# taz.de -- Nicht nur Hegemann hat abgeguckt: Der erste Tadel | |
> Der eigene Sohn wurde in der Schule beim Abgucken erwischt und fürchtet | |
> Bestrafung. Da hilft nur ein Brief an die Lehrerin, der das Abschreiben | |
> zur zentralen Kulturtechnik erklärt. | |
Bild: Für Sebastian war es eine intelligente, logische Lösung, sich auf die F… | |
Mein Sohn kam aus der Schule und brach in Tränen aus. "Rette mich, Papa, | |
ich will nie wieder in die Schule gehen!" heulte Sebastian und konnte sich | |
gar nicht beruhigen. Ich merkte, das Kind stand am Rande eines | |
Nervenzusammenbruchs. Allein das Wort Schule ließ ihn erzittern. | |
Was war passiert? Während einer Klassenarbeit in Englisch hatte Sebastian | |
bei seinem Banknachbar Leo abgeschrieben. Nicht dass er selbst kein | |
Englisch konnte oder große Schwierigkeiten mit dem Text hatte, es war nur | |
so, dass Leo besonders gut im Englischen ist, er ist beinahe selbst ein | |
Engländer und wurde schon als Baby von seinen Eltern mit Englisch | |
traktiert. Für Sebastian war es eine intelligente, logische Lösung, sich | |
auf die Fähigkeiten seines Nachbarn bei der Erledigung dieser Klassenarbeit | |
zu verlassen. | |
Leider vergaß mein Sohn die wichtigste Regel beim Abschreiben: Man darf | |
sich nicht erwischen lassen. Die Lehrerin war mehr als empört und hat, | |
glaube ich, auch überreagiert, als sie Sebastian bei seinem aktiven | |
Austausch mit dem Nachbar erwischte. Sie nahm dem armen Kind seine Arbeit | |
weg, gab ihm die schlechteste Note, eine sechs, und sagte, er brauche nicht | |
mehr weiter zu schreiben. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, | |
redete sie ihm auch noch ein, alle würden ihn ab sofort wegen seines | |
Abschreibeversuchs hassen und die anderen Lehrer ihn nun verstärkt | |
beobachten. | |
Zu allem Überfluß drohte die Lehrerin, Frau Walzer, auch noch mit einem | |
"Tadel". Sebastian wusste nicht genau, was ein Tadel ist. Er stellte sich | |
Folterwerkzeug darunter vor, eine Art Nadel, mit der die schlechten Schüler | |
gepiekt werden oder noch gruseliger: ein metallisches Halsband mit | |
Handschellen. Er hatte sogar im Internet nachgeguckt, was ein Tadel ist. | |
Dort stand, es sei eine Beeinträchtigung der sozialen Anerkennung, was ihm | |
aber den Begriff auch nicht erklärte und nur für neue Angstschübe sorgte. | |
Sebastian wurde aufgefordert, sich öffentlich für sein Vorgehen zu | |
entschuldigen. Von uns als Erziehungsberechtigten wurde eine schriftliche | |
Erklärung erwartet. Alle zusammen bemitleideten wir Sebastian und regten | |
uns über den pädagogischen Eifer der Gymnasiallehrer auf, die in ihrem | |
Erziehungswahn weit über das Ziel hinausschießen. Dabei erwärmte mein Herz | |
die alte, schon völlig vergessene Freude an dem Gedanken, dass meine eigene | |
Schule vor einem Vierteljahrhundert auf natürliche Weise zu Ende ging und | |
ich nie wieder dorthin muss. | |
Nun lag es an mir, mit einer Erklärung in Reue meinem Sohn zu helfen. Ich | |
habe noch nie eine solche Erklärung geschrieben und hätte sie gerne | |
abgeschrieben – nur bei wem? Anders als Sebastian hatte ich dafür keinen | |
Nachbarn, dem ich über die Schulter gucken konnte. Ich war allein und auf | |
meine eigene Fähigkeit angewiesen. | |
Sehr geehrte Frau Walzer, schrieb ich. Mein Sohn Sebastian hat während der | |
von Ihnen den Schülern aufgegebenen Klassenarbeit im Fach Englisch | |
abgeschrieben. Na und?! In gewisser Weise ist unsere Kultur auf ständiges | |
gegenseitiges Abschreiben und Abgucken aufgebaut, die Politiker schreiben | |
voneinander ihre politischen Programme ab, die Philosophen ihre | |
philosophischen Theorien, die Künstler lassen sich voneinander inspirieren. | |
Die gesamte Weltliteratur besteht aus drei Geschichten, die immer wieder | |
neu abgeschrieben werden. Entweder läuft sie ihm weg und er ihr hinterher | |
oder sie läuft ihm hinterher und er weg. Oder beide laufen einander | |
hinterher. Haben wir das nicht alle einmal gemacht und sind dabei früher | |
oder später auf die Nase gefallen? | |
Wie sonst kann der junge Mensch Erfahrungen sammeln, die für sein späteres | |
Erwachsenenleben überlebenswichtig sind? Ich bin seit etlichen Jahren Vater | |
und weiß von daher, dass der Charakter eines Menschen nicht aus fertigen | |
Genen zusammengesetzt wird, sondern aus Erfahrungen entsteht, die der | |
Mensch macht, in Siegen und Niederlagen. | |
Sehr geehrte Frau Walzer, ich möchte mich an dieser Stelle bei Ihnen | |
bedanken, dass Sie meinem Sohn die wichtige Erfahrung vermittelt haben, wie | |
blöd es ist, sich beim Abschreiben erwischen zu lassen. Als | |
Erziehungsberechtigter habe ich meinem Sohn stets versucht, Selbstvertrauen | |
beizubringen und erklärt, dass man nie die Lehrer für dämlich halten soll, | |
auch wenn manche so aussehen. Das ist nur Tarnung. | |
Leider hat mein Sohn nicht auf mich gehört. Die heranwachsende Generation | |
will ihre eigene Erfahrungen machen, alles von alleine herausfinden. Liebe | |
Frau Walzer, you know what I mean. Nun ist Sebastian durch Ihren | |
außerordentlichen pädagogischen Einsatz an den Rand des | |
Nervenzusammenbruchs geraten und die letzte Nacht wachgeblieben, aus Angst | |
vor dem Tadel. Er glaubt inzwischen fest, dass es sich nicht lohnt, bei | |
Ihnen im Unterricht abzuschreiben, es ist viel einfacher, Englisch zu | |
lernen. Ich bitte Sie, meinem Sohn Sebastian den Tadel zu ersparen. | |
Hochachtungsvoll, der Vater von... | |
Trotz großer Skepsis seitens meiner Familie hat der Brief geholfen. Frau | |
Walzer las ihn, fragte Sebastian die Hausaufgaben ab, er gab gute | |
Antworten, bekam eine eins, und der Tadel wurde nicht aus dem Halfter | |
gezogen. Sebastian rief mich gleich in der Pause von der Jungstoilette aus | |
an. Aus der Schule anzurufen ging nicht – das ist verboten. Er hat mir | |
alles mit glücklicher Stimme erzählt. Vorläufig gerettet. | |
9 Feb 2010 | |
## AUTOREN | |
Wladimir Kaminer | |
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