# taz.de -- Debatte USA: Wer ist der vierte Obama? | |
> Es wird eng im Weißen Haus, denn drei Obamas teilen sich dort seit zwölf | |
> Monaten ein Büro. Und der Präsident ist dabei, sich noch mal neu zu | |
> erfinden. | |
Das Weiße Haus ist zu klein für Obama mit seinen Hunderten von Beamten. | |
Franklin Roosevelts Mitarbeiterstab zu Zeiten des New Deal und des Kriegs | |
war kleiner als der Stab der jetzigen First Lady. Allen voran dem | |
Präsidenten selbst ist das Office zu klein, denn während er das erste Jahr | |
seiner Amtszeit abschließt, sitzen dort drei Obamas. | |
Der erste ist der Obama aus Sicht der Republikaner. Die schlichten Gemüter, | |
die kurz davorstehen, die Partei von den letzten zivilisierten | |
Konservativen zu übernehmen, halten ihn für unrechtmäßig. Sie beharren | |
darauf, dass er in Kenia geboren wurde und deshalb für das Amt des | |
Präsidenten nicht wählbar sei. Als Muslim sei er zudem ein Fremder in einer | |
christlichen Nation, als "Sozialist" versessen darauf, den privaten Sektor | |
vollständig zu enteignen. Am Ende sei er Schwächling, der sich für die | |
Bereitschaft der Nation entschuldigt, im Namen unserer offensichtlichen | |
Tugenden Macht auszuüben. | |
Möglicherweise glaubt jeder vierte Amerikaner so etwas. Im Schulterschluss | |
mit anderen, die ihren Unmut über Kultur und Wirtschaft äußern, bilden sie | |
eine Front der Entrechteten. Die Wahl Obamas, von einer Koalition aus | |
Afroamerikanern, Latinos, Frauen, jungen Leuten, Gewerkschaftern und | |
Gebildeten ermöglicht, war zweifellos epochal. Im Moment aber gehört das | |
neue Zeitalter erzürnten Weißen, die Menschen über sich ebenso hassen wie | |
diejenigen unter sich. | |
Der zweite ist der Obama, wie ihn seine glühendsten und inzwischen | |
enttäuschten Anhänger sehen: ein berechnender Politiker, der seine | |
Prinzipien systematisch verrät. Vertreter der Wall Street hat er in | |
wichtige wirtschaftliche Ämter berufen und für seine Gesundheitsreform | |
nicht im Namen sozialer Gerechtigkeit, sondern einer klugen | |
wirtschaftlichen Maßnahme geworben. Er akzeptiert den Vorrang der Senkung | |
staatlicher Ausgaben vor der Ausweitung von Regierungsprogrammen, ob für | |
Konjunkturprogramme oder zur Bekämpfung der wachsenden Ungleichheit. Er | |
verkündet, das Land befinde sich im Krieg gegen den "Terror", de facto ist | |
es die Fortsetzung von Bushs Krieg gegen den Islam. Er lässt die Generäle | |
gewähren, als befehligten sie eine Besatzungsarmee. Das Militär bleibt | |
relativ verschont von Etatbeschränkungen. Und nicht zuletzt wirkt Obama oft | |
unnahbar, ein sagenumwobenes Land bewohnend, in dem Konsens herrscht und | |
kein erbitterter Kampf. | |
Es gibt aber auch einen dritten Obama: den eigentlichen Präsidenten, der | |
einem schweren Erbe und einem dysfunktionalen politischen System die Stirn | |
bietet. Er führt den Vorsitz über eine zerstrittene Demokratische Partei, | |
die nur über eine sehr kleine Mehrheit im Repräsentantenhaus verfügt und | |
über sechzig unsichere Stimmen im Senat, dem Minimum, um Gesetzesvorhaben | |
durchzubringen. Die Legislative kann sich vor wirtschaftlichen, ethnischen, | |
ideologischen und religiösen Lobbys nicht retten. Die Medien stellen sich | |
in den Dienst systematischer Desinformation und Ignoranz. Außenpolitik und | |
militärischer Apparat sind versiert darin, dem Präsidenten jede Freiheit | |
abzusprechen, das träge amerikanische Imperium zu verändern, und sie | |
gleichzeitig für die anhaltende Katastrophe, die unsere globale Präsenz | |
darstellt, verantwortlich zu machen. Die Mehrheit der Amerikaner hält | |
verbissen an zwei zentralen Glaubenssätzen fest: dass sie von allen Seiten | |
betrogen und ausgenutzt werden, vor allem vom privaten Sektor und von den | |
korrupten und verlogenen Politikern, und dass sie in dem "großartigsten | |
Land der Welt" leben. Unter diesen Umständen fällt es einem Präsidenten | |
äußerst schwer zu führen, vor allem, wenn seine Vorstellungen etwas | |
komplexer sind und er für Veränderungen eintritt, die vorhandene Interessen | |
bedrohen. Angesichts dieser Schwierigkeiten für vernünftiges politisches | |
Handeln schneidet Obama gar nicht so schlecht ab. Sein Konjunkturprogramm | |
hat die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch bewahrt, und selbst mit einer nur | |
kleinen Gesundheitsreform wird er einem weiteren gesellschaftlichen Zerfall | |
vorbeugen. Seine Prioritäten sind höhere Investitionen in Bildung, | |
Wissenschaft und soziale Infrastruktur, da er nach einem Kapitalismus mit | |
sozialer Verantwortung trachtet, ein Projekt, das durch den Mangel an | |
Kapitalisten mit sozialer Verantwortung erschwert wird. Immerhin gibt es | |
Pläne, die Banken schärfer zu regulieren. | |
Indem er mit dem Iran verzwickte Verhandlungen aufgenommen und einen | |
israelischen Angriff blockiert hat, hat er im Nahen Osten das totale Chaos | |
verhindert und der iranischen Opposition Zeit verschafft. Er hat es gewagt, | |
Israel zu kritisieren, auch wenn er bislang noch nicht ernsthaft Druck auf | |
einen selbstzerstörerischen Satellitenstaat ausübt, dessen bedingungslose | |
amerikanische Unterstützer nicht mehr mit der fraglosen Zustimmung von | |
anderen Amerikanern rechnen können. Er ist einer Konfrontation mit China | |
und Russland aus dem Weg gegangen und hat die Allianz mit Indien gefestigt. | |
Was Lateinamerika angeht, so war er übervorsichtig und hat die | |
Feindseligkeit gegenüber Kuba nicht aufgegeben. Ein großer Teil der | |
informierten Öffentlichkeit hat die Nase voll von den unversöhnlichen | |
kubanischen Exilanten. Es ist absurd, dass die USA normale Beziehungen zu | |
Vietnam unterhalten, nicht jedoch zu Kuba. Abgesehen davon hat Obama | |
erkannt, dass die Lateinamerikaner das Recht haben, sich selbst zu | |
regieren. | |
In Umweltfragen bemüht er sich trotz öffentlicher Ignoranz und zynischer | |
Opposition vonseiten des Kapitals um ein langfristiges Projekt. Von Europa | |
hat er nichts gehört außer unterwürfigen Botschaften von Barroso und | |
Rasmussen. Das Problem der Europäer ist auch das der US-Amerikaner: Uns hat | |
das unabhängige Urteil von Fischer und Védrine, von Chirac und Schröder, de | |
Gaulle, Brandt und Schmidt geholfen. | |
Niemand ist vorbereitet auf die Präsidentschaft - man denke nur daran, wie | |
sehr der junge Präsident in einem Jahr gealtert ist. Doch seine | |
Lernfähigkeit ist unverkennbar, und er wird sich von seinem momentanen Tief | |
erholen. Dann werden wir einen vierten Obama zu sehen bekommen. | |
19 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Norman Birnbaum | |
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