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# taz.de -- Leben im S-Bahn-Chaos: Der alltägliche Ausnahmezustand
> Morgen trifft der Regierende Bürgermeister den Bahnchef zum
> S-Bahn-Gipfel. Konkrete Ergebnisse erwartet davon niemand. Nur gut, dass
> die Berliner sich inzwischen mit dem Chaos arrangiert haben
Bild: Die Bahnsteige sind voll, die Züge auch - aber nach Monaten des Ausstand…
Am Alexanderplatz ist am Morgen die Alarmanlage angegangen. Die Menschen,
die am Gleis 4 auf die S-Bahn warten, haben sie direkt vor Augen, sie
gehört zum Kaufhaus gegenüber, gleich hinter der Glasfassade des Bahnhofs.
Eine rote Lampe blinkt in kurzen Abständen auf, durch einen Lautsprecher
jault eine hohe Tonfolge. Hier! Schaut her! Ausnahmezustand! - ruft die
Anlage. Aber die Wartenden schauen nicht hin. Sie blicken nach rechts.
Von dort soll ihre S-Bahn kommen, jeden Moment. Den Countdown hat die
Anzeigetafel schon vor ein paar Minuten auf null heruntergezählt. Die
vielen dutzend Menschen formen auf dem Bahnsteig eine S-Bahn, genauso lang
und breit wie ein Zug stehen sie, warten und schweigen.
Ein halbes Jahr nach Beginn des S-Bahn-Chaos in Berlin sieht ein Morgen im
Berliner Berufsverkehr anders aus als noch im Juli. Nicht nur weil doch
einige Linien regelmäßig fahren, weil eher Zugverkürzungen als
Totalausfälle die Regel sind, weil es hier und da feste
20-Minuten-Taktungen gibt, an die sich die Pendler anpassen können. Sondern
auch weil man sich in Berlin an jeden Ausnahmezustand gewöhnt. Selbst wenn
er wie in diesen Tagen bedeutet, dass auf der S-Bahn nur gut 300 statt 550
Viertelzüge im Einsatz sind.
Im Juli schimpften die Wartenden noch gemeinsam, wer wütend war,
sozialisierte sich spontan mit anderen. Inzwischen haben sich die übrig
gebliebenen S-Bahn-Fahrer auf einen neuen Verhaltenscode geeinigt:
hinnehmen.
Als die S-Bahn einfährt, fädeln sich 20 Menschen durch die Tür in den
Waggon. Sie bewegen sich zügig, aber niemand drängelt. "Bis nach hinten
durchgehen", muss hier keiner mehr sagen, das wissen sie. Als die Letzte
drin ist, die Tür sich schließt, stehen alle Körper an Körper. Man spürt
den Stoff der Jacke des Nachbarn. "Entschuldigung", sagt leise, wer
versehentlich gegen einen anderen stößt. Die Antwort ist ein schläfriges
Kopfnicken.
Nur eine Frau bricht den Code, sie schnaubt aus den Nasenlöchern. "Ich kann
halt nicht!", antwortet sie einer Frau, die hinter ihr steht und aussteigen
möchte. Als ein Mann sie mit seiner braunen Ledertasche trifft, ruft sie
laut: "Aua!" Die Frau starrt grimmig nach vorn. Sie fällt auf.
Am S-Bahnhof Yorckstraße bleibt ein Zug einige Minuten am Bahnsteig stehen,
niemand fragt, was los ist. Es steht nur jemand auf und schließt per
Knopfdruck die Tür. Es ist kalt.
Am Bahnhof Messe Süd liegt in der Mitte des Bahnsteiges ein Berg Schnee,
mehr als einen Meter hoch zusammengekehrt. Links davon läuft über die
Anzeigetafel: "Richtung Spandau Min 06/26/46", auf der anderen Seite: "S3
Erkner ab Westkreuz zu den Min 09/29/49". Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr
steht auf kurz nach halb, genau zwischen den Takten, die Wartezone ist
leer. Wer hier wegmuss, weiß offenbar, wann das geht.
An der Warschauer Straße kündigt eine Durchsage an, dass eine S-Bahn
ausfällt. Zwei Frauen mit kurzen Haaren und Daunensportjacken am Bahnsteig
reißen die Arme hoch. "Nein, das kann doch nicht sein!" Dann fasst die eine
die andere am Ärmel - "komm, wir fahren nach Lichtenberg" und springt in
den Zug, der am Gleis steht. Sie gestikulieren schon wieder amüsiert, als
die Tür hinter ihnen schließt.
26 Jan 2010
## AUTOREN
Luise Strothmann
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