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# taz.de -- Leipzger Buchmessen-Preisträger Georg Klein: "Erinnern ging nicht …
> Wenn anderen der Mund offensteht, genießt der Erzähler seine Macht. Der
> Schriftsteller Georg Klein über Kinderbanden, die Magie von Namen und
> seinen "Roman unserer Kindheit".
Bild: Gewinner des Leipziger Buchpreises: Georg Klein.
taz: Herr Klein, welche Bücher haben Sie selbst als Kind gelesen und
geliebt?
Georg Klein: Mein Erinnerungsgefühl behauptet: Als Kind habe ich
ausnahmslos alle Bücher geliebt, deren Umschläge mir vor Augen kamen. Heiß
begehrt habe ich die Bücher im Schaufenster des Tabak- und
Zeitschriftengeschäfts, das zugleich eine Leihbücherei und damit der erste
Bucherwerbsort war, den ich kennenlernte. Schon bevor ich selber flüssig
lesen konnte, habe ich mich neidvoll durch die Bücher geblättert, in die
sich meine Mutter, die eine echte Suchtleserin war, bei jeder Gelegenheit
mit Inbrunst versenkte.
Wenn ich einen Schmöker herausgreifen darf: Ich weiß noch, welche Mühe es
mich kostete "Lieben Sie Brahms?" von Françoise Sagan in vielen Anläufen
auch nur halbwegs zu verstehen. Aber da der Roman meiner Mutter so gut
gefiel, musste er etwas Ungeheueres enthalten, also fing ich immer wieder
von vorne an.
Merkwürdigerweise sind die Erinnerungen an solche Kämpfe, Niederlagen und
mühsam errungene Teiltriumphe deutlicher und bei aller erneut gefühlter
Verbissenheit weit süßer als das, was mir mein Gedächtnis über die Lektüre
von Kinder- und Jugendbüchern erzählen mag.
Dennoch folgt Ihr Buch "Roman einer Kindheit" bestimmten Mustern der
Kinderliteratur. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe von acht Kindern:
Geschwister und Freunde, die in einer süddeutschen Vorstadtsiedlung
aufwachsen.
Ja, "Roman unserer Kindheit" ist auch ein Kinderbandenbuch, und damit
gehört der Roman in gewisser Weise zu einem Genre. Zumindest wird er bei
den Lesenden bestimmte Genreerwartungen provozieren, einlösen, aber auch in
ungewohnte Bahnen umlenken. Natürlich hoffe ich vor allem auf Erlösung!
Genres, in Geläufigkeit erstarrte Erzählsysteme, müssen von sich selbst,
eigentlich "zu" sich selbst erlöst werden. Das Kinderbandenbuch verspricht
Geborgenheit im Kollektiv. Diese Verheißung steht zwangsläufig im
Widerspruch zur Identifikation mit einem Helden. Im besten Fall springt der
heroische Funke auf die Gemeinschaft über und das Kollektiv der Kinder
wächst in tragischer Gefahr über sich selbst hinaus.
Nun ist dies ein Roman für erwachsene Leser, die solche Genrekonventionen
durchschauen. Sie kennen sie ja von Erich Kästner oder Enid Blyton.
Verblüffend ist, dass Sie eine "Acht Freunde"-Geschichte mit einem Ernst
erzählen, als wäre es das erste Mal.
Literaturerfahrung, wie sie mir - beim Lesen wie beim Schreiben - als Ideal
vorschwebt, ist ein ernsthaftes Spiel. Dieses Spiel folgt vorgegebenen
Regeln und ist dennoch nie restlos auszurechnen. Gerade der in einem Genre
geübte Leser erlebt den schönsten Lesemoment dann, wenn sein routiniertes
Bescheidwissen durch das unwillkürliche Spiel der eigenen Fantasie jählings
aufgehoben wird. Die totale Kontrolle über die Machart eines Textes führt
dagegen letztlich zu einem gelangweilten Zynismus. Das Andere, das
unverhoffte Glück der Überraschung, diesen verstörenden Selbstkuss des
kreativen Systems, muss der Lesende allerdings auch aushalten können. Man
sagt, die Kindheit eines Menschen sei vollends verstrichen, sobald er die
Fähigkeit zum kindlichen Spiel unwiederbringlich verloren habe. Das
verwaiste Feld bewirtschaftet, neben anderen Landwirten, die Literatur.
Sie haben kein Geheimnis aus dem autobiografischen Charakter des Buches
gemacht. Haben Sie sich gern erinnert?
Falls man sagen kann, dass das Erinnern Gelenke und Muskeln hat, dann habe
ich die eine oder andere Stelle dieses Bewegungsapparats bei der
Niederschrift dieses Romans zum ersten Mal gespürt. Das ging nicht ohne
Schmerzen ab. Um im Sprachbild zu bleiben: "Es" tat weh und wohl zugleich.
Um im Körperbild zu bleiben: An den Augäpfeln habe ich es zunächst am
deutlichsten gespürt. Die ersten Kapitel sind quasi mit zusammengekniffenen
Lidern geschrieben, so übermäßig hell kam mir das Heraufbeschworene vor.
Der Protagonist, der zehnjährige Anführer der Kindergruppe, wird immer nur
"der ältere Bruder" genannt, auch die Namen seiner Geschwister und Eltern
erfahren wir nicht.
An den Namen lässt sich spüren, wie sehr unser Sprechen noch immer auf
magische Verfahren vertraut. Namen beschwören und bannen. Das
Neubauviertel, in dem ich aufgewachsen bin, hieß und heißt "Bärenkeller",
und ich habe dies als Kind nie für einen Zufall, sondern stets für ein
bedeutungsreiches Geheimnis gehalten, das mich und meine Freunde
unmittelbar anging. Die Übernahme, die Veränderung und das Verschweigen
bestimmter Namen war von Anfang an eine heikle Sache, die wirklich über das
Gelingen und Misslingen des Erinnerns und Erzählens mitentschied.
Ähnlich verhält es sich mit dem "Ich". Es schien mir günstiger, das Alter
Ego des Autors nicht durch ein erzählendes Ich in den Text
hineinzustempeln. Mit derartigen Vermeidungen sind natürlich Risiken
verbunden; denn die Identifikation mit einem berichtenden Helden gehört zu
den zwingend verführerischen Angeboten, die ein Prosatext machen kann.
Auch wenn er nicht "ich" sagt, wird sich wohl jeder gern mit diesem
"älteren Bruder" identifizieren. Er beherrscht die Kunst des Erzählens.
Wie viel mein Schreiben dem mündlichen Erzählen verdankt, habe ich erst
während der Arbeit an diesem Roman begriffen. Das ist merkwürdig, denn
eigentlich konnte ich all die Jahre beobachten, wie häufig Szenen und
Vorkommnisse, die mir berichtet worden waren, in meine Texte schlüpften.
Womöglich ziehe ich sogar oft das Erzähltbekommen der direkten Wahrnehmung
des Dabeiseins vor. Zweifellos habe ich es als Neunjähriger genossen, meine
Freunde durch eine mehr oder minder erfundene oder aus Gelesenem
kolportierte Geschichte so zu fesseln, dass ihnen die Münder offen standen.
Und wenn mein jüngerer Bruder, der als Kind ein begnadeter Witzeerzähler
war, einem seiner besten Witze wie aus dem Nichts eine neue Pointe
verpasste, war ich selbst auf der Seite der lustvoll Überwältigten.
Neben den Kindern gibt es in Ihrem Roman auch viele Erwachsene, Eltern,
Ladenbesitzer und ein paar außergewöhnliche Figuren dazu.
Die Erwachsenen im Roman, der ja auch der Roman meiner Kindheit ist,
mussten, so merkwürdig dies klingen mag, mit einer besonderen Sorgfalt neu
erinnert werden. Ihr Bild war doppelt verkrustet. Zum einen überdeckte ihre
einstige Wirklichkeit die übliche Firnis aus Anekdoten. Das allzu oft
Erzählte ist eine hochwirksame Form des Verdrängens. Noch schwieriger aber
war es, die inzwischen etablierten Ausdeutungen der Großen von einst, diese
Sichtblende aus Rationalisierungen und Verharmlosungen, ein Stückchen
beiseitezuschieben.
Kinder sehen ja weit mehr an "ihren" Erwachsenen, als denen lieb ist. Auch
für die Kleinen selbst ist dieser überwache Blick auf die angeblichen
Bewältiger des Lebens, auf ihre hilflosen Hüter und ohnmächtigen Beschützer
eigentlich zu viel. Kinder erkennen das Dasein ihrer Eltern in seiner
ganzen Verstricktheit als "tragisch", lange bevor ihnen die einschlägigen
Wörter und Sätze zu Hilfe kommen.
Der Titel Ihres Buches lautet nicht "Roman meiner Kindheit" oder
"Kindheitsroman", sondern "Roman unserer Kindheit". Wen meint dieses
"unserer"? Sie und Ihre Generation? Jeden Leser des Buches?
Die ersten Leser des Romans haben mir gesagt, sie fühlten sich, obwohl sie
anderen Altersgruppen angehören und als Kinder eine andere soziale
Außenwelt erlebt haben, lesend dennoch wie in "ihrer" Kindheit. Das hieße,
unsere Kindheit wäre weniger das Eingebundensein in spezifische
Verhältnisse, sondern mehr eine eigentümliche Organisation der Seele. Um
diese Seelenordnung wiederzuerleben, genügt es wohl nicht, sich mit einer
einzelnen, recht kindlich gemalten Figur zu identifizieren. Alle am
Kindsein beteiligten Instanzen der Innenwelt müssen im Roman repräsentiert
sein.
Eine Zeit lang habe ich überlegt, ob das Buch Einsprüche derjenigen zu
befürchten hat, die sich bei seiner Lektüre unweigerlich wiedererkennen
müssen. Aber irgendwann habe ich darauf vertraut, dass auch diese
inzwischen groß und fremd gewordenen ehemaligen Freunde und Lieblingsfeinde
den höheren Sinn des Romanspiels erspüren und genießen können. Dann müssten
sie der Kunst die brachiale Willkür, mit der sich diese die Vergangenheit
angeeignet hat, angemessen gnädig, angemessen gnadenreich verzeihen. Damit
wäre ein magischer Tausch vollzogen: Wer alles, sein ganzes erzählbares
Leben, hergibt, erhält als Gegengabe dessen schönsten Abglanz: die Illusion
der Ewigkeit.
19 Mar 2010
## AUTOREN
Gisela Trahms
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