# taz.de -- Sexueller Missbrauch: Katholiken fallen vom Glauben ab | |
> Mehr Katholiken als sonst verlassen ihre Kirche. Die hatte mit solch | |
> einer Quittung gerechnet, nachdem sich viele Opfer gemeldet hatten, die | |
> als Kind gedemütigt, geschlagen oder vergewaltigt wurden. | |
Bild: Ein Pfarrer segnet einen Jungen | |
Berliner Katholiken kehren ihrer Kirche wegen des Missbrauchsskandals den | |
Rücken. "Es gibt einen signifikanten Anstieg an Kirchenaustritten", so eine | |
Sprecherin der Senatsjustizverwaltung am Donnerstag. Dies sei das Ergebnis | |
einer Umfrage bei den Amtsgerichten. In Schöneberg seien bis Mitte März 135 | |
Katholiken ausgetreten, in den vergangenen Jahren lag der Schnitt pro | |
Quartal bei 100 Abtrünnigen. In Neukölln lag der bisherige | |
Quartalsdurchschnitt bei 70 Austritten, bis Mitte März waren es schon 94. | |
In den östlichen Bezirken habe sich hingegen wenig verändert, hieß es. | |
Der Klerus war auf eine gesalzene Rechnung eingestellt: "Wir haben | |
natürlich damit gerechnet, dass mehr Christen als gewöhnlich austreten", | |
sagte Martina Richter, Sprecherin des Erzbistums. Man müsse aber abwarten, | |
da die Debatte noch laufe und die offiziellen Quartalszahlen erst im April | |
erscheinen. Im Karfreitagsgottesdienst gab es in der | |
Sankt-Hedwigs-Kathedrale eine besondere Fürbitte für die Opfer sexuellen | |
Missbrauchs. | |
Neun Wochen ist es her, dass Klaus Mertes, Rektor des Canisius-Kollegs, | |
über frühere Fälle sexuellen Missbrauchs an seiner Schule informierte. | |
Damit trat der Jesuit eine Lawine los. Aus allen Ecken der Republik | |
meldeten sich Opfer, die gedemütigt, geschlagen oder vergewaltigt worden | |
waren. Menschen, die fast das Pensionsalter erreicht haben, brechen ihr | |
Schweigen und berichten, was ihnen in kirchlichen Schulen und weltlichen | |
Internaten angetan wurde. | |
Die vorläufige Bilanz für Berlin sieht so aus: Am Canisius-Kolleg meldeten | |
ehemalige Schülern rund 60 Übergriffe in den 70er- und 80er-Jahren. In | |
Hohenschönhausen steht ein Gemeindepfarrer unter Verdacht, 2001 mindestens | |
einen Jungen sexuell missbraucht zu haben. Neben den kircheninternen | |
Untersuchungen hat auch die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren | |
eingeleitet. Gegen die Hedwigschwestern wurde der Vorwurf erhoben, dass ein | |
Heimkind in den 60er-Jahren sexuell missbraucht worden sei. | |
Der mediale Diskurs legt nahe, dass Missbrauch vor allem ein Problem der | |
katholischen Kirche ist. Irrtum: "Das Gros der Taten wird in der | |
gesellschaftlichen Mitte, also in der Familie, begangen", sagt der | |
Sexualpsychologe Christoph Joseph Ahlers. "Betrachtet man das | |
Gesamtphänomen, ist der Anteil der Kirche an den gesamten Fällen gering." | |
Das bestätigt auch die Polizei: Jedes Jahr kommen in Berlin 600 bis 700 | |
Fälle sexuellen Missbrauchs zur Anzeige. Die Dunkelziffer ist weit höher. | |
60 Prozent der Opfer sind Mädchen, 40 bis 50 Prozent stehen zum | |
Beschuldigten in einer Vorbeziehung. Überwiegend sind Wohnungen die | |
Tatorte, viel seltener öffentliches Straßenland, noch seltener Schulgelände | |
oder Sportstätten. In der Täterhierarchie stehen an oberster Stelle die | |
Väter, Stiefväter, Onkel, Brüder. Priester rangieren ziemlich weit unten. | |
Dass die Kirche trotzdem so im Fokus steht, liegt daran, dass sie die | |
Vorgänge so lange unter den Teppich gekehrt hat. Die Täter wurden | |
regelrecht geschützt. Und immer noch kommen neue Fälle innerhalb wie | |
außerhalb der katholischen Kirche ans Tageslicht. Juristisch zur | |
Rechenschaft gezogen werden können die Täter meist nicht mehr, weil die | |
Taten verjährt sind. | |
"Wir sind noch lange nicht am Ende. Für ein Fazit ist es viel zu früh", | |
sagt Klaus Mertes. Eines aber kann man sagen: Die betroffenen Einrichtungen | |
fangen an, sich ihrer Verantwortung zu stellen. "Mein Eindruck ist, dass | |
die Generation der 50-Jährigen und Jüngeren in der katholischen Kirche um | |
Aufklärung bemüht ist", sagt die Anwältin Ursula Raue, die die | |
Missbrauchsfälle für den Jesuitenorden zusammenträgt. | |
"Wenn die Diskussion dazu führt, dass Kinder besser geschützt werden, wäre | |
viel gewonnen", glaubt Raue. Auf der anderen Seite sorgt die Allgegenwart | |
des Themas auch für Irritationen. "Darf ich ein Kind eigentlich noch auf | |
den Schoß nehmen?", fragt sich eine pädagogische Fachkraft, die in der | |
katholischen Kirche in der Jugendarbeit tätig ist. "Ist körperliche Nähe | |
noch zulässig, oder wird sie sofort fehlinterpretiert?" Eine Mutter, die | |
einen Kinderladen für ihre Tochter sucht, merkt, dass sie männliche | |
Erzieher unter Generalverdacht stellt. "Früher hätte ich mir einen Mann als | |
Erzieher für meine Tochter regelrecht gewünscht", sagt sie. | |
Dass sich Lehrer und Erzieher durch die Debatte in ihrer Arbeit | |
verunsichert fühlen, höre er zum ersten Mal, sagt der Sprecher der | |
Bildungsgewerkschaft GEW, Peter Sinram. Auch Sandra Uhl vom Dachverband der | |
Berliner Kinder- und Schülerläden (DaKS) ist nichts Derartiges zu Ohren | |
gekommen. Natürlich sei sexueller Missbrauch immer ein Thema. "Darüber | |
spricht man auf Teamsitzungen alle paar Wochen, das gehört zur Prävention." | |
Der Anteil männlicher Pädagogen in den Kinderläden habe zugenommen. Den | |
Männern müsse bewusst sein, dass ihnen Missbrauch unterstellt werden könne. | |
"Auch darüber muss präventiv gesprochen werden." | |
Der Betreuungsbedarf der ganz Kleinen habe extrem zugenommen, beschreibt | |
Uhl die Lage in den Kinderläden. "Sie brauchen feste Bindungen. | |
Körperkontakt gehört dazu, um sich geborgen zu fühlen." Auf Kuscheln oder | |
Schmusen zu verzichten könne keine Lösung sein. Die Sicherungssysteme | |
müssten anders funktionieren. Etwa indem das Kind lerne, Nein zu sagen. Das | |
erreiche man nicht mit einem autoritären Erziehungsstil. Aber auch die | |
Erzieher, egal ob weiblich oder männlich, müssten ihr Handeln ständig neu | |
überdenken, so Uhl. "Es ist schön, Kinder auf dem Schoß zu haben. Aber man | |
sollte sich auch fragen: Welchem Kuschelbedürfnis gehe ich da gerade nach? | |
Meinem eigenen oder dem des Kindes?" | |
2 Apr 2010 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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