# taz.de -- Langzeitstudie Wittenberge: Vorgeführte Verlierer | |
> Mehrere Jahre lang hat eine Forschergruppe die Veränderungen in | |
> Wittenberge beobachtet. Auf die ersten Veröffentlichungen reagieren die | |
> Bewohner schockiert. | |
Bild: 20 Jahre nach der Wende: Alltag in Wittenberge. | |
Sie könnten jetzt Gruseltouren organisieren. Der Stadt Wittenberge in der | |
brandenburgischen Prignitz wurde in letzter Zeit so viel mediale | |
Aufmerksamkeit zuteil, dass ihre Einwohner mit etwas Geschäftssinn Kapital | |
daraus schlagen könnten. Wobei nicht das gemeint war, als von "Social | |
Capital - im Umbruch europäischer Gesellschaften" die Rede war. So heißt | |
ein großangelegtes Forschungsprojekt, an dem unter anderem die Berliner | |
Humboldt-Universität und die Uni Kassel beteiligt waren, zudem das | |
Hamburger Institut für Sozialforschung und das Thünen-Institut aus | |
Bollewick (Mecklenburg-Vorpommern). | |
Im Gegensatz zu ähnlichen Projekten wollten die Wissenschaftler - insgesamt | |
28 Soziologen und Ethnologen mit dem renommierten Soziologen Heinz Bude als | |
großem Namen und einem Budget von 1,7 Millionen Euro ausgestattet - die von | |
ihnen erforschten Menschen an ihrer Arbeit teilhaben lassen: mit Hilfe von | |
Ausstellungen, Theateraufführungen und Diskussionsrunden. | |
Bis vor kurzem klappte das ganz gut. Dann aber erschien Anfang März im | |
Magazin der Wochenzeitung Zeit ein "exklusiver" Bericht in großer | |
Aufmachung, flankiert von 25 "zentralen Beobachtungen", zusammengestellt | |
von den Forschern. Die Thesen unter der Überschrift "Wissenswertes über | |
Wittenberge" ähneln ein wenig der "Bloß-nicht!"-Rubrik in den | |
Marco-Polo-Reiseführern. Am absurdesten klingt diese Beobachtung: | |
"Ein-Euro-Jobber, die den Müll aufsammeln sollen, finden auf den Straßen so | |
wenig Abfall, dass sie ihn von zu Hause mitbringen." | |
Im dem Heft wird die ironische Frage "Was läuft in Wittenberge?" mit dem | |
Foto eines weißen Pferdes illustriert, das vor dem Kino "Movie Star" | |
entlang geführt wurde. "Fehlte bloß noch ein Panjewagen", ärgert sich | |
Klaus-Dieter Nagel. Er betreibt mit seiner Frau Renate einen Presseshop in | |
Wittenberge. Ihre Tochter, die seit 1991 in Lüneburg lebt, rief nach der | |
Veröffentlichung des Berichts erregt bei ihren Eltern an: "Mutti, hat sich | |
bei euch immer noch nichts verändert?" Renate Nagel indes findet den | |
Bericht "nicht so schlimm". | |
Das trostlos wirkende Pferde-Bild war noch die optimistischste Illustration | |
zu den Texten. Leerstehende Häuser in der einstigen Industriestadt, | |
Baulücken, einsame Menschen mit Lidl-Tüten in der Hand, Mitglieder des | |
Shanty-Chors, deren Bild aussah, als sei es Mitte der 70er Jahre von einer | |
Betriebswandzeitung des VEB Zellwolle abgenommen worden. In dem Bericht | |
dazu werden die Bewohner der Stadt zu größtenteils zu rückwärtsgewandten | |
deprimierten Verlierern erklärt, über die der Verlust von mehr als 8.000 | |
Arbeitsplätzen wie eine Flut hereingebrochen ist. | |
Die Stadt hat mehr als 10.000 Einwohner verloren, ganze Straßenzüge stehen | |
leer, Stadtviertel sind regelrecht verschwunden und noch immer ist | |
Wittenberge zu groß für die verbliebenen Bewohner. Und während die Forscher | |
in zahllosen Interviews ergründet haben, mit welchen Strategien die | |
Menschen ihr Überleben unter solchen Bedingungen sichern, weil Wittenberge | |
eben kein Einzelfall ist, vermittelt der Zeit-Bericht ein überwiegend | |
einseitiges Schreckenszenario. | |
Das Echo in Wittenberge darauf ist geteilt. Bürgermeister Oliver Hermann | |
(parteilos), Stadtverordnetenvorsteher Wolfgang Strutz (Linke) und Landrat | |
Hans Lange (CDU) forderten die Wissenschaftler per offenem Brief auf, sich | |
"von diesen Darstellungen nicht nur zu distanzieren, sondern sie | |
richtigzustellen". "Das Gesamtbild, das von der Stadt vermittelt wird, | |
entspricht einfach nicht der Realität", findet Hermann. | |
Peter Schmidt hat den Text zweimal gelesen. "Beim zweiten Mal fand ich es | |
gar nicht mehr so negativ", sagt der 44-jährige Trödelhändler. Er lebt von | |
Wohnungsräumungen und vermietet ein Gästezimmer. In einer der Thesen | |
erkennt er sich "ein bisschen wieder". Auch er lebt von dem, wofür andere | |
keine Verwendung mehr haben, wie diejenigen, von denen es im Bericht heißt, | |
sie würden Blei aus Elektrokabeln zu Angelgewichten umschmelzen. "Am Trauma | |
des Wegbrechens der meisten Arbeitsplätze leiden wir noch immer", sagt | |
Peter Schmidt. Aber in den letzten Jahren - seit Oliver Hermann | |
Bürgermeister ist - habe sich einiges verändert. "Ich erwarte, dass von | |
Politikern mal ne klare Aussage getroffen wird, egal wie hart sie ist. Wir | |
kriegen keine große Industrie mehr hierher und müssen uns deshalb | |
umorientieren. Wittenberge ist dabei Vorreiter für die großen | |
Industriestädte des Westens, denen die Schrumpfung noch bevorsteht." | |
Burkhard Nickolai wurde auch auf die Veröffentlichung angesprochen - weil | |
ihm die Schimmelstute "Venezia" gehört. "Der Fotograf hat uns gefragt, ob | |
wir mit dem Pferd am Kino vorbeigehen könnten. Ich wusste ja nicht, was | |
genau dabei rauskommen sollte", sagt der Pferdehofbesitzer. Jetzt, wo er es | |
weiß, findet er, "die 1,7 Millionen Euro Fördermittel für die Forschung | |
hätte man besser einsetzen können." Und wofür? "Etwa für | |
Hartz-IV-Empfänger." | |
Es ist nicht das erste Mal, dass Wittenberge als das Beispiel für den | |
Niedergang des Ostens dargestellt wurde, und es wird auch nicht das letzte | |
Mal sein. Soziologe Bude beklagt das Fehlen von Mythen in Wittenberge, das | |
Bewohnern nichts lässt als die harte Wirklichkeit. In Rumänien hätten sie | |
wenigstens Ceausescu und Dracula. | |
Möglicherweise müssen die Einwohner das Spiel mitspielen und ihre desolate | |
Lage vermarkten. Ein erster Mythos wäre das weiße Pferd - ohne rettenden | |
Prinzen. | |
26 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Andreas König | |
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