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# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Pädagogischer Eros
> Lehrer sollten nichts weniger als Welten in den Köpfen ihrer Schüler
> öffnen.
Diese Woche begann mit dem Tag der Pressefreiheit, und wir schauten mit
Abscheu in andere Weltgegenden, in denen es mitunter keinen großen
Unterschied macht, ob einer Kamikazepilot oder Reporter werden will. Das
ist die klassische Perspektive der Aufklärung. Sie täuscht darüber hinweg,
dass zumindest bei uns niemand so frei ist wie der Journalismus. Die vierte
Gewalt im Staat? Ist er nicht eher die latent mitregierende erste? Wenn
moderne Nationen vor allem Erregungsgemeinschaften sind, so sind die
Journalisten ihre Dompteure, abgesehen davon, dass sie in ihren besten
Momenten weit mehr als das sind. Aber was sind sie jetzt gerade? Am
Vorabend des Tages der Pressefreiheit las ich, dass die Odenwaldschule
schon bald vor dem Aus stehen könnte. Die Jugendämter ringsum schicken
keine Kinder mehr in die erste deutsche Gesamtschule.
Ein Amt ist per definitionem eine nachvollziehende Einrichtung mit Neigung
zum vorauseilenden Gehorsam. Wahrscheinlich erblicken wir in den Ämtern das
geistige Spiegelbild unserer Gesellschaft. Wahrscheinlich haben sie zu viel
Zeitung gelesen. Und natürlich wurde ihre Sorge um das Wohl gerade der
Kinder, um deren Wohl es sonst nicht eben gut bestellt ist, von der
medialen Öffentlichkeit bereits anerkannt. Das sind die Zirkel unserer
Gegenwart. Man muss sich das einmal klarmachen: Die Missbrauchsfälle an
dieser Schule liegen mehr als zwanzig Jahre zurück. Kein Kind ist hier
heute mehr gefährdet als irgendwo anders in diesem Land. So wie die
Odenwaldschule Anfang der Sechziger zur Unesco-Modellschule wurde, hat sie
soeben, zum 100. Geburtstag, beschlossen, zur Modellschule der Aufarbeitung
zu werden.
Andererseits sagt kein Odenwaldschüler im Augenblick gern, dass er einer
ist. Schließlich befindet er sich in einer massenmedial gebildeten
Gesellschaft: "Was, auf diiieeese Schule gehst du?" Wollen die Ämter Kinder
solcher seelischen Pein nicht aussetzen? Und wenn sie sie dabei um ihre
Zukunft bringen. Auch haben sie wohl gehört, dass die Opfer des Missbrauchs
meist Kinder "von unten" waren. Denen eine Chance zu geben, die keine
Chance haben, war eines der Hauptmotive der Gründung der Odenwaldschule
gewesen.
100 Jahre Odenwaldschule. Grund genug für einen Blick zurück.
Wahrscheinlich wird es schwer werden, Schulgründer Paul Geheeb und seine
pädagogische Vision richtig zu würdigen. Denn dazu müsste man ein Wort
benutzen, ein gerade höchst verdächtiges, fast nicht aussprechbares:
"pädagogischer Eros". Welches Amt nähme es in den Mund? Schon als es
kürzlich in der Odenwaldschule selbst fiel, in der ersten großen
Aussprache, an der frühere Schüler, Betroffene, eine
Missbrauchssachverständige, eine Opferanwältin sowie heutige Lehrer und
Schüler teilnahmen, war vielstimmiges Hohnlachen die Antwort.
Über das, was sich denken lässt, entscheiden die Worte, die wir haben. Die
Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt? Die Sprache der
Aufarbeiter fordert künftig eine ganz neue "Beschulung der Pädagogen", das
Ausstellen von "Führungszeugnissen", wobei die Sexualität des
Lehramtsanwärters zu begutachten sei, weiterhin habe er mit seinem
Arbeitsvertrag einen Verhaltenskodex zu unterschreiben, welcher ganz klar
"unüberschreitbare Körpergrenzen" definiere. All diese Worte fielen in der
großen Aussprache. Der Abgesandte einer Hilfsorganisation gab bekannt,
bereits ein 14-Punkte-Präventionsprogramm entworfen zu haben.
"Nicht Priester noch Gelehrte, nicht Beamte noch zukünftige Handwerker
brauchen wir, sondern: Menschen", hatte Paul Geheeb mit Goethe und Rousseau
gefordert. Unsere Zeit geht diesen Weg wohl gerade wieder zurück, nicht nur
mit der Aufgabe des Humboldtschen Bildungsideals an den Universitäten.
Kinder verlassen die Schule und haben nicht einen Lehrer kennengelernt, der
sie wirklich beeindruckt hätte. Ja, sie verstehen nicht einmal die Frage
mehr. "Wir sind denen doch ganz egal, die verdienen nur unser Geld mit
uns." Worte einer Berliner Abiturientin, 19 Jahre alt.
## Ihr wollt Funktionäre?
Geheebs Erziehungsideal kennt noch viel mehr Worte, die kein Mensch unserer
Zeit mehr versteht. "Ehrfurcht" etwa als Fähigkeit eines jungen Menschen,
einem Älteren mit Bewunderung zu begegnen. Nach Goethe besitzt jeder Mensch
eine obere und eine untere Grenze seines Wesens. Auf die Aktivierung der
unteren Grenze versteht sich unsere massenmediale Gegenwart ganz von
selbst. Mit der oberen ist es schwerer. Dem früheren Direktor der
Odenwaldschule Gerold Becker muss das gleichwohl gelungen sein. Seine
Schüler nennen ihn noch immer "einen genialen Lehrer". "Alle Päderasten
sind geniale Lehrer", antwortete mitleidig die Missbrauchssachverständige.
Denn so schafften sie sich das Umfeld, wo sie tun können, was sie wollen.
Haben wir statt Lehrern bald nur noch Sachverständige?
Mit seiner Schuld bleibt Gerold Becker letztlich allein. Selbst wenn es
nicht Zynismus gewesen sein sollte, sondern eher die Hoffnung, dass mit der
großen sexuellen Befreiung der 60er- und 70er-Jahre selbst jemand wie er
mitbefreit werden könnte. Und war Scham nicht ohnehin ein bürgerliches
Vorurteil unterdrückter Sexualität? Vieles sehen wir heute klarer. Anderes
haben wir fast vergessen.
Wer aus der DDR kommt, hat wohl auf Lebenszeit einen besonders bedenklichen
Typus Mensch vor Augen: den Funktionär. Das sind die Wachsamen und
Selbstgerechten im Namen einer höheren Wahrheit und Gerechtigkeit mit all
ihrer Servilität und Fantasielosigkeit.
Es ist eine große Illusion zu glauben, nur weil es die DDR nicht mehr gibt,
gäbe es auch keine Funktionäre mehr. Im Gegenteil. Der Typus nimmt zu. Er
nimmt schon deshalb zu, weil sich die Sprachen der Ämter, des Rechts, des
Journalismus, der Schulen, des Alltags immer mehr angleichen. Allerorten
hören wir den soziologisierend-rechtsförmigen Einheitsslang. Pädagogischer
Eros? Da öffnen sich keine Welten mehr. Schade um jeden, der nie einen
"Lehrer" hatte.
4 May 2010
## AUTOREN
Kerstin Decker
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