# taz.de -- Ein Jahr nach dem Gazakrieg: Bauen ohne Steine | |
> Ein Jahr ist es her, dass Israel einen Dreiwochenkrieg im Gazastreifen | |
> führte. Die Blockade besteht fort, Baumaterialien und Rohstoffe fehlen. | |
> Wie geht der Wiederaufbau voran? | |
Bild: Palästinenser beim Wiederaufbau durch "Recycling". | |
GAZA-STADT taz |Mit bloßen Händen biegen drei junge Männer aus Seytoun, | |
südlich von Gaza, alte Eisenstangen wieder gerade. Das eine Ende wird in | |
den Schraubstock gespannt, um dann den fingerdicken Stangen Zentimeter um | |
Zentimeter ihre alte Form zurückzugeben. "Recycling" ist das Zauberwort, | |
mit dem sich die Leute aus Gaza über den Mangel an Baustoffen hinweghelfen. | |
Kein noch so verrosteter Eisenstab wird weggeworfen, kein zerstörtes | |
Gemäuer bleibt ungenutzt. In mühsamer Handarbeit und mithilfe von | |
importiertem Zement aus Ägypten produzieren kleine Unternehmen einen | |
Baustein nach dem anderen. | |
Ein Jahr nach dem Gazakrieg, bei dem im Januar 2009 mehr als 1.300 | |
Palästinenser starben, verwehren die israelischen Behörden noch immer die | |
Lieferung von Baumaterial und anderen Rohstoffen nach Gaza. Zugelassen sind | |
lediglich einige Grundnahrungsmittel und Medikamente. Fast alles andere | |
gelangt durch die Tunnel aus Ägypten hierher - ob Kartoffelchips oder | |
Colaflaschen, Stereoanlagen oder ganze Kühlschränke. Geliefert wird alles, | |
was bestellt wird, vorausgesetzt der Kunde kann den Aufschlag von 30 bis 40 | |
Prozent auf den normalen Preis bezahlen. Dass Ägypten nun den Bau einer | |
Metallwand plant, die 18 Meter tief in die Erde reichen soll, um den | |
Schmuggel zu verhindern, schreckt in Gaza niemanden. "Wenn es sein muss, | |
graben wir auch 35 Meter tief", sagt ein Händler. | |
Nur ein paar hundert Meter von der Steinproduktion entfernt steht der | |
Neubau der Familie Samouni. Etwas weniger als 10.000 Euro haben die Hamas | |
und die Palästinensische Autonomiebehörde den Überlebenden der Familie | |
zukommen lassen. Das Geld reichte knapp für den provisorischen Rohbau mit | |
Wellblech anstelle eines Dachs. Es gibt nur eine Tür, die konnte aus dem | |
alten Haus gerettet werden. Der 12-jährige Mohammad Samouni weist auf drei | |
Einschusslöcher. Die Kugeln, die die Tür durchbohrt hatten, töteten am 5. | |
Januar seinen Vater. | |
Mohammads älterer Bruder Farraj hat dicke Plastikplanen vor die Fenster | |
gehängt, denn Glas ist im Gazastreifen Mangelware. "From the people of | |
Japan", steht dort. Der Wind pfeift durch die Zimmer, die mit wenigen | |
Matratzen spartanisch möbliert sind. An den frisch geweißten Wänden hängt | |
ein Plakat mit den Bildern und Namen der Opfer der Operation "Gegossenes | |
Blei" - so hieß die israelische Militäroffensive, die 21 Mitglieder der | |
Großfamilie Samouni das Leben kostete. | |
Nur die männlichen Opfer sind auf Fotos abgebildet, unter den Namen der | |
getöteten Frauen befindet sich eine weiße Rose. "Sieh mal hier", sagt | |
Mohammad und deutet auf einen der Namen. "Das ist meine Mutter." Darüber | |
die Bilder zweier Onkel und des Großvaters, unten der vierjährige Bruder | |
mit drei Einschüssen auf der bloßen Brust. | |
Farraj sitzt mit Winterjacke, ohne Strümpfe in Sandalen auf einem | |
Plastikstuhl, reibt sich müde die Augen und zündet eine Zigarette an. Bis | |
spät abends hat der 23-Jährige, seit dem Tod der Eltern für die Geschwister | |
verantwortlich, gegen ein kleines Entgelt dem Nachbarn bei der Aussaat und | |
beim Anstreichen des Hauses geholfen. "Das Plakat hat der Islamische | |
Dschihad für uns drucken lassen", erklärt er. "Alle Parteien haben Plakate | |
gedruckt. Wir gehören zu keiner." | |
Familie Samouni lebt auf Pump, aber das soll anders werden. Wie sein Vater | |
baut Farraj auf gepachtetem Land Gemüse an. Sobald Auberginen, Blumenkohl | |
und Salat reif sind, will er die Schulden zurückzahlen. "An manchen Tagen | |
haben wir zu essen, an anderen nicht", sagt er. "Ich muss 16 Leute | |
ernähren." Das sind seine Geschwister und die Familie eines Onkels. Alle | |
zwei Monate schickt die UNRWA (UN-Hilfe für palästinensische Flüchtlinge) | |
ein paar Säcke Mehl, Zucker, Öl und Milchpulver. | |
Zum Frühstück gab es Fladenbrot mit Olivenöl und Gewürzen, wie jeden Tag, | |
bis auf freitags. Farraj ist stolz auf seinen Bruder Mohammad, der ganz | |
allein Pfefferminze zieht, um sie bündelweise für je einen Schekel zu | |
verkaufen. "Ich brauche mindestens drei Stunden, um 20 Schekel (knapp 3 | |
Euro) zusammenzukriegen", lächelt der 12-Jährige stolz. Für das Geld kauft | |
er entweder ein Huhn, das am Abend gegessen wird, oder eine Henne für Eier. | |
Der großen Armut zum Trotz lehnen die jungen Leute eine israelische | |
Wiedergutmachung ab. "Wir wollen, dass die Verantwortlichen vor ein | |
internationales Gericht gestellt werden", sagt Farraj. Darauf hofft er, | |
seit der von der UNO beauftragte Richter Richard Goldstone bei der Familie | |
war, um die Zeugenaussagen zu dokumentieren. | |
Nach Statistiken der Menschenrechtsorganisation al-Mezan leben über 40 | |
Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen in "schwerer Armut" und müssen mit | |
weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen. Der Krieg habe etwa 300 bis | |
400 Familien heimatlos gemacht. Die meisten sind bei Verwandten | |
untergekommen oder in Mietwohnungen, die die Hamas und die UN für zwei | |
Jahre finanzieren. "Die Bevölkerung in Gaza leidet unter | |
Menschenrechtsverletzungen vonseiten des Hamas-Regimes - so wie sie früher | |
unter der Fatah gelitten hat ", sagt Mahmoud Abu Rahma, Chef von al-Mezan. | |
Aber der größte Unterdrücker ist nach wie vor Israel, und das schlimmste | |
Unrecht ist die Blockade." Das Verbot des Rohstoffimports lähme den | |
gesamten Bausektor - "gerade jetzt, da ein Wiederaufbau so nötig wäre". | |
Provisorische Lehmhäuser | |
Mit dem Bau von Lehmhäusern versucht die UNRWA jetzt den Mangel an Beton | |
auszugleichen. Vor wenigen Wochen zog die Familie Athamna in ihr neues, | |
recht hübsches Heim, dessen Errichtung kaum drei Monate brauchte und | |
umgerechnet ganze 8.000 Euro kostete, Türen, Fenster und sogar | |
Küchenschränke inbegriffen. Problematisch ist, dass das 80 Quadratmeter | |
große Haus für die 15-köpfige Familie viel zu klein ist. Für einen zweiten | |
Stock ist das Baumaterial nicht stabil genug. Die Lehmhäuser, von denen | |
laut UN-Sprecher Adnan Abu Hassan noch "einige hundert geplant sind", | |
bleiben angesichts des knappen Baulandes eine Übergangslösung. Viele müssen | |
abgerissen werden, sobald es wieder solideres Baumaterial im Gazastreifen | |
gibt. | |
Das Einzige, was sich für die Verbraucher in Gaza nach dem Krieg zum | |
Besseren wendete, sind die Treibstoffpreise. Ein Liter ägyptischer Diesel | |
ist für nur 1,50 Schekel (ca. 20 Cent) zu bekommen, weniger als ein Drittel | |
des auf dem lokalen Markt üblichen Preises. Auch Superbenzin ist mit 2,70 | |
deutlich billiger, seit es durch einen Gummischlauch direkt aus der | |
ägyptischen Grenzstadt Rafach in den Gazastreifen gepumpt wird. | |
Die günstigen Treibstoffpreise sind mit ein Grund dafür, dass die | |
Ladenbesitzer in den Haupteinkaufsstraßen bei Stromausfall nicht länger | |
zögern, ihre Generatoren anzuwerfen. Viermal die Woche für jeweils acht | |
Stunden müssen sich die Leute mit den alternativen Energieerzeugern über | |
die Runden helfen. Dann macht der ohrenbetäubende Lärm der vor jedem | |
Geschäft postierten Generatoren Unterhaltungen nahezu unmöglich. Und der | |
Gestank der Verbrennungsmotoren reicht bis in die letzten Winkel der | |
kleinen Läden. | |
28 Dec 2009 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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