Karten und so fort. Das Kratzen von Filzstiften auf Papier, das Klingeln
von Telefonen. Das waren die Geräusche, die verrieten, dass etwas in
Bewegung kam.
## Ein Fest am Inari-See, eins im Schaukelstuhl
Im August endeten die Kneipentreffen. Mit zwei Seiten Papier, die den
Konflikt beilegen. Auf den zwei Seiten stand, dass Metsähallitus in den
nächsten zwanzig Jahren auf den Holzeinschlag in dem umstrittenen 16.000
Hektar großen Urwaldgebiet verzichten wird. Davon, dass der Holzeinschlag
nach dieser Zeit wiederaufgenommen wird, geht keine der Parteien aus.
Wie die beiden Männer den neuen Frieden gefeiert haben?
Oberförster Heikkuri ist in seine Holzhütte am Inari-See gefahren und hat
versucht, vom Stress runterzukommen. Jetzt sitzt er in der Kneipe in Ivalo,
lehnt sich zurück, lächelt unstet, und das zeigt schon, dass die ganze
Sache bei ihm nachwirkt.
Kalevi Paadar in seinem Wohnzimmer guckt auf die dicken Wollsocken an
seinen Füßen. Als alles vorbei war? "Ein wenig Cognac getrunken", murrt er
aus seinem Schaukelstuhl heraus. Mehr nicht. Die Begeisterung scheint in
den Wäldern hinter der Nellimer Dorfstraße stecken geblieben. Vor kurzem
hat Paadar seinen Geburtstag gefeiert. Sogar sein Bruder, der Holzfäller,
ist diesmal gekommen. Man kann also davon ausgehen, dass die Dinge für
Paadar auch in privater Hinsicht wieder leichter werden.
Von ihm selbst ist darüber im Moment wenig zu erfahren. Er sitzt in seinem
Stuhl, die Hunde schnarchen. Es wird nichts mehr passieren. Paadar ist
allein und starrt in die Dunkelheit vor dem Fenster. "Friede auf Erden",
hat er vorhin gesagt.
Kirsten Küppers, 37, ist sonntaz-Autorin. In Finnlands Urwäldern soll es
auch Bären und Wölfe geben. Die hat sie aber nicht gesehen.
24 Dec 2009
## AUTOREN
Kirsten Küppers
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