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# taz.de -- Kontroverse um Kinofilm "Precious": Ein Schatz aus New York
> Lee Daniels Spielfilm "Precious" über ein missbrauchtes adipöses Mädchen
> hat eine Kontroverse ausgelöst: Ist das schwarzer Selbsthass? Oder eine
> Fiktion von einigem Gewicht?
Bild: Ein Mädchen mit dem Spitznamen "Schatz", das bedeutet nichts Gutes.
Hiphop hat uns gelehrt, dass kein Wort bedeuten muss, was es bedeuten soll.
Gemäß der afroamerikanischen Praxis des Signifyin werden in dieser
Selbstermächtigungsmusik die Worte immer wieder neu bestimmt und verkehren
sich ins Gegenteil. Was nicht nur dazu führt, dass all die "bad ass
motherfuckers" und "bitches", die die lyrischen Welten des Rap bevölkern,
sich keineswegs herabgesetzt fühlen (im Gegenteil), sondern dazu, dass sich
kulturfremden Rezipienten bisweilen der Kopf dreht.
Wenn in Lee Daniels Film "Precious", der in den Achtzigerjahren dort
spielt, wo Hiphop geboren wurde - in den Sozialbauvierteln New Yorks - nun
ein Mädchen mit dem Spitznamen "Precious", auf Deutsch: "Schatz", auftritt,
fragt man sich unweigerlich: Kann das etwas Gutes bedeuten?
Es bedeutet nichts Gutes, soviel dürfte inzwischen auch jeder Nicht-Cineast
schon aus den Nachrichten wissen. Kaum ein Tag der letzten Monate verging
ohne Berichte über "Precious": Stehender Applaus in Cannes, ein Golden
Globe und ein Oscar für die Komödiantin MoNique als Beste
Nebendarstellerin, sogar Barbara Bush liebt den Film etc.
Claireece "Precious" Jones, die 16-jährige, 150 Kilo schwere Protagonistin,
die von der New Yorker Schauspieldebütantin Gabourey Sidibe gespielt wird,
beschreitet in dem Film ihren steinigen Weg zur Selbstbestimmung. Sie ist
ein Missbrauchsopfer, zum zweiten Mal vom eigenen Vater schwanger, ihre
Mutter wirft regelmäßig mit Bratpfannen nach ihr, sie kann weder lesen noch
schreiben und ist auch noch HIV-positiv: Beinahe scheint es, als sei
"Precious" gedreht worden, um die These, die USA seien mit der Wahl Obamas
im sogenannten postethnischen Zeitalter ankommen, auf ihre Belastbarkeit zu
testen. Denn "postethnisch" müsste ja nicht nur bedeuten, dass
Benachteiligungen vollständig überwunden sind, sondern auch, dass das
schwarze Amerika im Umgang mit den Stereotypisierungen größere Gelassenheit
entwickelt hat.
Das Gegenteil scheint der Fall zu sein, zumindest wenn man die Debatte
verfolgt, die der konventionell gedrehte, dafür aber großartig besetzte
Independent-Film ausgelöst hat: "Darf man das?", wurde vor allem von
afroamerikanischen Kommentatoren gefragt. Genauer: Darf man als schwarzer
Regisseur wie Lee Daniels ein vulgäres Muttermonster wie Mary Jones (Mo-
Nique) zeigen, das sich als selbstsüchtige arbeitslose Welfare Queen so
bequem zwischen Chicken Wings, Fernbedienung und Anspruchsdenken
eingerichtet hat, dass sie ihrer eigenen Tochter verbieten will, auf eine
bessere Schule zu wechseln - aus Angst, sie selbst könne deswegen den
Anspruch auf Sozialhilfe verlieren? Ebenso Anstoß nahmen die Kritiker
daran, dass die Ersatzmutter-Figuren im Film - da ist die bildhübsche
Sonderschullehrerin Blu Rain (Paula Patton), da ist die Damenbart tragende,
von Mariah Carey gespielte Sozialarbeiterin Mrs Weiss - sämtlich einen
helleren Hautton haben als die Hauptdarstellerin. Muss man hinter diesem
Umstand aber gleich eine rassistische Botschaft oder schwarzen Selbsthass
wittern?
Die schauspielerischen Leistungen in dem Film sind beeindruckend: Wie
Gabourey Sidibes anfangs betoniert wirkendes Gesicht langsam von Ausdruck
animiert wird, wie sie trotz ihrer Schwerfälligkeit so etwas wie erhabene
Eleganz entwickelt, ist grandios. So lässt es sich auch verschmerzen, dass
bisweilen die Grenze zum Kitsch überschritten wird - nicht nur in der
Szene, in der sich, während Precious allein im Klassenzimmer büffelt, die
Fenster zu Monitoren verwandeln und verschiedene Stationen des
afroamerikanischen Kampfes um Gleichstellung vorbeiflimmern. Ku-Klux-Klan,
Rosa Parks, Martin Luther King: Jene Kritiker, die "Precious" vorwarfen,
der Film entkontextualisiere das Schicksal seiner Protagonistin und stelle
Schwarze quasi als von Natur aus benachteiligt dar, müssen diese
überdeutlichen Bilder willentlich übersehen haben.
Nicht übersehen hingegen wollten sie, dass der Film im Jahr 1987 spielt,
dass aber die Computer, die in Precious Sonderschule auf den Tischen
stehen, aussehen wie heutige Modelle. Lee Daniels wolle auf diese Weise
wohl insinuieren, dass sich die Situation der Schwarzen in Harlem und der
Bronx seit der Crack-Hochphase der Achtziger kein bisschen verbessert habe,
wurde beklagt.
Doch darf man vor allem nicht vergessen: "Precious" ist eben nicht "based
on a true story", sondern die Adaption des Romans "Push" der
afroamerikanischen Schriftstellerin Sapphire. Fiktion also. Und seine
literarische Freiheit nutzt Lee Daniels in der Verfilmung eher, um noch zu
untertreiben: In dem Buch liest sich die Geschichte um einiges krasser,
Sapphire beschreibt etwa, wie Precious von ihrer Mutter zu Oralsex
gezwungen wird. Indem Lee Daniels darauf verzichtet, für diese Demütigung
explizite Bilder zu finden, hat er wohl nicht zuletzt vermieden, auch noch
die Lesben und gutchristlichen amerikanischen Mütter gegen sich
aufzubringen. Man könnte von minoritätspolitischem Multitasking sprechen.
Daniels, der selbst nicht "nur" schwarz ist, sondern auch schwul, hat in
Interviews betont, mit Schwarz-Weiß-Malerei habe er schon immer Probleme
gehabt. Das mag dahergesagt klingen, und doch steckt in seinem Satz die
Einsicht, dass man es auf dem Weg zur Selbstbestimmung eben unmöglich allen
recht machen kann - schon gar nicht, wenn man, wie auch Claireece Jones,
zwischen zu vielen Fronten gleichzeitig steht. Gerade weil er dieses
Dilemma nicht unter den Teppich kehrt, ist "Precious" ein wertvoller Film
geworden - im wahrsten Sinne des Wortes.
25 Mar 2010
## AUTOREN
Jan Kedves
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