# taz.de -- Rettung des finnischen Urwalds: Der sture Hirte | |
> Kalevi Paadar lebte von seinen Rentieren und sie vom Urwald. Doch die | |
> Holzindustrie stellte alles infrage. Sie stritten Jahrzehnte, bis zu den | |
> Vereinten Nationen. Jetzt hat er gewonnen. | |
Bild: Rentiere fressen die Bartflechten, die von den Ästen der Bäume hängen.… | |
NELLIM/LAPPLAND taz | Es ist jetzt so, dass Kalevi Paadar sich morgens im | |
Dunklen auf seinen Snowscooter schwingen, den Motor anwerfen und losbrausen | |
kann, hinein in die endlosen, verschneiten Wälder, immer den Spuren der | |
Rentiere folgend. Ein kaltes und einsames Fahren durch die Finsternis. Denn | |
so ist es nun mal hier oben im Norden Lapplands: dass sich um diese Zeit im | |
Winter die Sonne nicht zeigt, am Morgen nicht und schon gar nicht für den | |
Rest des Tages. | |
Kalevi Paadar gleitet also durch die schwarzen Wälder, sucht seine | |
Rentiere, treibt sie zusammen, der Schnee stiebt, die zitternden | |
Scheinwerfer des Snowscooters weisen die Richtung. Ein Mann allein mit sich | |
und seiner Aufgabe. Er fährt und fährt durch die Dunkelheit, nur das | |
Brummen des Snowscooters fährt mit. Keine Planierraupe schneidet ihm den | |
Weg ab, keine Holzfäller mit Kettensägen, keine kreischenden Maschinen | |
reißen kahle Stellen in den Wald. | |
Kalevi Paadar auf seinem Schlitten, die Bäume und die Rentiere haben | |
endlich Ruhe. Er nennt diese Ruhe: "Friede auf Erden". Das mag pathetisch | |
klingen, aber da der Rentierhirte Kalevi Paadar sparsam mit Worten umgeht, | |
sollte man diesen Ausdruck vor allem als Hinweis auf die vorangegangenen | |
Verletzungen sehen. | |
Tatsache ist: Es gibt viele frohe Botschaften, die mit der neuen Ruhe | |
zusammenkommen. Kalevi Paadar muss sich nicht mehr morgens in seinen Toyota | |
setzen und durch den Schnee zum Gerichtsgebäude in die Provinzhauptstadt | |
Ivalo schlittern. Manche Leute im Dorf gucken nicht mehr weg, wenn sie ihn | |
auf der Straße sehen. Vielleicht würde er sogar im schmalen Supermarkt von | |
Nellim wieder bedient. Aber er hat es nicht mehr probiert, seit es zu | |
unschönen Szenen mit der Besitzerin des Ladens gekommen ist. Das war zu | |
jener Zeit, als die Dinge durcheinander gerieten in der | |
200-Einwohner-Gemeinde. Zu der Zeit als der große Krach eskalierte. | |
Die wunderbare und global bedeutsame Nachricht aus Nellim im Norden | |
Lapplands jedoch ist, dass der sechzig Jahre alt Rentierhirte Kalevi Paadar | |
es geschafft hat, 16.000 Hektar finnischen Urwalds zu retten. Ein kleiner, | |
schweigsamer Mann. Einer mit dunklen strubbeligen Haaren und scheuen | |
Knopfaugen. Ein Sami, ein Angehöriger der Minderheit, die als ursprüngliche | |
Bevölkerung Lapplands gilt. Ein introvertierter Kauz, der in einer | |
verrümpelten, ehemaligen Gaststätte an der Dorfstraße wohnt, und seit er | |
mit fünfzehn Jahren die Schule geschmissen hat, draußen mit den Rentieren | |
unterwegs ist. So wie sein Vater, sein Großvater und die Generationen davor | |
es waren. Ein Leben, das von den Tieren bestimmt ist. Ein Dasein, das | |
keinen Platz lässt für Luxus. Wenn Paadar einen Gebrauchtwagen kauft, | |
bezahlt er ihn mit zwei Plastiksäcken Rentierfleisch und einem Sack Fisch. | |
Die neue Ruhe in Nellim steht nun für das schöne Ende eines langen Streits | |
zwischen zwei Männern. Ein Krach, der das Dorf tief gespalten hat. Ein | |
Streit, der über Nellim hinauswuchs, bis die Sache irgendwann sogar die | |
Sphäre internationaler Aufmerksamkeit erreichte. Ein Konflikt, über den die | |
beiden Männer alt geworden sind. | |
Aber nun, vor ein paar Monaten, hat sich Kalevi Paadars Gegenspieler Pertti | |
Heikkuri von der staatlichen Forstbehörde Metsähallitus in einen | |
Kneipenraum mit einem schiefen Grinsen neben ihn gestellt und gesagt: "Wir | |
müssen uns nie mehr über Wälder unterhalten." Und das ist nach all den | |
Jahren eine unglaubliche Angelegenheit. | |
Jetzt sitzt Oberförster Pertti Heikkuri allein in der dunklen Ecke | |
derselben Kneipe in Ivalo, rund fünfzig Kilometer südlich von Nellim. Aus | |
dem Nebenraum jault eine Karaoke-Gesellschaft herüber, und der Lärm der | |
anderen Gäste verstärkt den Eindruck von Verlassenheit, die den Mann in der | |
Ecke umgibt. Tatsächlich sieht der 54 Jahre alte Heikkuri mit den | |
wässerigen Augen, den strähnigen, grauen Haaren und dem Schnauzbart aus wie | |
ein melancholischer Held aus einem skandinavischen Film. "Es ist nicht | |
schön, einen solchen Konflikt ständig mit sich herumzutragen", sagt er, als | |
er seine Version erzählt. Das Schleppen in seiner Stimme verrät, dass er | |
sich über seine problematische Rolle in der Auseinandersetzung bewusst ist. | |
Seinen Anfang nahm der Streit zwischen Oberförster Pertti Heikkuri und dem | |
Rentierhirten Kalevi Paadar aus Nellim, als das staatliche finnische | |
Forstamt Metsähallitus in den Siebzigerjahren begann, im großen Stil die | |
Wälder Lapplands zu roden. | |
Holz schien in Finnland schier unbeschränkt vorhanden. Die Holzfäller von | |
Metsähallitus machten sich über riesige Waldgebiete her, und auch wenn | |
Förster Heikkuri diese Tatsache gern unerwähnt lässt, war es doch so, dass | |
seine Holzfäller wüste, öde Landschaften hinterließen, wenn sie nach der | |
Arbeit nach Hause fuhren. | |
## Der Förster ließ immer mehr Bäume roden | |
Große Gebiete lappländischen Urwalds waren verloren. Auch für die Rentiere. | |
Sie fressen die Bartflechten, die von den Ästen der Bäume hängen. In den | |
langen Wintermonaten sind die Bartflechten fast die einzige Nahrung, die | |
die Rentiere finden können. Mit simpler Aufforstung ist es daher nicht | |
getan. Die klimatischen Bedingungen sind hart. Die Bäume brauchen | |
Jahrzehnte, bis sie eine passable Größe erreicht haben. Und die | |
Bartflechten wachsen nur an Bäumen, die mehrere hundert Jahre alt sind. | |
Der Rentierhirte Paadar aus Nellim beobachtete die vom Oberförster Heikkuri | |
geschickten Holzfäller mit ihren zerstörerischen Maschinen und begriff, | |
dass, wenn sie weitermachten, seine Rentiere nicht würden überleben können. | |
Mit den Tieren würde seine eigene Lebensgrundlage schwinden, ebenso wie die | |
der anderen Rentierhirten im Dorf. Die Sami sind keine gesprächigen Leute. | |
Aber so wie die Dinge lagen, musste Paadar mit Heikkuri reden. | |
Die Verhandlungen, die er und alle anderen Rentierhirten mit dem | |
Oberförster in den folgenden Jahren führten, liefen immer nach dem selben | |
Muster ab: Die Männer beugten sich über Karten, die Heikkuri mitbrachte. | |
Heikkuri malte mit einem bunten Stift Kreise um verschiedene Waldgebiete. | |
Er fragte die Rentierhirten, welche Bereiche sie den Holzfällern überlassen | |
wollten. Im Gegenzug wurden andere Zonen vorerst verschont. Wenn der Wald | |
dann gerodet war, tauchte Heikkuri wieder mit seinen Karten auf und | |
verlangte neue Gebiete. Dreißig Jahre lang kam er immer wieder. Man muss | |
sich den Oberförster in dieser Zeit wohl wie ein Ungeheuer vorstellen, das | |
nie genug bekommt. | |
Perttie Heikkuri sitzt in seiner Kneipenecke und beschreibt sein Vorgehen | |
weniger drastisch: "Ich hatte eigentlich ein gutes Verhältnis zu Kalevi, es | |
lief okay zwischen uns." Dabei dauerte das Ringen um den Wald nun schon | |
länger als manche Ehe, Heikkuris vier Kinder waren mittlerweile erwachsen | |
geworden. Um das Jahr 2001 bemerkte der Förster allerdings beim | |
Rentierhirten eine Veränderung. Irgendein Hebel in Paadars Innerem schien | |
umgelegt zu sein. Er ließ nicht mehr mit sich reden, wenn Heikkuri mit den | |
Karten kam. "Ich weiß nicht, was es war, dass er das Ganze plötzlich so | |
weit treiben musste. Er machte die Sache größer als sie eigentlich ist", | |
knurrt Heikkuri. | |
Paadar sitzt abwartend auf dem schrabbeligen Schaukelstuhl im Wohnzimmer | |
seiner Junggesellenbude in Nellim, die Lampe hängt schief von der Decke, im | |
Kamin stapeln sich leere Bierdosen, zwei Hunde schnarchen in einer Ecke. | |
Paadar guckt zur Seite, in Schweigen versunken. Ein Schweigen, das so lange | |
dauert, dass zeitweise unklar ist, ob er an diesem Abend überhaupt noch | |
einmal daraus auftauchen wird. Irgendwann sagt er mit einer Stimme, die | |
knarzt und knattert wie ein kaputter Außenbordmotor: "Wir mussten etwas | |
tun. Sonst wäre alles verloren gewesen." | |
Er hatte begriffen, dass Heikkuri und seinen Holzfäller niemals Ruhe geben | |
würden. Sie würden immer wiederkommen und den ganzen Wald fällen, bis zum | |
letzten Nadelbaum. Paadar beschloss, zu anderen Maßnahmen zu greifen. Er | |
beschloss, mit den Greenpeace-Leuten zusammenzuarbeiten. | |
## Die Vegetarier von Greenpeace machten Wind | |
Die Greenpeace-Leute waren schon länger in der Gegend. Es waren junge, | |
tatendurstige Menschen, die zu den samischen Rentierhirten liefen und sie | |
nach den Wäldern fragten. Die Tatsache, dass in Lappland viele Sami gemäß | |
der Tradition und mangels Alternativen immer noch von den Rentieren leben, | |
machte sie zu den Hauptleidtragenden der Waldzerstörung. Im Frühjahr 2004 | |
kam sogar ein Waldexperte von Greenpeace aus Hamburg angereist. Deutschland | |
ist der wichtigste Abnehmer des Papiers, das aus dem finnischen Holz | |
produziert wird. | |
Dem Rentierhierten gefielen die Greenpeace-Leute, auch wenn sie fast alle | |
Vegetarier waren und sich zierten, wenn man ihnen ein paar Scheiben | |
Rentierwurst anbot. Der Waldexperte aus Deutschland sagte, er wolle die | |
Sache an die ganz große Glocke hängen. Er wollte internationales Aufsehen | |
erregen. Der Waldexperte redete mehr, als es die Menschen in dieser Gegend | |
gewohnt sind. Er sprach von einem Protestcamp, das sie nächstes Frühjahr im | |
Wald aufbauen wollten. Paadar hatte die Ahnung, dass mit dem Waldexperten | |
etwas in Bewegung geraten könnte. Vielleicht braucht man einen lauten | |
Schwätzer, um in der Welt Gehör zu finden. Er lud die Greenpeace-Leute ein, | |
das Camp in Nellim aufzubauen. | |
Der Waldexperte fuhr zurück nach Hamburg. Kurz darauf besuchte er mit zwei | |
aus Lappland angereisten Sami-Rentierhirten den Verband deutscher | |
Zeitschriftenverlage in Berlin. Die Rentierhirten erzählten den Verlegern | |
von der Urwaldzerstörung. Hinterher gab es hektische Telefongespräche | |
zwischen deutschen Verlagsmanagern und finnischen Papierfabrikanten. Der | |
Waldexperte hatte begonnen, Wirbel zu machen. | |
Im März 2005 bezogen dann rund zwanzig Greenpeace-Aktivisten aus Brasilien, | |
Italien, Deutschland, Schweden und Neuseeland zwei Wohncontainer im Wald | |
bei Nellim. Die Aktivisten liefen mit Paadar durch den verschneiten Wald | |
und hängten Schilder auf. Darauf stand: "Achtung! Wichtiger Wald für die | |
Rentierwirtschaft!" | |
Man kann sich vorstellen, dass nicht alle im Dorf begeistert waren von den | |
Entwicklungen. Nicht alle in Nellim leben von den Rentieren, es gibt drei | |
Metsähallitus-Holzfäller im Ort, und einer von ihnen ist Kalevi Paadars | |
Bruder. Der Konflikt begann einen Keil durchs Dorf zu treiben. In einer | |
stillen Region wird es nicht gern gesehen, wenn ein einfacher Hirte den | |
Mund aufmacht. Die Menschen scheuen Konflikte. Sie sperren die Häuser und | |
Autos nicht ab. Andererseits besitzt fast jeder eine Jagdwaffe. Es gibt | |
viele, die schon mittags gegen die Dunkelheit antrinken. Oberförster | |
Heikkuri erklärt: "Die Leute wollten sich nicht von irgendwelchen jungen | |
Hippie-Typen aus der Stadt sagen lassen, wie sie zu leben haben." | |
Kurzum: Die Holzfällergewerkschaft rief zum Boykott von Rentierfleisch auf. | |
Unterschriften gegen Kalevi Paadar und das Camp wurden gesammelt. Alte | |
Männer, die jahrelang nur schweigend in der Ecke gesessen waren, sprangen | |
auf Dorfversammlungen auf und brüllten Kalevi Paadar an. Die Besitzerin des | |
Dorfsupermarkts weigerte sich, die Greenpeace-Aktivisten zu bedienen. | |
Wenige Meter neben dem Greenpeace-Camp bauten Holzfäller ein Zelt auf und | |
nannten es "Anti-Terror-Camp". | |
Die Dinge gerieten außer Kontrolle. Tagsüber lagen die Holzfäller im Zelt | |
und betranken sich, nachts wummerten sie besoffen mit den Fäusten gegen die | |
Türen der Greenpeace-Container. Sie ließen ihre Kettensägen aufheulen und | |
brausten mit ihren Snowscootern durch die Nacht wie wild gewordene | |
Teenager. Sie rissen die Greenpeace-Schilder ab, hängten Galgen im Wald auf | |
und verbrannten Holzkreuze. Sie schmierten Hühnermist gegen die Scheiben | |
der Greenpeace-Container. Ein Greenpeace-Mann erhielt per Telefon eine | |
Morddrohung. | |
Die Aktivisten blieben. Sie luden den Geschäftsführer von Stora Enso ein, | |
der größten finnischen Papierfabrik. Tatsächlich kam der Geschäftsführer | |
aus Helsinki, stapfte mit den Aktivisten und Paadar durch den Wald, schaute | |
sich die Bartflechten an den Ästen an und dann die abgesägten Stämme am | |
Straßenrand. Er dachte an die Telefonate mit den deutschen Verlagsmanagern. | |
Nach seiner Rückkehr nach Helsinki schickte er eine Presseerklärung heraus, | |
in der stand, dass Stora Enso bis auf Weiteres kein Holz mehr aus dem | |
umstrittenen Gebiet verarbeiten werde. Da stoppte Metsähallitus das | |
Baumfällen. | |
## Die Sägen kamen wieder, der Hirte ging aufs Ganze | |
Die Greenpeace-Aktivisten bauten ihr Camp ab und reisten weiter. Kalevi | |
Paadar blieb zurück, ging fischen, guckte nach seinen Rentieren. Lauerte. | |
Er traute dem Frieden und Oberförster Heikkuri nicht. | |
Tatsächlich fing Metsähallitus wenige Monate später wieder damit an, rund | |
um Nellim Bäume zu fällen. Vielleicht hatte Paadar nichts mehr zu | |
verlieren. Vielleicht hatten sich die Maschinen von Metsähallitus so weit | |
in sein Leben gesägt, dass er nicht mehr zurückkonnte. Er sitzt in seinem | |
Schaukelstuhl, er mag es nicht erklären, guckt auf den Boden. Damals | |
jedenfalls entschied er, aufs Ganze zu gehen. | |
Er reichte gegen das Forstamt Metsähallitus und die finnische Regierung | |
eine Klage beim Amtsgericht in Ivalo ein. In der Klage stand, dass die | |
Abholzung die Rentierhaltung beeinträchtige und so die Kultur der Sami | |
bedrohe. Paadar schickte die Klage gleichzeitig zum UN-Menschenrechtsrat | |
nach Genf. Seine neuen Greenpeace-Freunde hatten ihn auf diese Idee | |
gebracht. "Einfach sehr nette Leute", ist alles, was er heute dazu sagt, er | |
schaukelt provozierend in seinem Schaukelstuhl. | |
Die Klage war ein Coup. Denn sie beinhaltete einen großen Vorwurf. Einen | |
Vorwurf, der den Rentierhirten Paadar aus seinem gelben Holzhaus an der | |
Nellimer Dorfstraße heraushievte und in einen größeren | |
gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang stellte. Er war auf einmal nicht nur | |
ein einfacher Rentierhirte, sondern Anghöriger einer bedrohten Minderheit. | |
Als Oberförster Heikkuri von der Klage erfuhr, konnte er es nicht fassen. | |
Auch jetzt in der Kneipe in Ivalo ist er nicht darüber hinweg. Er rutscht | |
auf seinem Stuhl herum und schwitzt. "Die Vorstellung, dass unsere | |
Baumfällarbeiten die samische Kultur bedrohen, ist lächerlich!", ruft er. | |
"Ich bin selber Sami! Viele meiner Holzfäller sind Sami! Kalevis eigener | |
Bruder ist Holzfäller! Dieser Vorwurf ist ein Totschlagargument!" Heikkuri | |
guckt wütend gegen die Wand. | |
In der Forstbehörde klingelte das Telefon ununterbrochen. Die Kunden der | |
Holzverarbeitungsbetrieben riefen an, Heikkuris Chefs aus Helsinki | |
polterten am Telefon, Politiker stellten Fragen, Fernsehteams wollten in | |
den Wald fahren. Es hörte nicht auf. | |
Nellim war zerrissen. Den Rentierhirten flog neue Hoffnung zu. Unterdessen | |
schrieben die Anhänger der Anti-Kalevi-Paadar-Bewegung einen Brief an den | |
UN-Menschenrechtsrat. Sie schrieben, der Mann sei ein "von Greenpeace | |
manipuliertes Meerschweinchen". | |
Kurz darauf schickte der UN-Menschenrechtsrat eine E-Mail an den finnischen | |
Außenminister. Der Rat empfahl der finnischen Regierung, den Holzeinschlag | |
zu unterbrechen, bis der Fall geklärt sei. Eine Niederlage für Oberförster | |
Heikkuri. Die Forstbehörde kündigte an, die Arbeit in der Gegend um Nellim | |
ruhen zu lassen. | |
Wenig später protestierten Greenpeace-Aktivisten mit Schlauchbooten im | |
Hafen von Lübeck gegen die Urwaldzerstörung in Finnland. Die Aktivisten | |
blockierten einen Frachter, der Papier aus Finnland nach Deutschland | |
liefert. | |
Paadar bekam inzwischen E-Mails und Anrufe aus der ganzen Welt. Er war | |
jetzt so etwas wie ein Held, ein Symbol für den Widerstand gegen die | |
Globalisierung. Die Sami-Vereinigung in Finnland kürte ihn zum "Sami des | |
Jahres 2006". In Nellim wechselten indes viele die Straßenseite, wenn sie | |
ihn sahen. Paadar brummt: "Die Leute von anderswo waren freundlicher als | |
die Leute im Dorf." | |
Dann begann der Prozess am Amtsgericht Ivalo. Die Verhandlung dauerte. | |
Heikkuris Gutachter behaupteten, die Rentiere fräßen überhaupt keine | |
Bartflechten. Sie höhnten, die Rentiere könnten ja nicht auf Bäume | |
klettern, um die Flechten zu erreichen. Richter und Anwälte fuhren in den | |
Wald, um den Zustand der Bäume zu inspizieren. Die Aktenordner auf | |
Heikkuris Schreibtisch stapelten sich, die Kollegen in der Forstbehörde | |
spotteten, ob er angesichts der Gerichtstermine je wieder zur Arbeit | |
erscheinen werde. Und mit jedem Verhandlungstag sah der Rentierhirte Kalevi | |
Paadar die Anwaltskosten weiter wachsen. Wenn er den Prozess verlieren | |
würde, das wusste er, würde es ihn Kopf und Kragen kosten. Er war nervös. | |
Im August 2008 gab der Richter in Ivalo der Forstbehörde Metsähallitus | |
Recht. Viele fühlten sich in ihrem Verdacht bestätigt, dass die Sami keine | |
Chance haben vor einem finnischen Gericht. Paadar ging trotzdem in | |
Berufung. | |
Ob er bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen würde, | |
fragte ihn damals ein Journalist. Er antwortete in der gewohnt knappen Art: | |
"Ja." | |
Der Streit zwischen den beiden Männern dauerte nun schon fast vierzig | |
Jahre. Oberförster Heikkuri merkte, dass der innere Hebel bei Kalevi Paadar | |
eingerastet war, er würde diesen Hebel nicht mehr umlegen können. Die | |
Papierfabrik Stora Enso hatte endgültig entschieden, kein Holz mehr aus der | |
Region zu kaufen, auch sonst war der Imageschaden beträchtlich. Den | |
Holzeinschlag gegen all diese Widerstände durchzusetzen, versprach keinen | |
finanziellen Gewinn mehr. Heikkuri spürte neuerdings ein böses Stechen in | |
der Herzgegend, er merkte, dass die Sache zu viele Nerven kostete, er | |
merkte, dass dabei alle immer verloren. Er telefonierte mit seinen Chefs in | |
Helsinki. Im Februar 2009 lud er Paadar in die Kneipe nach Ivalo ein. | |
Es folgten mehrere solcher Kneipentreffen. Heikkuri packte seine Karten | |
aus, dieses Mal zeichnete Paadar Kreise um verschiedene Waldgebiete, | |
Heikkuri schüttelte den Kopf, packte die Karten wieder ein, fuhr ins Büro, | |
telefonierte mit Helsinki, lud Paadar wieder ein, der malte neue Kreise auf | |
Karten und so fort. Das Kratzen von Filzstiften auf Papier, das Klingeln | |
von Telefonen. Das waren die Geräusche, die verrieten, dass etwas in | |
Bewegung kam. | |
## Ein Fest am Inari-See, eins im Schaukelstuhl | |
Im August endeten die Kneipentreffen. Mit zwei Seiten Papier, die den | |
Konflikt beilegen. Auf den zwei Seiten stand, dass Metsähallitus in den | |
nächsten zwanzig Jahren auf den Holzeinschlag in dem umstrittenen 16.000 | |
Hektar großen Urwaldgebiet verzichten wird. Davon, dass der Holzeinschlag | |
nach dieser Zeit wiederaufgenommen wird, geht keine der Parteien aus. | |
Wie die beiden Männer den neuen Frieden gefeiert haben? | |
Oberförster Heikkuri ist in seine Holzhütte am Inari-See gefahren und hat | |
versucht, vom Stress runterzukommen. Jetzt sitzt er in der Kneipe in Ivalo, | |
lehnt sich zurück, lächelt unstet, und das zeigt schon, dass die ganze | |
Sache bei ihm nachwirkt. | |
Kalevi Paadar in seinem Wohnzimmer guckt auf die dicken Wollsocken an | |
seinen Füßen. Als alles vorbei war? "Ein wenig Cognac getrunken", murrt er | |
aus seinem Schaukelstuhl heraus. Mehr nicht. Die Begeisterung scheint in | |
den Wäldern hinter der Nellimer Dorfstraße stecken geblieben. Vor kurzem | |
hat Paadar seinen Geburtstag gefeiert. Sogar sein Bruder, der Holzfäller, | |
ist diesmal gekommen. Man kann also davon ausgehen, dass die Dinge für | |
Paadar auch in privater Hinsicht wieder leichter werden. | |
Von ihm selbst ist darüber im Moment wenig zu erfahren. Er sitzt in seinem | |
Stuhl, die Hunde schnarchen. Es wird nichts mehr passieren. Paadar ist | |
allein und starrt in die Dunkelheit vor dem Fenster. "Friede auf Erden", | |
hat er vorhin gesagt. | |
Kirsten Küppers, 37, ist sonntaz-Autorin. In Finnlands Urwäldern soll es | |
auch Bären und Wölfe geben. Die hat sie aber nicht gesehen. | |
24 Dec 2009 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Küppers | |
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