# taz.de -- Debatte Lateinamerika: Kontinent der Hoffnung | |
> Die Nullerjahre waren für Lateinamerika nicht verloren. Erfolgreich | |
> kämpften die linken Regierungen gegen die bitterste Armut. Nun müssen die | |
> Ziele weiter gesteckt werden. | |
Bild: Geliebt von großen Teilen seines Volkes: Brasiliens Präsident Lula da S… | |
Für Lateinamerika waren die Nullerjahre alles andere als ein verlorenes | |
Jahrzehnt. Und trotz wachsender Widerstände ist ein Ende der rosaroten | |
Welle, die Millionen aus der absoluten Armut herausgeholt hat, | |
glücklicherweise nicht zu erkennen. | |
Während die Sozialdemokratie in Europa vor einem Scherbenhaufen steht, ist | |
es zwischen Rio Grande und Feuerland die Rechte, die konzeptionslos und | |
anachronistisch wirkt. Nur dort, wo sie mit Rückendeckung aus den USA auf | |
nackte Gewalt setzen wie in Kolumbien oder Honduras, behalten die strammen | |
Konservativen klar die Oberhand. | |
Die jüngsten Wahlen haben dies bestätigt. Nicht einmal im neoliberalen | |
Musterland Chile ist trotz Abnutzungserscheinungen der seit 1990 | |
regierenden Mitte-links-Allianz der Sieg des rechten Lagers in der | |
kommenden Stichwahl ausgemachte Sache. An der in Chile besonders tiefen | |
Kluft zwischen Arm und Reich hatte auch Präsidentin Michelle Bachelet | |
nichts geändert. Das führte zu Apathie. Eine Neuformierung des progressiven | |
Spektrums wird deswegen in Chile noch einige Jahre brauchen. | |
In Bolivien und Uruguay hingegen wurden zwei Linksregierungen klar im Amt | |
bestätigt. Im Andenland triumphierte der indigene Staatschef Evo Morales | |
mit 64 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 95 Prozent. Im Parlament | |
verfügt der Sozialist künftig sogar über eine Zweidrittelmehrheit. Am Río | |
de la Plata siegte mit José Mujica ein weiterer charismatischer Vertreter | |
der Latino-Politiker "aus dem Volk". Er kann mit einer absoluten Mehrheit | |
im Kongress regieren. | |
Bolivien und Uruguay wiesen 2009 die höchsten Wachstumsraten in ganz | |
Amerika auf. In beiden Ländern honorierten die WählerInnen die Bemühungen | |
der Linken, dieses Wachstum für soziale Reformen zu nutzen. Bemerkenswert | |
dabei: Der Staat wird nicht ab-, sondern ausgebaut. Die Politik des | |
uruguayischen Linksbündnisses Frente Amplio erinnert am ehesten an die alte | |
Sozialdemokratie europäischen Zuschnitts und kann dabei an eigene | |
Traditionen anknüpfen. Morales hingegen steht vor der ungleich | |
schwierigeren Aufgabe, auf dem Scherbenhaufen seiner neoliberalen Vorgänger | |
etwas ganz Neues aufzubauen. | |
Ähnlich wie der im April ebenfalls wiedergewählte Rafael Correa in Ecuador | |
und Hugo Chávez in Venezuela will Morales die hehren Vorsätze einer neuen | |
Verfassung zugunsten der Armen umsetzen. Dass gerade diese drei oft als | |
"Populisten" diffamiert werden, hat damit zu tun, dass der von ihnen | |
angestrebte Systemwechsel auf Kosten der alten Eliten zu gehen droht. | |
Die Achillesferse dieser drei Projekte ist die Ausrichtung auf eine einzige | |
Führerfigur, was im Widerspruch zur viel beschworenen Bürgerpartizipation | |
steht. In Venezuela, wo Chávez erster Wahlsieg elf Jahre zurückliegt, | |
zeigen sich die Verschleißerscheinungen am deutlichsten. Gewerkschaften und | |
soziale Bewegungen werden dort zum Transmissionsriemen der Staatsmacht | |
degradiert, undogmatische Linke an den Rand gedrängt. Einher geht dies mit | |
dem ausufernden Führerkult um Chávez, der sich per Referendum die | |
Möglichkeit zu immer neuen Wiederwahlen sicherte. | |
Mittelfristig könnten der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" und seine | |
Varianten ebenso wie der Realsozialismus des 20. an fehlender Demokratie | |
scheitern - und an einem Wirtschaftssystem, das sich immer mehr in | |
Verstaatlichungen erschöpft. Zudem bleiben auch Chávez, Morales und Correa, | |
allen frommen Absichtserklärungen zum Trotz, einer überholten Wachstums- | |
und Raubbaulogik verpflichtet. | |
Noch ungezügelter wird die Ausbeutung der Ressourcen in den Nachbarländern | |
vorangetrieben, vor allem in Kolumbien und Peru. Mit nackter Gewalt gehen | |
die dortigen Regierungen gegen die ländlichen Gemeinschaften vor, die sich | |
gegen die Zerstörung ihres Lebensraums wehren. In Kolumbien werden | |
Kleinbauern durch Paramilitärs vertrieben, damit sich moderne | |
Palmölplantagen ausbreiten können. Erdöl- und Bergbaumultis treiben | |
peruanische Indígenas ins Elend. Die Erschließung Amazoniens durch | |
Megaprojekte im Dienst des Kapitals geht weiter. | |
Der Gewinner heißt Lula | |
Zu den großen Gewinnern des Jahres gehört Brasiliens Präsident Luiz Inácio | |
Lula da Silva, der mit einer Rekordzustimmung von 72 Prozent in sein achtes | |
und vorläufig letztes Amtsjahr geht. Dank einer pragmatischen | |
Wirtschaftspolitik, der Diversifizierung seiner Handelspartner und der | |
Ausweitung des Binnenmarktes überstand die Regionalmacht die | |
Weltwirtschaftskrise unbeschadet. | |
Der Economist feiert Lula für sein Geschick bei der Abfederung und | |
Neubelebung des Kapitalismus, die Linke lobt seine eigenständige | |
Außenpolitik, die auf eine multipolare Weltordnung abzielt - im Gegensatz | |
zum Primat aggressiver westlicher Dominanz. Zusammen mit seinen linken | |
KollegInnen steht er für die Emanzipation Lateinamerikas aus der | |
jahrhundertelangen Abhängigkeit von Europa und den USA. | |
Das stößt auf den Widerstand der Regierung Obama/Clinton: Die heftigsten | |
Dispute zwischen Washington und Brasília entzündeten sich am Putsch in | |
Honduras und am weiteren Ausbau Kolumbiens zu einem riesigen | |
US-amerikanischen Stützpunkt mitten im Subkontinent. 2010 dürften sich | |
solche Konflikte verschärfen, die Aufrüstungsspirale dreht sich weiter. | |
In diesem Szenario kommt Brasiliens Präsidentschaftswahl im Oktober eine | |
Schlüsselrolle zu. Trotz seiner enormen Popularität widerstand Lula der | |
autoritären Versuchung, per Verfassungsänderung den Weg zu einer dritten | |
Amtszeit in Folge anzustreben. Damit eröffnete er unfreiwillig der grünen | |
Kandidatur der früheren Umweltministerin Marina Silva den Weg. | |
Immer deutlicher zeichnet sich nach den ersten ermutigenden Antworten auf | |
die soziale Frage eine neue Agenda ab, der sich Lateinamerika ebenso rasch | |
verschreiben muss wie der Rest der Welt: strukturelle Überwindung der | |
Ungleichheit, Demokratisierung aller Lebensbereiche und eine Wende hin zu | |
ökosozialen Wirtschaftsweisen. | |
28 Dec 2009 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
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