# taz.de -- Schriftstellerin Magdalena Tulli: "Nur im Unglück sind wir geeint" | |
> Noch herrsche Staatstrauer, Kritik an den tödlich verunglückten | |
> Präsidenten Kaczynski werde deshalb nicht laut geäußert, sagt die | |
> polnische Schriftstellerin Magdalena Tulli. | |
Bild: Trauerbekundungen vor dem Präsidentenpalast in Warschau. | |
taz: Frau Tulli, warum protestieren Polen gegen die Beisetzung des tödlich | |
verunglückten Präsidenten Polens in der Königsgruft des Wawel in Krakau? | |
Magdalena Tulli: Der Wawel gilt als polnisches Nationalheiligtum. Dort | |
liegen unsere Könige, Heilige und Nationalhelden. Dass Kaczynski dort | |
beigesetzt werden soll, legt nahe, er habe sich ähnliche Verdienste für | |
Polen erworben. Und das ist nicht wahr. Die meisten Polen waren mit | |
Kaczynski als Präsidenten unzufrieden. Er wäre kein zweites Mal gewählt | |
worden. Daher die Proteste. | |
Warum sind die Proteste dann nicht lauter? | |
Noch herrscht Staatstrauer. Die meisten Polen wollen gerade in dieser Zeit | |
gute Polen und gute Christen sein. | |
Als Kaczynski noch lebte, zählte er zu den unbeliebtesten Politikern. Warum | |
fühlen sich seine Kritiker in Polen heute schuldig? | |
Kaczynski ist auf dem Weg nach Katyn gestorben, wo er der polnischen | |
Offiziere gedenken wollte, die im Zweiten Weltkrieg dem Sowjetterror zum | |
Opfer fielen. Die Pflicht zu gedenken haben wir alle. Wir sind aber zu | |
Hause geblieben. Also sind Kaczynski und alle an Bord der Unglücksmaschine | |
stellvertretend für uns alle gestorben. Deshalb entschuldigen sich jetzt | |
sogar Intellektuelle wie Adam Michnik für ihre frühere Kritik an Kaczynski. | |
Erklärt das auch diese massenhafte Trauer der Polen um die Verunglückten? | |
Unserem Mythos zufolge müssen wir bereit sein, für Ehre und Vaterland zu | |
sterben. Das gebietet der polnische Patriotismus. Aber wer will schon | |
sterben? Diese vielen Menschen an Bord der Unglücksmaschine haben ein Opfer | |
gebracht und sind also unsere Helden. Je mehr wir um sie trauern, umso | |
patriotischer sind wir. Natürlich ist es auch eine menschliche Tragödie, | |
aber eben auch eine nationale. | |
Aber auch die polnische Demokratie lebt doch vom Streit? | |
Im Grund genommen sind wir Polen Geisel eines Mythos, von dem wir uns | |
einfach nicht befreien können. Wir haben in unserer Geschichte so viel | |
Unglück erlebt, so viel Unfreiheit und Erniedrigung, dass das Opfersein zu | |
unserer zweiten Natur geworden ist. So wie bei Menschen, die an einer | |
unheilbaren Krankheit leiden. Polen können sich nicht wie andere Nationen | |
über ihre Erfolge freuen. Denn nur im Unglück, nur in der Trauer sind wir | |
geeint. | |
Sollte aber nun herauskommen, dass Kaczynski doch eine Mitschuld am Absturz | |
trägt, bricht der Mythos dann in sich zusammen? | |
Das war der erste Gedanke, den wohl die meisten Polen hatten, als sie vom | |
Absturz hörten. Denn wir alle erinnern uns, dass er 2008 mit drei anderen | |
Präsidenten an Bord der Maschine den Piloten zwingen wollte, statt im | |
sicheren Aserbaidschan zu landen, direkt Tiflis anzusteuern. Mitten im | |
georgisch-russischen Krieg! Einer der Piloten, der damals in der Maschine | |
saß und sich weigerte, in Tiflis zu landen, soll zwei Jahre lang die | |
größten Schwierigkeiten gehabt haben. Aber darüber kann man nicht laut | |
reden in Polen. Nicht in der Zeit der Staatstrauer. | |
Was, wenn nach der Staatstrauer das Protokoll des Flugschreibers | |
veröffentlicht wird und sich der Verdacht bestätigen sollte? | |
Ich glaube nicht, dass wir jemals erfahren werden, was tatsächlich | |
geschehen ist. Der Flugschreiber, der die Gespräche im Präsidentensalon | |
aufgezeichnet hat, also auch die Frage des Piloten, ob er versuchen soll, | |
trotz des Nebels zu landen, ist ja bereits in Warschau. Es wird wohl bei | |
der Version des Pilotenfehlers bleiben. Denn sonst wäre Kaczynski womöglich | |
für die Katastrophe mitverantwortlich. Das würde der polnischen Staatsräson | |
widersprechen. Sollte es so gewesen sein, was wir aber nicht wissen, werden | |
wir es sicherlich nie erfahren. | |
17 Apr 2010 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |