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# taz.de -- Evolution und Erziehung: "Baut euch einen Stamm auf!"
> Erziehung ist eine aktive Leistung des Kindes, sagt der Mediziner und
> Buchautor Herbert Renz-Polster von der Universität Heidelberg.
Bild: "Natürlich wollen Kinder nicht allein schlafen"
taz: Herr Renz-Polster, jede Hauskatze weiß, wie sie mit ihren Kindern
umgehen muss, um kompetente kleine Kätzchen aus ihnen zu machen. Warum ist
das für uns Menschen so schwierig?
Herbert Renz-Polster: Katzen leben in einer ganz engen ökologischen Nische,
wir Menschen hingegen müssen uns an ganz viele unterschiedliche
Gegebenheiten anpassen. Aber auch Katzen können beim Elternjob versagen -
dann nämlich, wenn sie selbst nicht artgerecht aufwachsen. Und beim
Menschen heißt "artgerechte Sozialisation" eben auch, dass wir Erfahrungen
im Umgang mit kleinen Menschen sammeln. Es gibt keine "kinderfreie"
Vorbereitung aufs Kinderhaben.
Sie argumentieren in Ihrem Buch, dass sich aus dem darwinistischen Modell
bestimmte Verhaltensweisen entwickelt haben. Welche meinen Sie?
Wir sind zum Beispiel darauf eingestellt, dass wir immer ein bisschen über
den Bedarf hinaus essen. Das half unseren Vorfahren über eine Trockenzeit
oder einen strengen Winter. Oder eine rote Ampel: Dass wir die Farbe Rot
überhaupt sehen, liegt daran, dass die angestammten Nahrungsquellen und die
natürlichen Feinde des Menschen wichtige Merkmale in diesem Wellenbereich
des farbigen Lichts haben. Und was Kinder angeht: Sie haben häufig Angst im
Dunkeln. Auch hier wirkt die Evolution, denn Tageslicht war für das
menschliche Leben von jeher weniger gefährlich als die Dunkelheit.
Seit dem Darwin-Jahr muss die Evolution ja für so manches herhalten …
Ja, da schwirren ganz viele Missverständnisse durch die Gegend. Und das
hindert die Leute daran, den evolutionären Ansatz wirklich ernstzunehmen.
Das ist jammerschade, denn unser tagesaktueller Blick liegt ja oft daneben.
Wenn man allein daran denkt, wie viele Theorien die Psychologie in den
letzten fünfzig Jahren entsorgt hat …
Sind unsere Kinder Ihre Meinung nach evolutionär auf bestimmtes Verhalten
festgelegt?
Nein, das ist ein Missverständnis. Wir erben aus der Vergangenheit kein
bestimmtes Verhalten, sondern lediglich Verhaltensdispositionen, wie die
Evolutionsbiologen es nennen. Kinder - um beim Thema zu bleiben - sind ja
nicht mit einem festen Entwicklungsplan geboren, sondern mit offenen
Lernprogrammen.
Kann Verhalten überhaupt genetisch codiert sein?
Na ja, warum "fremdeln" Kinder rund um die Erde, in allen Kulturen, egal ob
sie von einem mutigen Löwenjäger aufgezogen werden oder einer verzagten
Teenagermama? Das war lange unklar, bis man entdeckte, dass das Gehirn
seine "Reizschwelle" in den unterschiedlichsten Hirnregionen drastisch
ändern kann, und zwar je nach Entwicklungsphase. Heute wissen wir, dass
Gene auch auf Umwelteinflüsse reagieren und je nach Bedingungen an- und
auch abgeschaltet werden.
"Dass Kinder nur durch Erwachsene geführt und begrenzt werden müssen, um
selbst kompetent zu werden, ist evolutionär nicht plausibel" - Evolution
statt Erziehung?
Gewissermaßen. Sozialisation ist jedenfalls aus evolutionärer Sicht kein
passiver Prozess - und erst recht nicht der pädagogische Großangriff, zu
dem wir sie mit dem Begriff "Erziehung" gemacht haben. Erziehung ist
vielmehr eine aktive Leistung des Kindes. Kinder "extrahieren" ihre
Erziehung sozusagen aus den sozialen Erfahrungen, die sie im Laufe ihrer
Sozialisation machen - sie wird nicht gemacht, sondern sie ergibt sich.
Ihre Grundthese ist, "Kinder können alles, was sie zu einem gegebenen
Zeitpunkt brauchen". Was ist mit den Forderungen der Eltern, auf die die
Kinder Ihrer Ansicht nach evolutionär nicht vorbereitet sind - bleib im
Kinderwagen sitzen, schlaf allein, iss jetzt?
Mit unserem westlichen Erziehungsparadigma setzen wir die Kinder schwer
unter Druck - wir verlangen den Kindern zum Teil Lernschritte ab, die sie
aus evolutionärer Sicht gar nicht schaffen: Natürlich wollen kleine Kinder
nicht allein schlafen, natürlich fordern sie körperliche und emotionale
Nähe und Getragenwerden, das war früher ja eine unverhandelbare
Voraussetzung zum Überleben. Kinder können heute nicht auf einmal all ihre
Urinstinkte in den Wind schlagen. Schlafprobleme, Schreiprobleme, das sind
alles auch die Kosten dafür, dass wir den Kleinen nicht mehr geben, was sie
erwarten.
Sie schreiben über den "Fetisch Selbstständigkeit" - das Dilemma zwischen
unserem Bedürfnis, den Kindern Geborgenheit zu geben, und der Angst, sie zu
verziehen.
Der Mythos Selbstständigkeit besteht darin, dass wir meinen, unsere Kinder
würden selbstständig, indem wir ihnen schon als Babys ein hohes Maß an
Selbstregulation abverlangen. Wir verlangen von ihnen, dass sie selbst in
den Schlaf finden, sich selbst trösten, von selbst durchschlafen. Ein Kind,
das von sich aus gern allein einschlafen würde, war evolutionär gesehen
immer ein totes Kind. Ein Kind, das zufrieden gewesen wäre, dass man es
irgendwo unter den Baum legt und sich gesagt hätte, jetzt schlafe ich ohne
Protest ein, wäre von Hyänen verschleppt oder beim nächsten Temperatursturz
unterkühlt worden.
Wenn Sie Familienminister in Deutschland wären - was würden Sie als Erstes
tun?
Ich würde auf jeden Fall dafür sorgen, dass die sozialen Netze, die kleine
Kinder mittragen, gestärkt werden. Wir brauchen nicht irgendwelche Krippen,
sondern Krippen, die für unreife Menschen funktionieren. Kleine Kinder
brauchen vertraute, stabile Verhältnisse. Wir bringen derzeit immer zwei
Sachen gegeneinander in Stellung: die arbeitende Mutter, die ihr Kind in
Fremdbetreuung gibt, und andererseits die Mutter zu Hause, die sich nur um
ihre Kinder kümmert. Beides ist evolutionär gar nicht vorgesehen. Wir
brauchen Betreuung in den sozialen Zusammenhängen der Frau beziehungsweise
der Eltern.
Was wären die drei wichtigsten Dinge, die Sie Eltern mit auf den Weg geben
würden?
Das Erste wäre: Baut euch einen Stamm auf! Wir sind Stammeswesen, wir sind
eine evolutionär kooperativ aufziehende Art, wir brauchen Helfer. Sorgt für
Helfer, sorgt für Freunde, spinnt euch ein Netz. Nummer zwei: Keine Angst
vor Nähe! Angst vor Verwöhnen ist Gift für die Kinder. Kleine Kinder
brauchen Nähe, das ist eine unverhandelbare Schutzbedingung, das gehört
evolutionär absolut dazu. Nummer drei: Rein zu den anderen Kindern. Ich
glaube, das Kinder nicht durch die Eltern sozial kompetent werden, sondern
indem sie sich so ab dem dritten, vierten Jahr mit anderen Kindern
auseinandersetzen und in gemischtaltrigen Gruppen spielen wollen, das ist
viel, viel kreativer.
12 Feb 2010
## AUTOREN
Nicola Schmidt
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