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# taz.de -- Debatte Liberalismus: Die Freiheit, die wir meinen
> Chancengleichheit lässt sich nicht um jeden Preis verwirklichen. Sonst
> droht uns ein offener Totalitarismus. Eine Replik auf Peter Monnerjahn.
Bild: Mammographie mittels Magnetresonanz (MR) an der Uniklinik in Jena.
Hängt die FDP einem verkürzten Freiheitsbegriff an, der keine Antworten auf
soziale Fragen bietet? Das unterstellte uns jüngst Peter Monnerjahn in der
taz (29. 3. 2010). Folglich forderte er von der FDP, sie solle "mehr
Freiheit wagen" - insbesondere im Bereich der Chancengleichheit, denn
"Leistungsbereitschaft" habe nicht jeder "in die Wiege gelegt bekommen".
Worum es Liberalen geht, hat der liberale Politiker und Philosoph John
Stuart Mill bereits 1859 auf den Punkt gebracht: nämlich, "Wesen und
Grenzen der Macht, welche die Gesellschaft rechtmäßig über das Individuum
ausübt", zu erkennen und diese Grenzen zu verteidigen. Zugleich lehrte Mill
soziale Sensibilität: Die Auffassung, dass Freiheit "selbstsüchtige
Gleichgültigkeit lehre und behaupte, dass menschliche Wesen sich um die
Lebensführung anderer nicht zu kümmern hätten und dass sie sich um das
Wohltun und Wohlsein der anderen nur, soweit ihr eigenes Interesse auf dem
Spiel steht, sorgen sollten", geißelte er als Irrlehre. So viel zum
Vorwurf, dem Liberalismus mangele es an Bewusstsein für soziale Fragen.
Das Gleiche gilt für den Vorwurf, diese Sensibilität fehle der FDP als
Partei des Liberalismus: Nicht nur die "Freiburger Thesen der Liberalen",
sondern auch das aktuelle Wahlprogramm betonen, dass jeder in eine
Situation geraten könne, "in der er ohne Unterstützung nicht mehr
weiterkann". Wem (ein FDP-)Papier zu geduldig ist, der mag auf Dr. Ulrich
Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband vertrauen: Er kommentierte
die jüngste Initiative der FDP zur Reform des Sozialstaates mit den Worten,
dass die Vorschläge "am richtigen Ende" anpackten. Dass die FDP den Ansatz
verfolgt, sozialen Aufstieg durch Bildung für jedermann zu ermöglichen,
wird niemand ernsthaft bezweifeln können. Immerhin hat sie den Slogan
"Bildung als Bürgerrecht" erfunden. Jeder soll etwas aus sich machen
können!
Monnerjahns Kritik zielt wohl eher darauf ab, dass die FDP die ganze
Freiheit im Blick behält. Die ganze Freiheit verlangt, wie erwähnt, nach
"Grenzen der Macht, welche die Gesellschaft rechtmäßig über das Individuum
ausübt". Macht ist ein Instrument, das für unterschiedliche Zwecke
eingesetzt werden kann. Die Pointe des Liberalismus und seines
Freiheitsbegriffs ist gerade, dass er davon ausgeht, dass ein Übermaß an
ausgeübter Macht jedes noch so legitime Ziel diskreditiert und zu einer
unfreien Gesellschaft führt.
Auf diesem Fundament kann schleichend ein Totalitarismus erstarken, wenn
wir nicht - über das Individuum - der Macht Grenzen setzen. Diese Grenzen
können schleichend erodieren, weil die politischen Akteure vielleicht Gutes
im Sinn haben, faktisches aber Schlechtes bewirken. Das gilt auch für die
Chancengleichheit.
Ein Beispiel dafür ist die Verlosung von Schulplätzen an Gymnasien durch
die rot-rote Landesregierung in Berlin: Aus der Perspektive der betroffenen
Menschen macht es keinen Unterschied, ob Kinder trotz allen Talents und
aller Leistung keinen passenden Schulplatz bekommen, weil der Zufall
regiert oder weil die Eltern nicht der "Arbeiter-und-Bauern-Klasse"
angehören, wie es die politischen Vorgänger der Linken auf ostdeutschem
Boden ja schon einmal durchgesetzt haben. In beiden Fällen haben Eltern und
Kinder ohne sachlichen Grund jeden Einfluss auf die Schullaufbahn verloren
und sind, aus ihrer Sicht, staatlicher Willkür ausgeliefert.
Das Ziel der Chancengleichheit, will man es mit unbegrenzter Macht
verwirklichen, kann auch zum offenen Totalitarismus führen. Denn wenn
Leistungsbereitschaft, wie Monnerjahn meint, selbst kein Gegenstand einer
freien Willensentscheidung mehr ist, sondern Produkt einer genetischen
Disposition oder eines sozialen Milieus, führt dies, wollte man
Chancengleichheit um jeden Preis verwirklichen, zu einem totalitären
politischen Programm. Denn wie anders sollte man dann Chancengleichheit
herstellen, wenn nicht durch die totale Kontrolle über die genetische
Disposition und das soziale Milieu eines Menschen? Der Verzicht auf die
Idee der Eigenverantwortung, denkt man ihn zu Ende, entgrenzt den
Zugriffsbereich staatlicher Macht vollständig. Diese Gefahr illustriert
Aldous Huxley in seinem Roman "Brave New World". Schauer erfüllen einen
Liberalen, liest er die Worte des "Brut- und Normdirektors" aus Huxleys
Roman, der über die Züchtung von Menschen mit gleichen Anlagen frohlockt:
"Menschen einer einzigen Prägung, in einheitlichen Gruppen."
Der politische Appell an den Leistungswillen des Einzelnen ist aus der
Überzeugung geboren, dass sich jeder einzelne Mensch für Leistung
entscheiden kann. Er ist nicht die Ideologie derjenigen, die "hoch und
trocken" sitzen, sondern Ausdruck eines optimistischen Menschenbildes und
einer regulativen Idee, die unsere Gesellschaft vor der Forderung nach
totaler genetischer und sozialer Kontrolle bewahrt. Sie begrenzt politische
Macht, indem sie die individuelle Eigenverantwortung schützt, und bewahrt
damit unsere Freiheit.
In der politischen Praxis führt eine Politik, die auf Eigenverantwortung
und Leistungsgerechtigkeit setzt, auch zu mehr Chancengleichheit: So zeigt
der Vergleich der Pisa-Studien aus den Jahren 2000 und 2006, dass in
Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen in den letzten Jahren die größten
Erfolge erzielt wurden, wenn es darum geht, die Bildungskompetenz der
Schüler von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. In beiden Bundesländern
übernahmen genau in diesen Zeiträumen Landesregierungen unter Beteiligung
der FDP die Verantwortung - und richteten die Bildungspolitik im Sinne von
Eigenverantwortung und Leistungsgerechtigkeit aus. Der Zusammenhang
zwischen dieser Politik und den besseren sozialen Ergebnissen ist also
empirisch belegt.
Die Freiheit des Liberalismus ist Freiheit zum Aufstieg durch
Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft, aber auch die Freiheit von
totaler Macht. Wer eine freie Gesellschaft will, muss diese beiden Aspekte
der politischen Freiheit berücksichtigen. Das ist mehr als nur "mehr
Freiheit wagen". Das heißt: die ganze Freiheit wagen.
8 Apr 2010
## AUTOREN
Marco Buschmann
## TAGS
Genetik
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