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# taz.de -- Schriftsteller beschreibt Haiti-Beben: Wenn die Mangobäume tanzen
> Der haitianische Journalist und Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert
> ist seit Anfang Januar in Port-au-Prince zu Besuch. Er schildert, wie er
> das Erbeben erlebt hat.
Bild: Menschen campieren in Notunterkünften auf einem Golfplatz in Port-au-Pri…
Eigentlich wollte sich Louis-Philippe Dalembert ein paar schöne Tage in
seiner alten Heimat machen und dann ein Literaturfestival besuchen. Der
haitianische Schriftsteller, der sonst in Frankreich lebt, war zu Besuch
bei seinem Bruder. Doch dann bebte am Nachmittag des 12. Januar 2010 die
Erde.
Seit dem 4. Januar bin ich in Haiti, meinem Geburtsland. Im Prinzip, um an
der zweiten Ausgabe des Literaturfestivals Etonnants Voyageurs
teilzunehmen, das vom 14. bis zum 17. Januar stattfinden sollte. Ich habe
das Festival zum Anlass genommen, etwas früher anzukommen. Es war auch
vorgesehen, dass ich erst später, einige Tage nach dem Ende der
Veranstaltung, abreise.
Am Nachmittag des Erdbebens bin ich bei meinem Bruder, bei dem ich immer
wohne, wenn ich in Haiti bin. An diesem Tag sitze ich im Hof und arbeite.
Eine Viertelstunde früher, und mich hätte es erwischt. Normalerweise
arbeite ich an einer Ecke des Tisches im Esszimmer neben einem großen
Mahagonischrank, in dem die Teller, die Gläser und die Schnapsflaschen
aufbewahrt werden. Irgendwann zwischen halb fünf und zwanzig vor fünf stehe
ich auf und gehe in den Hof. Drinnen ist es zu heiß. Als ich das erste
Dröhnen hörte und der Boden zitterte, dachte ich zuerst, ein Tankwagen sei
vorbeigefahren.
Als der Lärm ohrenbetäubend wird, glaube ich an einen Flugzeugabsturz. Das
Haus meines Bruders liegt weniger als einen Kilometer vom Flughafen
Toussaint Louverture entfernt. Dann sehe ich, wie sich der Boden hebt und
die Bäume um mich herum, zwei riesige Mangobäume und ein Avocadobaum, sich
in alle Richtungen bewegen. Als die Steine der äußeren Einfriedung einer
nach dem anderen beginnen herunterzufallen, begreife ich, was passiert.
Später sehe ich, dass der Mahagonischrank mit seiner ganzen Länge auf den
Tisch gefallen ist, genau auf die Stelle, an der ich noch vor einer
Viertelstunde gearbeitet hatte.
## Staubwolken am Himmel
Doch in diesem Moment denke ich an die gelähmte Schwiegermutter meines
Bruders, die im Haus in ihrem Bett liegt. Ich springe über den kleinen Zaun
des Hofes. Da ich nicht Sotomayor, der kubanische Weltmeister im
Hochsprung, bin, lande ich mit blutigem Schienbein und einer Schramme an
der Hand auf dem Boden. Ich stehe auf und rufe nach der Putzfrau und meinem
Bruder, der in diesem Augenblick aus seinem Schlafzimmer kam. Wir rennen
beide ins Zimmer seiner Schwiegermutter. Trotz der umgefallenen Kommode,
des zerbrochenen Spiegels, der heruntergefallenen Bilder und des
Wasserstrahls aus dem Fußboden begreift die alte Frau nicht, was geschieht.
All dies sollten wir im Nachhinein feststellen. Sie will nicht barfuß aus
dem Haus und verlangt ihre Sandalen. Voll Panik fassen wir sie unter den
Armen und tragen sie ohne viel Federlesens hinaus. Um uns herum fliegen die
Gegenstände durch die Luft. Nachdem wir alle vier im Hof sind, spüren wir
zwei weitere, weniger heftige Stöße. Die Putzfrau steht unter Schock und
bricht in Tränen aus. Ich nehme sie in die Arme. Mein Bruder versucht,
seiner Schwiegermutter erklären, was sie gerade erlebt. Alle Nachbarn sind
draußen. Von weitem, von den Straßen und aus den umliegenden Höfen hört man
Rufe: "Jesus! Jesus!", während der Himmel sich mit einer Staubwolke
bedeckt.
Dank der einzigen Radiostation, die zu dem Thema sendet, sollten wir später
erfahren, dass der erste Erdstoß, der zwischen 45 Sekunden und einer Minute
gedauert hat, eine Stärke von 7,3 und die anderen eine Stärke von 5,9 und
5,5 hatten.
Mein Bruder versucht, seine Frau und seine zwei Kinder anzurufen, die in
der Schule sind. Glücklicherweise wurden die Telefonverbindungen, die nach
einigen Minuten ausgefallen sind, sofort wiederhergestellt. Mein Neffe und
meine Nichte sind an einem Ende der Stadt, ihre Mutter am anderen. Die
Kinder kommen als Erste, meine Nichte weint, dann meine Schwägerin. Jeder
beginnt zu erzählen, wie er erlebt hat, was gerade geschehen ist. Was er
auf dem Weg hierher auf den Straßen gesehen hat. Wir beginnen die Ausmaße
des Phänomens zu ermessen. Nach einigen Minuten gehen wir ins Haus, um
festzustellen, wie hoch der Schaden ist. Alles ist voll Wasser, die Möbel
sind hierher und dorthin verrückt, die Bilder liegen auf dem Boden, das
Geschirr ist in Scherben, die Betten stehen quer vor der Tür. Die Mauern um
den Häuserblock herum sind zusammengefallen.
Nun beginnen die verschiedenen Gerüchte die Runde zu machen. Die meisten
öffentlichen Gebäude sollen eingestürzt sein, vor allem der
Präsidentenpalast, den man hier den Nationalpalast nennt. Dieser und jener
sollen tot sein. Der und der soll eine Nachricht aus den Trümmern geschickt
haben, unter denen er liegt. Zwei unserer Nachbarn werden aus ihren Büros
nie mehr heimkommen. Drei andere sind nach einem dreistündigen Fußweg durch
die zerstörten Straßen der Stadt mit verschiedenen Verletzungen
zurückgekehrt. Barack Obama soll eine Ansprache im Fernsehen gehalten
haben, berichten in den USA lebende Haitianer. Auch Nicolas Sarkozy soll
eine Rede gehalten haben. Auf einen Auftritt des haitianischen Präsidenten
müssen wir bis zum Nachmittag des nächsten Tages warten.
Zunächst müssen wir uns in der Nachbarschaft auf die Nacht vorbereiten. Der
eine bringt den Reis und die Bohnen, der andere das Fleisch. Wieder ein
anderer ein Feldbett und noch ein anderer eine Matte. Wir wissen, dass wir
die Nacht und auch die folgenden Nächte unter freiem Himmel verbringen
werden. So oder so, die Nächte sind schön in Port-au-Prince. Versammelt wie
zu einer Totenwache beruhigen wir uns gegenseitig, lachen und weinen
gleichzeitig. Wir versuchen zu schlafen, aber es gelingt uns nicht recht,
wir achten auf jede kleinste Erschütterung. Die Nacht wird lang, denn
tatsächlich bebt die Erde immer weiter.
Am nächsten Tag gehen wir frühmorgens um sechs mit meinem Bruder in die
Stadt, um uns ein Bild von der Lage zu machen. Was wir sehen, übertrifft
die Bilder, die wir am Vorabend im Internet gesehen haben. Die ganze
Bevölkerung ist draußen und läuft wie ziellos durcheinander. Einige ziehen
einen Koffer hinter sich her. Andere transportieren Verletzte auf dem
Rücken, in einem Schubkarren oder auf einer improvisierten Trage. Die
Gesichter sind verstört. Leichen liegen zu Hunderten in den Straßen.
## Mit Schaufeln bewaffnet
Die meisten öffentlichen Gebäude haben dem Erdbeben tatsächlich nicht
standgehalten. Die kleine Managementschule meines Bruders ist nur noch ein
Trümmerhaufen. Der Wächter steht oben und räumt in einer lächerlichen
Rettungsaktion Akten-Schutt weg. Am Vortag hatte er zusammen mit anderen
mit bloßen Händen an die zehn Leichen daraus geborgen. Später erzählt er
uns, dass sein eigener Sohn nicht überlebt hat. Am Tag danach werden wir
andere Leute sehen, die, bewaffnet mit einer einfachen Schaufel, auf eigene
Initiative versuchen, die Straßen zu reinigen. Das geschieht oft bei
Katastrophen in Haiti: Die kleinen Leute reagieren immer als Erste. Beim
Gedanken daran kommt man sich unbedeutend vor. Trotz des großzügigen
Angebots der französischen Botschaft, mich nach Paris zurückzufliegen, habe
ich mich daher entschlossen, noch ein wenig zu bleiben.
20 Jan 2010
## AUTOREN
Louis-Philippe Dalembert
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