# taz.de -- Kolumne Die Charts: Wer Cicero sagt, muss Cicero meinen | |
> Die Charts mit der neuen Serie "Was im 21. Jahrhundert wirklich zählt". | |
> Heute: Der Lateinunterricht. | |
Der Name des römischen Politikers Marcus Tullius Cicero hat an Glanz | |
verloren. Das liegt weniger an den politischen Intrigen gegen ihn in der | |
Folge seines Konsulats oder an der Deutungshoheit seiner Gegner während der | |
Herrschaft Octavians als Kaiser Augustus. Und auch nicht an Mommsens | |
Kritik. Es liegt an einem durchaus ehrenwerten Monatsmagazin namens Cicero. | |
Dieses genießt in den gebildeten Ständen, die man als linksliberal zu | |
bezeichnen pflegte, etwa soviel Ansehen wie Mario Barth. Wobei die meisten | |
das Heft selbstverständlich genauso wenig gelesen haben wie die "Tusculanae | |
disputationes". | |
Ob sie mit ihrer Einschätzung richtig liegen, soll nicht Gegenstand dieser | |
Erörterung sein. Worum es mir heute geht: Dass viele Bürger bei Cicero | |
nicht mehr an Cicero denken, sondern an Scheiße, das ist nicht hinzunehmen. | |
Oh tempora, oh mores. Darum weise ich etwas spät auf Robert Harris' Roman | |
"Titan" (Heyne) hin. "Titan" (den deutschen Titel mal außen vor) ist ein | |
gutes und gut zu lesendes Buch. Es erzählt (aus der Sicht seines Sklaven | |
und Sekretärs), wie der Senator und Jurist Cicero im Jahr seines Konsulats | |
(63. v. Chr.) eine Verschwörung des ihm bei der Wahl unterlegenen | |
Patriziers Lucius Sergius Catilina gegen den Staat verhindert - nicht mit | |
Moral, sondern mit allen Tricks. Zu dieser Zeit hat Rom vor allem dank | |
Gnaeus Pompeius seine Weltherrschaft ausgedehnt. | |
Cicero ist ein Aufsteiger und hat das Angeben nötig (vgl. Schröder und | |
Fischer). Sein Ziel ist Unsterblichkeit durch eine besondere Leistung. | |
Dafür (ge)braucht er die Catilinarische Verschwörung. Aber er ist auch ein | |
aufrechter Republikaner. Und er steht nicht nur gegen Catilina, sondern | |
gegen die von Machtwillen und Geldgier getriebenen Mitsenatoren und | |
möglichen Mitverschwörer Gaius Julius Caesar, Marcus Crassus und Pompeius | |
(ein Triumvirat, das es sogar mit Brandt, Schmidt, Wehner aufnehmen kann). | |
Es geht um die Frage, wie Politik funktioniert (moralisch richtig ist | |
politisch fatal) und wie Politiker sein müssen, um erfolgreich "gute" | |
Politik machen zu können (flexibel, geschmeidig) - und dabei zu überleben. | |
Nicht nur politisch, sondern physisch. | |
Nun mag der Leser dieser Zeitung einwenden, Harris sei nicht zu vergleichen | |
mit Sallusts "De coniuratione Catilinae". Selbstverständlich nicht. Es ist | |
ein Einstieg. Wer Harris gelesen hat, wird danach zu Sallusts Monografie | |
greifen. Um schließlich höchsten Genuss zu finden im lateinischen Original | |
jener vier Catilinarischen Reden, die Cicero Ende 63 vor Senat und Volk | |
gehalten hat. | |
Noch auf dem Totenbett werde ich daran denken, was Wolfgang Knodel in einer | |
Klassenarbeit aus Ciceros Aufschrei in der 1. Rede machte, bei der Catilina | |
noch seelenruhig im Senat herumsitzt. "Patent portae, proficiscere", ruft | |
Cicero. Also: Er, Catilina, solle abhauen; die Tore stünden offen. Um die | |
Alliteration zu bewahren, übersetzte mein genialer Mitschüler: Gatter | |
geöffnet, geh! Grandios. Das sicherte ihm die Unsterblichkeit und außerdem | |
einen im Lehrplan nicht vorgesehenen Extrapunkt von Studiendirektor Stock. | |
Und so appelliere ich: Liebe mittelalte Eltern, haben Sie Mut, lassen Sie | |
Ihre Kinder Latein lernen. Inklusive Leistungskurs. Wer Cicero sagt, muss | |
wieder Cicero meinen. Das Fach Latein gehört genauso in den neubürgerlichen | |
Kanon wie Klimakultur und ist essenziell für ein Gelingen des 21. | |
Jahrhunderts. Sicher: Wir und unsere Kinder brauchen ein paar Jahre Geduld. | |
Aber am Ende wird unsere Geduld nicht missbraucht werden. | |
Im Übrigen darf der FC Bayern München nicht Deutscher Meister werden. | |
7 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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