# taz.de -- Sexueller Missbrauch in der Kirche: Acht Jahre mit dem Priester | |
> Lars war mit einem Pfarrer zusammen. Anfangs war es Missbrauch, sagt | |
> Lars. Später habe er auch Spaß beim Sex gehabt. Was blieb, war ein Gefühl | |
> der Abhängigkeit. | |
Bild: Er hat mich dann fixiert mit einem Grinsen, das fast etwas Dämonisches h… | |
Wenn Lars* vom Kaffeetisch aufsteht, nimmt er immer schon Geschirr mit zur | |
Spüle. Wenn etwas fehlt, springt er hoch, wenn ein Gang zu tun ist, ist er | |
sofort dabei, wenn man vor ihm steht mit zwei Tragetaschen, hat er Sekunden | |
später eine davon in der Hand. Er kann nicht anders. Er ist ein Helfer, wie | |
unter Strom. So schnell, wie er handelt, so schnell redet Lars auch, im | |
badischen Dialekt, er liebt Klatsch und Tratsch und Opern, er lacht gerne. | |
Die Augen aber sind klein, ein wenig müde, und die Mimik wirkt straff, als | |
habe sich alle Lebendigkeit schon in den Bewegungen des Körpers erschöpft. | |
Lars ist heute 54, Krankenpfleger in Süddeutschland, und er hat eine | |
Jugendgeschichte, die nach Sensation klingt oder nach Tristesse: Von seinem | |
15. bis 23. Lebensjahr war er mit einem katholischen Priester zusammen. | |
Dass jetzt die ganzen Missbrauchsfälle ans Licht kommen, erleichtert ihn | |
ungeheuer. Auch, dass die Sache einen Namen hat, denn, so sagt er, "man war | |
ja selbst verunsichert, ob es Missbrauch war, ja oder nein?" | |
Wo ist die Grenze? | |
Immer die alten, nie auszuräumenden Zweifel. Sie sind typisch für | |
Missbrauch und führen, auch bei Lars, zu diesen schwankenden Sätzen, den | |
kleinen Einschüben, die mit schneller Bewegung die Eindeutigkeit eines | |
Urteils wieder zurücknehmen, "ein bisschen", "schon", "zeitweise": "Ja, | |
zeitweise habe ich schon Schaden genommen durch den Peter." Wer weiß schon, | |
ob ein Gefühl echt und wo die Grenze überschritten ist. | |
Als Lars seinen Priester kennen lernte, war er 13 Jahre alt. Der Geistliche | |
war als junger Kaplan neu in die Pfarre der Kleinstadt gekommen, ein | |
sympathischer, lockerer Mann von 29 Jahren und für Lars das Gegenbild | |
dessen, was er von zu Hause kannte. Denn daheim herrschte das knallharte, | |
autoritäre Regiment des Vaters. Beim Essen lag der Rohstock mit auf dem | |
Tisch, und wenn der Vater abends von der Arbeit kam, herrschte "Totenruhe" | |
im Haus. Lars, der Fünfte in der Reihe von sieben Geschwistern, hatte eine | |
Heidenangst vor ihm. "Meine Kindheit und Jugend war also weniger schön, sie | |
war nervig und stressig", so sagt er das. Er ist voll von Geschichten über | |
den Vater. | |
Peter war anders. Jung, aufgeschlossen und zugewandt gab er | |
Religionsunterricht in der Schule und traf Lars auch beim | |
Ministrantendienst in der Kirche. Lars fühlte sich hingezogen, "weil er | |
mich einfach nett behandelt und auch mal den Arm um mich gelegt hat. Das | |
war sehr wohltuend." Der Priester suchte Nähe zu Lars Familie. Zwei bis | |
drei Mal in der Woche besuchte er sie, spielte mit den Kindern "Mensch | |
ärgere dich nicht" oder Karten. | |
Zum ersten sexuellen Kontakt kam es, als der Kaplan schon zwei Jahre in der | |
Pfarre war. Lars erinnert sich noch genau an den 29. Mai 1971, er war | |
gerade 15 geworden. Peter war noch spät abends bei der Familie gewesen und | |
hatte den Schlüssel vom Pfarrhaus vergessen. So übernachtete der Herr | |
Kaplan in einem freien Bett im Zimmer der Jungen. | |
Als Lars Brüder eingeschlafen waren, gab Peter vor, ihm sei kalt. Ob Lars | |
nicht zu ihm kommen wolle, um ihn zu wärmen. "Zunächst fand ich das | |
angenehm, diesen Körperkontakt. Als er mir dann zwischen die Beine | |
gegriffen hat, fand ich das komisch, ich habs aber zugelassen, weil ich | |
dachte, bevor du jetzt Nein sagst und zurückgewiesen wirst, guckst du mal, | |
was er will." So hat es angefangen. Lars, "der Spätzünder", hatte keine | |
sexuellen Erfahrungen bis dahin, er war glatt und unbedarft, hatte wenig | |
Interesse an Mädchen oder Jungs. Was da mit ihm und dem Priester geschah, | |
habe er nicht wirklich realisiert. "Ich war völlig verwirrt, ich weiß zum | |
Beispiel, dass mir den ganzen nächsten Tag über schlecht war. Ich kanns | |
nicht mal jetzt richtig beschreiben, es gibt kein entsprechendes Gefühl | |
dazu." | |
Am Folgetag holte der Priester Lars nach dem Mittagessen ab. Er solle | |
niemandem erzählen, was da gelaufen sei, es sei aber sehr schön gewesen und | |
er wolle, dass es weiter so ginge. "Ich konnte gar nichts dazu sagen", | |
erzählt Lars heute, "ich war richtig kaltschweißig, auch am ganzen Körper, | |
überall so fühllos ein bisschen. Und andererseits wollte ich die Nähe mit | |
ihm nicht verlieren. Es war ganz widersprüchlich." | |
Peter, der gute Freund des Hauses, kam jetzt täglich, allerdings oft | |
incognito. "Es gab ein Geheimzeichen. Peter ging hinters Haus und pfiff | |
,Leicht, leicht und bekömmlich', eine Werbemelodie für Margarine. Das war | |
das Signal für mich, so schnell wie möglich von zu Hause loszukommen zu | |
einem Treffpunkt, wo Peter mit dem Auto wartete." Sie fuhren dann in den | |
Wald, meist unter dem Vorwand, den Hund spazieren zu führen, und "trieben | |
es im Auto. Auf eine gewisse Art", sagt Lars, "war ich froh, von zu Hause | |
wegzukommen." | |
Während der acht Jahre dieser Beziehungsgeschichte wurde Intimverkehr zum | |
täglichen Ritual. "Wir haben jeden Tag Sex gehabt, sofern wir am selben Ort | |
waren, jeden Tag." Der Priester nahm an der Entwicklung des Jungen teil, | |
die ersten Schamhaare, die kamen, der Stimmbruch, alles faszinierte ihn, er | |
drängte nicht gewaltsam, zumindest nicht am Anfang, er ließ sich | |
befriedigen. Und es gab diesen Blick, den Peter bekommen konnte, wenn die | |
Geilheit ihn überkam. "Das war ein kurzer Moment, da musste man durch. Er | |
hat mich dann fixiert mit einem Grinsen, das fast etwas Dämonisches hatte, | |
und ich hab dann gedacht, ach, jetzt gehts wieder los." Doch Peter war der | |
Lehrer, und Lars war lange Zeit noch per Sie mit ihm, auch im Bett. Erst | |
sehr spät kam Penetration hinzu. "Ich kann mich an eine Situation erinnern, | |
da wollte er das unbedingt, und es hat tierisch weh getan. Ich hab gesagt, | |
ich will nicht, er hat aber trotzdem weitergemacht. Das war das einzige | |
Mal, dass es so ein bisschen Gewalt war." | |
Mit 16 beendete Lars die Schule, doch die Beziehung zum Priester lief | |
weiter, der holte seinen Geliebten von den diversen Lehr- und | |
Arbeitsstellen mit dem Auto ab. Ende 1973 übernahm er eine eigene Pfarrei | |
in der Nähe des Bodensees, und ein halbes Jahr später zog Lars, der es zu | |
Hause nicht mehr aushielt, zu ihm. | |
Was wissen die Leute, was wollen sie wissen? "In der Gemeinde hieß es, ach | |
der Pfarrer, der ist sozial, er hat viele Räume und nimmt einen jungen Mann | |
auf." Lars Mutter ahnte nichts, der Vater interessierte sich nicht. Erst | |
spät, 1977, also im sechsten Jahr der Beziehung, hat Lars sich seiner | |
Schwester gegenüber geöffnet, "doch die war völlig überfordert, sie hat | |
komisch reagiert." Spätestens ab da aber gab es das Gerücht über ihn und | |
den Pfarrer zumindest im Geschwisterkreis. Geredet hat aber niemand, es gab | |
kein Außen. Und wusste die Kirche? Die wusste. Viel später, um 1990 herum, | |
ließ der Personalreferent der zuständigen Erzdiözese Lars über einen | |
Dritten mitteilen, wenn er überdies Psychotherapie bräuchte, könne er sich | |
melden. Der Personalreferent von damals ist heute ein hoher Würdenträger | |
der katholischen Kirche Deutschlands. | |
Recht besehen, ist vieles an der Geschichte kein Skandal. Als Lars zu Peter | |
zog, war er 18 und - nach heutigen Vorstellungen jedenfalls - alt genug. | |
Vieles wäre kein Problem, wenn Sex keine Sünde wäre. So aber griff das | |
Schweigesystem, und das war es, was Lars, der einen Vaterersatz suchte und | |
dafür seinen Preis zahlte, nachhaltig verletzte. Er hat in Autos | |
übernachtet, um nicht gesehen zu werden, er war verfügbar in den kurzen | |
Zeiten, wenn der viel beschäftigte Pfarrer eine Erleichterung brauchte. Er | |
war ein Schatten, ein Nichts, ein Niemand, und er war mit der Sache | |
hoffnungslos allein. | |
Das brutale Ende | |
Ihr Ende fand die Geschichte, als der Priester seine 18 Jahre jüngere | |
Haushälterin schwängerte. Ein Klassiker eigentlich. Über die Art der | |
Trennung ist Lars lange nicht hinweggekommen, kühl und brutal wurde er vor | |
die Tür gesetzt. Der Priester beantragte seine Laisierung und löste den | |
Pfarrhaushalt auf, ohne noch einmal wirklich mit Lars zu sprechen. Er wurde | |
dann - man bleibt ja Pädagoge - Leiter eines Landschulheims am Bodensee. | |
Fünf Jahre hat es gedauert, bis Lars wieder eine sexuelle Beziehung | |
aufbauen konnte. dazwischen war nichts, er hat nur "geheult, gejault, | |
gelitten wie ein Schwein". Trennungen sind oft traumatisch - was den Rest | |
seines Lebens aber überschattet, ist der Verrat, das Gefühl, die besten, | |
wichtigsten Jahre verschenkt zu haben an eine Abhängigkeit, ein | |
Versteckspiel, bei dem es nie um ihn ging. | |
Sexuelle Ausbeutung wäre das passende Wort, das Lars nicht verwendet. War | |
es Missbrauch? "Am Anfang war es das auf alle Fälle, für die ersten zwei | |
Jahre", sagt Lars. "Aber ich kann die Grenze nicht genau ziehen, weil es | |
bei mir zur Gewohnheit wurde, weil irgendwann auch der Punkt kam, an dem es | |
mir Spaß machte und ich mich darauf eingelassen hatte. Ich denke dann, nach | |
zwei Jahren hättest du ja, wenns nur Missbrauch gewesen wäre, ein bisschen | |
mehr Abwehr zeigen können, du hast dich ja gar nicht wirklich gewehrt, hast | |
ja nicht wirklich was unternommen." Immer die alten, nie auszuräumenden | |
Zweifel über die eigene Mittäterschaft, typisch für Missbrauch als der | |
perfektesten Kunst, mit Grauzonen zu spielen. (*Alle Namen geändert) | |
29 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Andrea Roedig | |
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