# taz.de -- Kirchentags-Blog: "Ihr habt die Bibel gefälscht" | |
> Reinfried Musch ist taz-Controller und überzeugter Marxist. Mit Christen | |
> ist er zum Ökumenischen Kirchentag geradelt. Auf taz.de bloggt er, ob ihm | |
> in München Lichter aufgehen - und welche. | |
Bild: Das Motto des Münchener Kirchentags: "Damit ihr Hoffnung habt". | |
15. Mai: Es bleiben die Bücher | |
Neun Jahre haben sie ihn ertragen, beobachtet, zu verstehen gesucht, den | |
Fremden auf der Insel. Er trieb sie mit der Peitsche auseinander beim | |
Beischlaf, setzte seine Regeln mit Gewalt durch gegen die Tradition der | |
Vormütter und Vorväter und gab sich als der Allwissende. Als Gott. | |
Dann fasste ein Bewohner den Mut und erschlug ihn, berichtet mein Ältester | |
von einer Arte-Sendung. Wenn der Mensch von Gott beseelt ist, dann wähnt er | |
sich über allen und stellt sich über alles - ebenso wie ohne ihn? | |
Die Leute fragen, was induktiv heißt. "Die Bibel induktiv studieren", steht | |
in kleiner Schrift an der Box M 11. Es ist nicht unsere Klientel, erzählt | |
die Standfrau, aber das muss man auch praktisch erfahren. Die Leute, die | |
sich interessieren, diktieren überheblich: Seid Ihr Katholiken? Wenn nicht, | |
dann seid ihr abgefallen. Ihr habt die Bibel gefälscht in Eurem Angebot. | |
Was seid ihr eigentlich? Aber sie wollen das Wort gar nicht verstehen. | |
Ökumene ist für sie nicht Liebe, Kirchentag nicht Begegnung. Sie sprechen | |
von der Wahrhaftigkeit der Blutrituale bei der täglichern Auferstehung | |
Jesu. Sind wir im Mittelalter? | |
Wir bieten Methode zum Bibelstudium an, um Interessierten zu helfen, das | |
Wort zu lesen und zu verstehen. Das ist nötig bei allen Schriften. Das | |
Hiob-Buch wird in unsrem Angebot interpretiert. Aber ein Blick von da aus | |
durch die Bibel - das haben wir nicht. | |
Mein Sohn beschäftigt sich damit und sein Doktorvater schreibt dazu (Greg | |
Harris, the darkness and the glory). Und Müller aus Regensburg. Ihm gelingt | |
ein übersichtliches Interviewbuch zur Bibel bei Herder (Gott und seine | |
Geschichte. Ein Gespräch über die Bibel), obwohl er in drei enormen Bänden | |
Glaube wissenschaftlich nach allen Richtungen gewendet hat (Glauben, | |
Fragen, Denken). | |
Hartmann und Schuller u.a. untersuchen den Ersten 30jährigen Krieg doppelt: | |
als schlimmsten Religionskrieg und im Friedensschluss von Augsburg als | |
Geburtsstunde eines konfessionell ausbalancierten und politisch föderalen | |
Europas. Eine lehrreiche frühe EU – Vorlage? | |
Ein Jahrmarkt, werten die Quartierseltern von Salim, kein Ort, nirgends, | |
außer vielleicht Sant Egidio, ergänzt die Begleiterin. Der Gründer habe | |
nicht salbungsvoll von Frieden und Liebe wie die Werbe-Bärchen gesprochen, | |
denen beides unter Mautzen aus dem Bauch springt. Bayern München gewinnt | |
bei ausgezeichneter Brotzeit im Reimer Restaurant den Pokal. Das war der | |
(vorletzte) Tag. | |
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14. Mai: Die Ökumene steht | |
Jetzt steht alles, was rollte und viel mehr. Wenn die, die sich hier | |
ausstellen, rollten, wäre die Ökumene nicht zu übersehen. Die Gespräche | |
wären nicht zu erzwingen, sondern kämen mit der Zeit und wechselten | |
zwangsläufig mit dem Fahren in der Landschaft. Messemiete, Material- und | |
Standkosten würden jedem ein Rad der Bremer Manufaktur ermöglichen. Was es | |
hülfe: in jedem Fall eine Öffnung zu sich, der Welt und dem Himmel, aus dem | |
es beständig tropft. | |
Der Kirchentag stillt meinen Hunger nicht, simst die Begleiterin. Ich kann | |
nicht erkennen, ob hier jemand Hunger hat. Ob er dann hierher käme? Wie | |
sollten solche Hallen für geistig/geistlich Hungernde aussehen? Bileam | |
fällt dem Schweitzer von M10 (Christen begegnen Moslems) ein. Der sei | |
gerufen worden, um Israel zu verfluchen und auszuschalten. Sein Esel | |
sperrte sich beständig auf dem Weg, wie sehr er in auch peitschte. Warum | |
schlägst du mich, fragte er den Weisen an der engsten Wegstelle vor dem | |
Engel mit dem Schwert, gegen den Weisen gerichtet. Da zeige sich das Wirken | |
einer übermächtigen Macht. Stehe die nicht hinter allem? | |
1914 stand sie jedenfalls nicht. Da war es Gandhi, der tausende auf | |
Versöhnungsmärsche brachte zum öffentlichen und angekündigten Brechen eines | |
schlechten Gesetzes in Süd-Afrika. In A2 wird gerade eine Resolution an die | |
Regierung verabschiedet. Vor A3 steht ein stämmiger Ordner mit dem Schild | |
"Saal überfüllt". Im Saal rufen etwa 100 Teilnehmer "wir wollen rein". Die | |
Ordnerinnen beanspruchen das Absperrseil für sich. | |
Auf dem Hof zwischen A und B stehen etwa 300 Gäste unter dem Lautsprecher | |
von Moltmann und Küng. Das Kirchenvolk sind die Laien, erklärt einer von | |
beiden gerade. Sie wurden als Institut immer von den Funktionären der | |
Kirchen ausgeschlossen. Sie haben keine adäquate Vertretung. Beifall innen | |
und außen. | |
Zwei Stunden vorher hatte ein Podium Bolivien unter Morales und | |
durchgreifenden Verstaatlichungen zum blühenden Land erklärt. Deutschland, | |
rief er unter großer Anteilnahme der Teilnehmer, kann durch sein | |
politisches System sofort und umfassend umgestaltet werden. | |
Im großen Buchladen der Ökumene schüttelt der Vertreter von Kohlhammer den | |
Kopf. Sie müssen bis 2015 mindestens warten. Dann liegen 50 Bände | |
Bibelbücher vor. Aber ein Querschnitt durch die Bibel vom Lehrbuch Hiob aus | |
ist nicht geplant. Der alte Herr am Antiquariat-Stand lächelt milde. Nein, | |
davon habe er auch noch nie etwas gehört. Er habe die Bibel übrigens nie | |
gelesen, nur auszugsweise. Das sei normale Geschichtsschreibung, über die | |
Zeit entstanden, geändert, gewachsen. Mit Glaube habe das nichts zu tun. | |
Wer glaubt, braucht auch keine Wahrheit. Er brauche sie. | |
Die Begleiterin bekräftigt, dass sie dieser Messe-Kirchentag nicht | |
zufrieden mache, der Wissensstand nicht und sie selbst nicht. Da sagt | |
Schaedler ernst: "Das müssen Sie ändern". Die Bücher "machen satt". Sie | |
stehen ungerührt still inmitten des großen Palavers. Herr Marx schreibt an | |
seinen frühen Namensvetter im "Kapital" (ich bin kein Marxist), er habe zu | |
Zeiten der Globalisierung wohl doch mehr recht, als befürchtet. Nur die | |
revolutionäre Beseitigung des Privateigentums habe bisher nie zu | |
Vergesellschaftung geführt, sondern zu Verstaatlichung. Die aber wolle die | |
Kirche auch nicht. | |
Barz (Ich bin Bonhoeffer) leitet ein: Wer bin ich? Frei, freundlich und | |
klar, als hätte ich zu gebieten? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem | |
geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor dem schon gewonnen Sieg? | |
(11). | |
Ich brauche keinen Sieg, keinen Herr und kein Mandat zum Gebieten. Ich | |
trinke zum Tagesausklang erschöpft ein Erdinger Weißbier. | |
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13. Mai: Orientalische Matrazen | |
Die zweite Nacht im Hotel ohne Schnarcher. Leichter Niesel, aber mild. Der | |
Weg zum ÖKT geht an einer Mauer entlang. Sie trägt Muster wie von Weinreben | |
und schützt vor Schall. Es folgen idyllische Kleingärten, eine leere | |
Autobahnzufahrt, bis der Klotz zu sehen ist. Sie nehmen an der Treppe vorn | |
das Laufband, fahren bis zum Kreuz, wechseln nach Osten und erreichen A und | |
B5. Die Halle steht voller PR-gestylter Präsentationsboxen. Die Hierarchie | |
ist nur numerisch. | |
M 10 fällt durch orientalisch anmutende Matratzen auf. Christen, beschreibt | |
die Begleiterin, werden hier in ihrem Glauben gestärkt und bestätigt. Wir | |
wollen, referiert die Moderatorin der Gruppe, mit den Muslimen in Frieden | |
und Freundschaft zusammen leben. Der Film zeigt fanatische arabische | |
Wüstenkämpfer. Ich will die verfluchten Christen alle töten, aber das | |
Teufelsbuch Bibel fasse ich nicht an, schreit der Held in die Nacht gegen | |
den Auftrag an, den Kampf der Ideen zu führen und das Christenbuch als | |
falsch zu entlarven. | |
Das erzwungene Studium bekehrt ihn dramatisch. Da tritt ein Mann an meine | |
Seite, fragt ruhig nach meiner Zughörigkeit und fordert von der Moderatorin | |
den sofortigen Abbruch der Vorführung. Wir wollten, erklärt die zur | |
Diskussionseröffnung, Muslime als engagierte Gott- und Sinnsucher zeigen, | |
die zu Gewalt nur aus tiefer Not greifen. Gott habe Jesus als Brücke zur | |
Orientierung für den Suchenden angeboten. Es diskutiert keiner. | |
Im Film versichert Gott dem Konvertiten nur, dass die Bibel nicht verloren | |
gehe. Sie liege in seinem Schrank. Ein ähnlich bekehrter arabischer Christ | |
- ich habe mein Herz Christus in einem weißen Traum zugewandt – analysiert | |
strategisch die Weltlage: Israel wird einen Präventivschlag gegen den Iran | |
führen. Der kann 10.000 Schiiten als Selbstmordattentäter im Irak | |
mobilisieren. Im Patt werden die Ajatollahs die Bombe bauen, die USA zur | |
guten Nachbarschaft zwingen und muslimische Regionalmacht werden. Sie | |
können den gesamten Ressourcentransfer an der Straße von Hormus mit einem | |
einzigen versenkten Tanker blockieren - und ein Chaos der Clans verhindern? | |
Wir werden es erleben, schließe ich ab, kaufe zur Sinnfindung Barz´ | |
Bonnhoeffer Biographie, passiere die Nord-West-Ausfahrt über einen | |
Notausgang aus den Zylindern der Großgarage und komme zum 1:0 von Nürnberg | |
gegen Augsburg ins Hotel. Die Ökumene in der Mühe der Ebene. | |
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12. Mai: S´ist Kultur | |
München kommt langsam in Bewegung. Bei der Einfahrt mit den Rädern schreit | |
ein junger Mann aus der Seitenstraße "Hurensöhne" und verschindet schnell | |
um die Ecke. Eine haushohe weiße Phantomfigur säumt die Straße. Zu Füßen | |
der Bavaria dehnen sich weite Flächen. Die Zielankunft hat nichts von | |
Friedensfahrt oder Tour de France. Wo kommt ihr her? Was, aus Berlin! | |
Respekt. | |
So einfach ist unsere Radler- & Pilgertruppe auch nicht zu identifizieren. | |
Lokal haben wir große Presse und Resonanz, antwortet der Mann neben mir in | |
einem Interview. Regional ist die Berichterstattung schon schwächer. | |
Deutschlandweit sind wir wohl noch kaum wahrnehmbar. | |
Auf der großen Bühne läuft eine Talkshow. Die Münchener füllen langsam die | |
Flächen. Plötzlich schlägt der Ton um. Die Würdenträger treten auf. Da ist | |
dein Marx, sagt die Begleiterin. Bischof Marx redet klar, entschieden und | |
laut, doch er wird vom Bundespräsidenten übertroffen. Der Missbrauch ist | |
schrecklich und ein Rückschlag, aber die guten Taten der Christen dürfen | |
dabei nicht vergessen werden. Wir haben große Fehler gemacht, antworte ich | |
der Begleiterin, aber die Partei hat großes geleistet und verdient | |
weiterhin euer Vertrauen. So klang das zur Wende. | |
Ich stehe mitten in einem großen Chor, der jeden Anruf des großen Gottes | |
inbrünstig mit einem Refrain beantwortet: "Jesus, du mein Licht, du meine | |
Zuversicht, auf dich bau ich, dir vertrau ich." Welch ein Mythos, welch ein | |
Kult, schießt es mir durch den Kopf. Wenn das alles so personalisiert wird | |
auf Jesus, den Gottessohn, dann ist mir das zu hoch, hatte der Pensionär | |
verlegen lächelnd und mit entschuldigendem Schulterzucken bekannt. | |
Das ist was für die Obrigkeit. Mir ist Jesus als Mensch viel näher. Der | |
Körper verfällt eh, wenn man stirbt. Aber der Geist fließt dann irgendwie | |
zurück zu seinem Ursprung. Das ist das Göttliche, das bleibt. An ein Leben | |
im Jenseits glaube ich nicht. Wäre es nicht auch schlimm, wieder die alten | |
Bekannten dort zu treffen mit alle den Streits? | |
Ich kann einiges aus dem Glaubensbekenntnis nicht mittragen. Wie soll man | |
Christ sein, wenn man an die Grundwahrheiten nicht glaubt, ruft meine | |
Begleiterin fast verzweifelt aus. Die unbefleckte Empfängnis nicht, den | |
Dreieinigen Gott nicht, auch die Auferstehung nicht! Was bleibt denn da | |
noch übrig? Das Ökumenische Manifest deckt doch nicht den Kanon von der | |
einen Welt und dem einen Gott für alle Glaubensrichtungen! | |
Nach Köhler baut das da vorn auf der Bühne zunehmend ab. Die praktische | |
Ökumene sind die gemeinsamen Auftritte der evangelischen und katholischen | |
Geistlichen, die die Predigten teilen, fast synchron segnend das | |
Kreuzzeichen schlagen und ehrlich Glück auf den Weg wünschen in den | |
Gemeinden und die unterschiedslos herzliche Zuwendung der Gastgeber, sage | |
ich einem Reporter. | |
Willst du dir Seehofer noch antun, fragt meine Begleiterin. Marx | |
Religionskritik weicht von der der Junghegelianer ab: Er kritisiert sie als | |
Staatsreligion der Staatsbürger. Ohne die freien Bürger einer | |
Zivilgesellschaft werde sich das nicht ändern. | |
Hinter uns strömen die freien Bürger zum Stachus. Es geht um Kultur, sage | |
ich. Ich bin ohne Sorge, dass sie sich vergessen könnten. In Bayern klingt | |
die Blasmusik wie vor tausend Jahren und die Trachtengruppen haben keine | |
Nachwuchssorgen. Wenn der Ökumene-Chor des Magdeburger Domgymnasiums gerade | |
nicht singt, sind das teenager mit hohem Rollenverständnis. | |
11. Mai: Wir sind ja da | |
Wohin rollt sie? Nach München, München. Da steht ein Hofbräuhaus. Da schaut | |
keiner heraus. War es nicht die Stadt der Bewegung? Wir werden, erklärt ein | |
Organisator, ab 12 Uhr hineinradeln, direkt zum Zentrum der Veranstaltung, | |
dorthin, wo Merkel und der Bundespräsident sitzen und die Pilgerschals | |
zeigen. Ein günstigeres Angebot ist kaum zu bekommen, sagt der schwere Mann | |
aus Norddeutschland: Fahren, Bewegung, Gruppe. | |
Vor fünf Jahren bin in ich diesen Weg an der Isar schon einmal gefahren, | |
erzählt der Pensionär. Er ist schlank, durchtrainiert, Sportler, lächelt | |
fein und etwas nachdenklich und erinnert sich. Seine Frau war nach langer | |
Ehe zwischen Kreuzigung und Auferstehung gestorben. Es gelang ihm, allein | |
zu leben, bis ihn eine junge Frau überraschte für eine Zeit. Die hat jetzt | |
geendet vor der Fahrt. | |
Ich lebe von meinem Vermögen nach dem Verkauf der Firma. Jetzt lebe ich so, | |
wie ich immer leben wolte, erzählt ein anderer. | |
Ich habe hier viel gelernt aus den Gesprächen untereinander. Nicht immer | |
kann ich mich konzentrieren. Es fehlt Zeit zum verarbeiten, ja auch zur | |
Meditation. Aber das dauert eh. Ich spüre Gott eher in mir. | |
Nein, dann bin ich wohl eher ein lauer Christ, sagt eine schwarzhaarige | |
Frau im mittleren Alter. Ich will es nicht so streng. Es kann bei Hiob ja | |
darauf hinaus laufen, die Anerkennung der Allmacht mit allen Mitteln. Ich | |
habe eher einen etwas naiven Glauben. Ich will keine Strafen, Drohungen, | |
Gewalt. Ja, ich will mir aus Allem aussuchen, was ich gebrauchen kann für | |
mein Leben. Ist es nicht normal, dass ich mit meiner Tochter möglichst lang | |
leben will und hardern würde, riefe Gott sie zu sich? Den Teufel brauche | |
ich nicht. Wir menschen sind doch schon teuflisch genug. | |
Doch, bestätigt eine Lehrerin. Wenn wir uns Gott nicht unterordnen, stellen | |
wir uns über ihn. Das machen wir doch massenhaft, täglich. | |
München beginnt unscheinbar mit einem Ortseingangsschild, heruntergfahrenem | |
Ashpalt und einer Verbreitung der Straße ab Ludwig. Dann biegen wir zu St. | |
Paul ab. | |
Er habe, so der empfangender Priester, zuerst nicht an die Umsetzung der | |
Idee Ökumene geglaubt. Im Vorjahr dann schien es doch möglich. Jetzt sei | |
sie da, bedeutend größer als erwartet. Er sei überwältigt und stolz auf | |
diese Teilnahme, auf die Einbindung verschiedener Gruppen von weit her. | |
Doch es sei dann der Stolz auf Gott, der den Menschen so befähigt habe. | |
Ich schätze uns auf knapp 200 Menschen, die den Straßenzug vor der Kirche | |
nur lückenhaft füllen. Das Versorgungsteam ist beendet, bemerkt eine | |
Nachbarin. Es gibt von irgendwoher Pizza. Der Chor ist die Ökumene, seit er | |
singt. Er singt jetzt oft aus dem Liederheft. Das Liederheft ist der Chor. | |
Der Texter … ist das Liederheft. Er ist die Ökumene. | |
Die Begleiterin flüstert, ich sei der Begleiter, die Interpretation der | |
Bibelstelle treibt sie aus dem Haus, die Bloßlegung des eigentlich | |
Christlichen in jede Religion. Ich folge ihr ins Café. Wir sind ja da. | |
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10. Mai: Unter uns | |
Diese gut gedachte Nacht ersoff im Regen. Morgens bin ich krank und der | |
caritative Jesus ist unter uns. Er schiebt die zwei ältesten Frauen mit | |
starker Hand die Berge hinauf und gegen den Wind. Seine weißen Locken | |
wehen, sein weiches, gütiges Gesicht ist lächelnd gefasst, sein Leib wölbt | |
sich bürgerlich. Er nimmt Teil an der Wirklichkeit wie ich: das doppelte | |
vom doppelt Nötigen, statt einer Gulaschsuppe vier, einer Kiwi drei, einem | |
Brötchen vier, einem kleinen Rucksack zwei große. | |
Dem radikalen Jesus bin ich noch nicht begegnet hier. In der Bibel wirft er | |
sich der damalig jüdisch-bürgerlichen Gesellschaft entgegen. Bahro fordert | |
in den 80ern erstmals die Unterwerfung unter die Natur: | |
Deindustrialisierung in Stufen, Rückbau der Megastädte, drastische | |
Vereinfachung des Lebens. | |
Die Ökumene will die Verallgemeinerung der kirchlichen Rituale und die | |
gemeinsame Verkündigung des Evangeliums. Aber WAS? Der radikale Jesus | |
jedenfalls würde in Zeiten entfalteter repressiver Toleranz und | |
ausdifferenzierter Gesundheitsindustrie unbeachtet bleiben. Würde er so | |
weit gehen in seiner Erweckungsmission wie die 9/11 Bomber? | |
Der Schüler vom Packdienst nickt vage mit dem Kopf. Milieu und Erziehung im | |
Dritten Reich hätten es gezeigt. Die Pilger hätten wohl eher kein | |
religiöses Motiv. Sie wollten raus aus dem Alltag, neu oder schon immer | |
oder seien verpflichtet worden. Nur die Religionslehrer seien religiös. Der | |
Lokalpolitiker auf dem Edeka-Frühstück in Ingolstadt patzt dann auch | |
folgerichtig, wenn er den ökonomischen Gedanken begrüßt und Pfaffenhofens | |
Erster sieht den Vorteil eines besseren Schulterschlusses ganz praktisch | |
und spendiert ein Buffet mit belegten Brezeln im Ornament. | |
Vom Café Hipp aus sieht man die Schlussarbeiten am Neuen Marktplatz vor dem | |
bereits renovierten Rathaus. Die Alten sehen auf die Neuen, die vor ihnen | |
stehen wie seinsgleichen. So ist das wohl auch. | |
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9. Mai Ökumenische Gedanken | |
Jetzt nicht mehr. Empfänge, Festreden, fahren, die auf den Fotos sind nicht | |
die Fahrer, sagt die erste Kranke. Wir haben alle Knieschmerzen, brauchen | |
eine Pause, wie alle. Wir hätten zum 1. Mai starten müssen, aber die | |
Berliner Polizei war überfordert. Am Ende der heutigen 50 Kilometer streikt | |
mein linkes OP-Knie. Zu Anfang fuhren wir 20 km/h, nach den Bergen deutlich | |
weniger, sagt die zweite Kranke. | |
Es wird nicht geredet in meiner Kirche. Dadurch sind die | |
Missbrauchsvorwürfe sehr spät auf den Tisch gekommen. Sie haben die | |
Gemeinde gespalten. ich lese ab und an und viel zu wenig das Wort, weil ich | |
in einer Bibelgruppe bin. Aber dafür ist nur ganz selten Zeit vor aller | |
anderen Gemeindearbeit. | |
Nach dem warmen Tag regnet es fein. Ich habe das komplizierte Zelt mit | |
einem jungen Mann aufgebaut. Sicher schlafen! Die Schnarcher sollen nun | |
heute in einen Extra-Raum. Wenn wir streng sind, schnarchen wir alle, sagt | |
einer. Gestern zog einer aus der ersten Halle auf den Gang – und schnarchte | |
selbst. Selbst ich vielleicht? | |
Die Begleiterin findet das Wort vom Teilen in der gestrigen Andacht | |
unterbewertet: Brot teilen, wendet sie ein, sei zu simpel in Richtung | |
kKnsum gedacht. Wir teilen mit allen und alles ist gut. Aber es geht doch | |
nicht um einfache Umverteilung. Was sollen die Ostdeutschen von der | |
Botschaft halten? Es geht doch um Jesus. Es geht, sagt Christoph, der | |
Organisator, um das Wir. | |
Christoph ist Religionslehrer am Domgymnasium und baut seit Jahren an dem | |
Rollen der Ökumene. Nicht nur um uns Pilger, nicht nur um den Chor, der die | |
Ökumene erklingen lässt, nicht nur um die Schüler und die Gemeinden, die | |
uns empfangen. Es geht um das alles zusammen. Das muss zusammen in Bewegung | |
kommen. | |
Er ist unermüdlich. Alle Seiten dieses Vorhabens müssen gleichzeitig voran | |
gebracht werden. Wo ist dein pilgerschal? Willst du einen zweiten? Wir | |
wollen ihn immer dabei haben, um uns zu zeigen, zu winken. Der Schal ist um | |
den Gepäckträger gebunden, um den Rucksack zu schützen, nach dem das | |
Schutzblech abgerissen ist. ich ersetze ihn durch Klebeband und binde ihn | |
als Schal um. | |
Der Pilgertross kommt an, als der Regen stärker wird. Ein perfektes Timing, | |
sagt der erste. Es wird deutlich kühler. Ich bin nicht der einzige, der | |
hier hustet. In der Evangelischen Gemeinde predigt ein tschechischer | |
Katholik über die Feuerräder des Eskelied. Sein Kollege kommentiert, dass | |
der Prophet damit zu den Vertriebenen nach Babylon gerollt sei - mit Donner | |
und Blitz. Draußen donnert es und auf dem Hof steht das Konferenzvierrad, | |
das den nach allen Seiten sehenden Männern aus dem Gleichnis ähnelt. Die | |
ausgezeichnete Soljanka kochte das Altenheim. | |
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8. Mai: Hymne und Hintergrund | |
Labour verliert grandios, BP setzt eine Glocke auf das Öl und Kennzeichen D | |
schlägt die Staaten auf dem Eis. Keine Nachricht von der Befreiung. Die | |
Nacht im Waschraum, morgens kurz die Sonne über dem Siedlungshaus. Das | |
Thermometer steht bei 6 Grad. | |
Bewegung Richtung Nürnberg. | |
Tatsächlich wieder Anstiege. Die Kondition sinkt, Fehlschaltungen. | |
Abfahrten mit nachlassender Konzentration und schlechtem Material. Nürnberg | |
in Sonne, Chilli im Heiligen Saal des Rathauses und der Chor des Gymnasiums | |
singt. Das kannst Du auch mitsingen, sagt die Begleiterin. Gott ist da | |
abwesend - straff gefasst. Das ist die praktische Hymne der rollenden | |
Ökumene, die geplante kann nur der Chor: | |
Was Gott wollte, ist vielfältig, steht geschrieben und mag als Ergebnis | |
seiner suchenden Schöpfung durchgehen. Was zuerst als eine ideale Welt | |
gefasst ist, zerspringt unter Vertreibung, Sintflut, Verbannung und | |
Zerstreuung der Schöpfung in die Welt. Sein Sohn Jesus soll dann mit | |
Opfertod und Auferstehung einen, was bisher nicht nach seinem Willen | |
gediehen war. Der Ökumenechor mit Band fasst das ganze dann tonal auch als | |
Fan-Gesang: Sweet Jesus. | |
Die Pastorin der wunderschönen Lorenz-Kirche spricht von Lazarus, der den | |
Armen nicht nur Brot durch Umverteilung gibt, sondern Werte umbewertet: sie | |
als Schätze ansieht. Die Montagsdemo der Nürnberger Arbeitslosen wertet sie | |
als Mahnung, es ihm nach zu tun. Was mag das heißen. Sie nimmt das Wort | |
wörtlich. Aber wer nimmt es auf? | |
Die Charismatischen brauchen die Sätze, um die anderen durch sich zu | |
begeistern. Die Caritativen nehmen die Bergpredigt als eigentlichen Anfang | |
und das davor gehöre nicht in Kinderhand. Kreuzigung und Bergpredigt in | |
einem ergäben einen Zugang, den keiner braucht. | |
So geben Wort und Stimme keine Sinn. Die Ökumene kann das noch überrollen. | |
Ich bekomme wieder einen Waschraum und die beiden bekannten Schnarcher | |
schlafen im 3. Segment der Halle. | |
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7. Mai: Ökumene rollt als Selbstbegegnung | |
Pilgern oder Wallen? Wallfahren heißt in Bewegung sein. Bewegung ist als | |
Begegnung gedacht, die zuerst Austausch von Leistungen ist: Kost und Logis | |
gegen Segen. | |
Auf der dritten Etappe über die Berge von Ost nach West begegne ich mir | |
zuerst selbst ohne Ausweg. Der Körper wird mein Fixpunkt, ich die Variable. | |
Da muss alles durch. Die Anstiege der dritten Dimension sind nicht so | |
steil, aber linear. | |
Der erste Anstieg endet in Helmbrecht. Der Bürgermeister begrüßt uns als | |
erster Bayernvertreter, aber vor allem als Franke. Schrippen und | |
Pfannkuchen sind nicht zu überbieten. das Thermometer der Motorradstaffel | |
zeigt sechs Grad. Ich bin die erste, sagt die Leiterin dem Schulordner und | |
ich stehe hier, bis der letzte angekommen ist. | |
Der Spruch von den Letzten, die die Ersten sein werden, beschreibt die | |
Wiederholung einer oben-unten-, Führer-Gefolgschaft-Karriere. Die Ökumene | |
versucht den Kurzschluss: Klare Verantwortungen, harte, aber freundliche | |
Aufforderung zur Regeleinhaltung, ständige Ansprechbarkeit. Miteinander | |
verbunden sein und mit IHM, dem Heiligen Gott als seine Geschöpfe. | |
Bayreuth beginnt mit einer Tankstelle und sagt als Universitätsstandort zu. | |
Statt als Wagnerland versteht sich die Stadt als Genuss-Region: die | |
weltweit größte Dichte an familiengetragenem Handwerk aller Branchen, | |
erklärt der Bürgermeister im warmen Hofbräuhaus neben Maisel. jetzt haben | |
wir 14 Grad. Auf dem Weg zum Quartier bleibt die Polizei weg. Die | |
Schulordner übernehmen die Regulierung nahtlos. Die Zivilgesellschaft kann | |
wieder einmal weit mehr, als sie tut. Auch Morgen ist die Ebene bergig. | |
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6. Mai: Was ich glaube | |
Dann bin ich eben Buddhist. Gegen Gott jedenfalls bin ich nicht. Ich bin | |
dabei zu erfahren, dass er für viele Führung bedeudet, Schutz und Mantel. | |
Die Begleiterin sagt, sie könne nicht sagen, welchen Glauben ich habe. Ich | |
glaube an den Menschen, aber genauer: an seine spirituellen Fähigkeiten, | |
sich zu sehen, zu definieren, zu begegnen, mit sich umzugehen. Ohne die ist | |
er, krass gesagt, ein Tier ohne Instinktschutz. Er hätte sich ausgerottet | |
und er würde es vollständig tun. | |
Als Buddhist gehe ich bei der Ökumene durch. Wahrscheinlich nur als Gast, | |
aber ich würde durchgehen. Die ältere Frau am Tisch in der Orangerie von | |
Ernstal hat Einwände zur rollenden Ökonmene. Sie werde wahrscheinlich nur | |
mit der Hälfte der Teilnehmer sprechen können. | |
Wir rasten durch Städte bis zur Erschöpfung: 10 Stunden, 100 Kilometer und | |
1000 Meter Höhenunterschied. Eskortiert von der Polizei mit ausgesuchter | |
Streckenführung und Übernachtung in Massenquartieren. | |
Doch uns würde keiner sehen und wir selbst uns auch nicht. Pilgern, predigt | |
der Pfarrer der Herrenhutgemeine, sei für die Pilger selbst. "Die Ökumene | |
rollt" tritt hier als Schülerprojekt des Domgymnasiums auf und wir sind | |
Gäste, solange sie da sind, wendet die Begleiterin trocken ein. Die | |
jüngeren Pfarrer hätten Ober- und Unterdorf ganz unauffällig | |
zusammengeführt, berichtet der Bürgermeister in der Predigt. | |
Ernsthal liegt 1000 Meter über Ziegenrück und wird in zwei großen Anstiegen | |
und einigen kleineren unter Tour de France Bedingungen erreicht: Regen, | |
Wind, Anstiege und rasante Abfahrten. Wenn ich "Gott" durch "Natur" ersetze | |
und zur Äußeren die Innere nehme, dann passt das plötzlich viel mehr. Die | |
drei Schüler der 11. Klasse sind auch nicht sicher, ob der Glaube eine | |
verändernde Orientierung ist. Mit der Bibel brauche man niemandem kommen | |
und die Botschaft modern zu formulieren, sei nicht geleistet. Das | |
mindestens brauche es. Der Gaskamin im Brüderhaus treibt die Kälte aus dem | |
Körper. Ich habe den ältesten Raum der Herrenhutgemeine Deutschlands als | |
Schlafraum zugesprochen bekommen. | |
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5. Mai: Der zum Weinberg will | |
Es ist gewiss. Früh die Sonne über Elisabeth in meiner Exklave 101. Die | |
Fürbitte vor zwei Tagen mit hohem Zeitverzug. Die Cafeteria ist zur Öffnung | |
voll. Ich hätte schon um 6 losfahren können. Die ältere Frau guckt | |
unternehmungslustig. Sind Sie jetzt dazu gekommen? Ich habe ihr Gesicht | |
noch nicht gesehen. Kommen sie aus berlin? Ich auch, vom Ferbelliner Platz. | |
Ja, da wo die Rente sitzt. Die haben nach sechs Wochen noch nicht | |
geantwortet. Wer meckert, kommt nach unten, sagt der Sachbearbeiter. | |
Ich habe keinen Chef. Sie, wendet sie erinnernd ein, müssten auch | |
umstrukturiert werden. Der Nachbar ist wirklich gestern dazu gekommen. er | |
setzt nahtlos fort. Alle essen neben dem Reden. Der Kommunikationsstau der | |
Nacht muss abgearbeitet werden. Marx ist tot. Seit 1885. 125. Religion ist | |
kein Opium, Unsinn, erklärte die Ablehnerin des Papstes. | |
Die Kinder haben ja keine Chance mehr, Kirche kennen zu lernen. Marx in der | |
Einleitung gegen Kant: es kommt auf die Möglichkeit an, vernüftig zu sein. | |
Aber das reicht wohl nicht, um geistige Not zu wenden. Im Gegensatz zum | |
Hunger kann sie verdrängt werden. Oder verschwindet einfach. Hinreichende | |
Bestätigung für den überschaubaren Zeitraum gelingt anders. Aufbruch nach | |
Jena. | |
Der Pfarrer der Ökumene fährt mit. Er macht Jugendarbeit, hat den Talar | |
ausgezogen und lässt sich fragen, ob der Glaube Erdrutsche verhindern und | |
Berge versetzen kann. Da nickt er nachdenklich, das sei immer ein großes | |
Ideal gewesen, dem nahe zu kommen. Das sei im alltäglichen Leben aber | |
schwierig. Sachsen-Anhalt habe viele junge Gläubige seit der Wende | |
verloren, das Land tendiere zu einer sSniorengesellschaft und auch die | |
Kirche müsse sich umorganisieren. | |
Ich setze nach: Die Pfarrer, die ich erlebt habe, setzen total auf Jesus. | |
Der aber war laut Bibeltext kompromisslos radikal, forderte im Namen Gottes | |
ein völlig neues Fühlen, Denken und Handeln und ging dabei wohlwissend in | |
den Kreuztod. | |
Du meinst den Gegensatz zwischen diesem Jesus, der Bibel und meiner Kirche, | |
fragt mich der Pfarrer zurück. Wir fahren ein Stück. Ich möchte nach einer | |
Zeit in diesem Dienst als einfacher Mann in einem Weinberg in Brasilien | |
arbeiten, sagt er dann. Wir müssen viel ändern. Da sind fragen von außen | |
wichtig. | |
Ich sage, dass der Hiob-Text der Schlüsseltext ist, der alle anderen | |
gGichnisse erschließt. Dass die Bergpredigt ohne den Kreuztod unsinnig | |
erscheint, ja töricht und der ohne sie fatalistisch. Die jungen Menschen | |
werden nach 9/11 fragen, auch wenn das zunächst paradox erscheint. | |
Dann kommen die Berge, die Anstiege, die Abahrten, die Ordner, die | |
Schussfahrt, die in der Kurve zu rutschen beginnt. Dann ist Jena, das gute | |
Abendbrot, die schöne Musik vor der Andacht, die den Herrn loben will. Dann | |
gibt es den Schlusssatz von Hiob: Wer nicht an die Allmacht des Herrn | |
glaubt, kann die Liebe zu seiner Schöpfung Mensch nicht erfahren. Der | |
Routenplaner der Ökumene berichtet, dass die Pilgergruppe insgesamt als | |
Staffel gedacht zweieinhalb Mal die Erde umrundet hat - bisher. Die Räder | |
rollen. | |
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4. Mai: Die Nabe von Allem | |
Als ich im ÖDG, dem Ökumenischen Domgymnasium, die Tür zum Seitenflügel | |
öffne, liegt ein roter Schlafsack auf dem Boden. Ich gehe eine Treppe | |
höher. Der Bewegungsmelder springt an bei jeder Bewegung: von dem unten und | |
von mir. Aber das Schnarchen, selbst im Flur noch stark, ist nicht mehr zu | |
hören. | |
100 Kilometer bis Halle. Es nieselt immer noch kalt. Am Domplatz stehen | |
1.000 Menschen: die externen Pilger und die Schulklassen. Sie tragen die | |
Ökumene durch Sachsen-Anhalt. die Jüngsten bleiben bis Gnadau. Im 300 | |
Seelen-Ort spielt eine Blaskapelle beeindruckend sauber und berührend | |
Rockklassiker. Der Pfarrer hebt ein Vorderrad in die Luft: die Welt, klemmt | |
bunte Klammern an die Speichen, die Gemeinden, und definiert die Nabe - | |
Jesus. | |
Dann dreht er das Rad. Die Klammern, die weiter von der Nabe entfernt | |
sitzen, rutschen ab. Die Nahen, die zudem durch sich überschneidende | |
Speichen gesichert sind, sind die verbundenen Gemeinden. Sie halten die | |
Rotation aus. Die Anbetung des dreieinigen Gottes wird überwiegend von den | |
Alten mitgesprochen. | |
Zum Mittag taucht Bernburg auf. Die Martinskirche sollte aufgegeben werden, | |
so der Pfarrer mit bedächtigen, scharf artikulierten Worten. So entstand | |
2004 die Idee, Kindergarten, Spielstätten, Kultur- und Sporträume in einem | |
Ring von Holzhäusern wie ein Kinderkomplex zu entwickeln. Dreiviertel der | |
Kosten trüge die EU, wenn das Projekt zum Schulanfang 2007 bezugsfertig | |
sein würde. Jetzt sei alles einfacher, lächelt der Pfarrer etwas matt. 40 | |
Angestellte. Das sei ein mittelständisches Unternehmen. Sechs Tage | |
Auslastung + geistliches Wochenende, ein Bezugspunkt in der Stadt. | |
Vor Halle zwei lange Anstiege, vor mir zwei rundliche Frauen, die mit | |
erstaunlicher Kraft und Ausdauer hinauffahren. Im oberen Fünftel geht dann | |
eine noch Ältere kraftvoll an mir vorbei. Gestandene Pilger. Das Gymnasium | |
heißt St. Elisabeth, wurde 1997 gebaut, die Abendsonne blinkt in den großen | |
Fenstern der Cafeteria. | |
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3. Mai: Der Magdeburger Vollzug der Ökumene | |
Ein Regenfaden vom Dach. Um 6 Uhr "p.j.harvey, we´ll flow". Die | |
Amerikanerin im rechten Fensterbett knurrt zufrieden. Sie ist öfter in | |
Deutschland und in den Staaten auch bewegungsbewegt. Peter, der Pole, ist | |
schon auf dem Weg zum Waschraum. Er weiß jetzt, dass er schnarcht. | |
Die Sättel waren nicht abgedeckt. Rechts die Spargelfelder, die Furchen | |
schwarz wie mit Plaste eingeschweißt. Warum fahren Sie mit? Das fragende | |
Mädchen wird 14 sein, Domgymnasium. Weil mich bewegt, was sich bewegt. Weil | |
ich nicht weiß, was hier wie zusammenkommt und 500 Kilometer fährt. Weil | |
ich 500 Kilometer am Stück noch nicht gefahren bin. | |
JL heißt Jericholand, ein Kernbestand ist Genthin. Hier wird Spee | |
produziert, die Heilige Maria Königin Rosenkranz verehrt und die rollende | |
Ökumene versorgt. Bis voriges Jahr saß Henkel hier. Das Domgymnasium, | |
erklärt der Projektlehrer auf dem Elberadweg hinter Oberwarthe, wurde zur | |
Wende von Elterniniativen gegründet. Die Anbindung an die Kirche erfolgte | |
erst vor zwei Jahren. Der Zugang zur Kirchenlobby bringt mehr Ressourcen. | |
Eine Ordnerin, Absolventin der Schule, sagt, sie sei eigentlich Atheistin. | |
Aber die Schule sei gut gewesen. Konfessionelle Bekenntnisse seien nicht | |
nötig, Zensuren und Aufnahmegspräch mit den Eltern entschieden über die | |
Zulassung. Sie achten darauf, dass alle vorhandenen Konfessionen in Etwa | |
gleichgewichtig vertreten sind. Ein nur christlich orientiertes Gymnasium | |
würde weder zu dem Ort noch zur Zeit passen. | |
In Genthin steigen einige wegen des Regens auf die Bahn um. Überwiegend | |
Jungen, erfahre ich, die Mädchen machen weiter. Ich bin doch kein Weichei, | |
erklärt eine schmale Schlanke. Ich will durchhalten, eine andere. Die | |
dritte, die zaghaft dabei steht, sehe ich dann auch weiter fahren. | |
Noch kurz vor Herrenburg überholen mich zwei ganz Junge spielend. Ein | |
schüler der 10. Klasse, der bis münchen fahren wird, kommt aus einem | |
katholisch-evangelischen Elternhaus. Gelebte Ökumene. | |
In Sachsen-Anhalt fällt die Motorradeskorte weg. In Magdeburg setzt die | |
Polizei Radler ein. Wieweit Glaube, eine persönliche Sache, in die Schule | |
eingebracht werde, entscheiden die Freiräume und die Gläubigen. Die | |
Freiräume im Domgymnasium seien erfreulich groß. Es gehe schon darum, freie | |
Menschen zu erziehen, die ihre Persönlichkeit kennen. Dass Glaube nun so | |
sehr sinnstiftend in der Schule sei, bejaht der Projektlehrer nicht. Aber | |
die Richtung ist klar: Wir fahren, sagt die ältere Frau, nicht für Gott, | |
sondern für eine einige Kirche, also für uns. | |
Ich käme ohne den Papst gut aus und ohne manchen der schwachen Pfarrer. | |
Aber die Gemeinschaft der Gemeinde ist gut. Dafür nehme ich Manches in | |
Kauf. Im St. Sebastian sammeln sich alle am alten Altar, sich zu einigen. | |
Im Dom die gegenseitige Taufe von unterschiedlichen Paaren. Sie treten vor, | |
sehen sich an, nehmen das Wasser auf und berühren sich. Im Kerzenlicht | |
sieht es aus, als lächelten sie kurz vor einer Umarmung. Die Elemente der | |
Vereinigung sind gemeinsames Gebet, Abendmahl / Eucharistie und Taufe. | |
Ich kann mich bei diesem überzeugend klaren Pfarrer bedanken, der dann so | |
bescheiden und einfach ist: wie im Märchen, so im Leben. | |
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2. Mai: Brandenburger Begegnung | |
Mücken im Domdorf bei Brandenburg. Die Domgemeinde hat Kuchen gebacken und | |
150 haben sich darauf gestürzt. Pilger kommen und nehmen. Früher gaben sie | |
dafür Segen. Den kriegen wir dann im Dom: Einmarsch der weißen Roben, | |
dahinter der Chor, Aufstellung Psalm 785. Diese Psalme sind Stunden- und | |
Tagesgebete für Schutz und Seelenfrieden. | |
Es gibt keine Begegnung auf der ersten Station, weil das Prozedere sie | |
nicht vorsieht. die Begegnung findet unter dem Tag mit der Polizei statt. | |
Sie eskortiert, sperrt die Straße, führt aus Berlin hinaus und übergibt an | |
der Glienicker Brücke an die Brandenburger Kollegen. Beifall und Dank, ein | |
paar Scherze, wünsche auf den Weg. Die Brandenburger sind größer und | |
massiver. Dieses Begleiten berührt mich, obwohl es nur ein Job ist und kein | |
so interessanter dazu. | |
Was tun. Wer rollt hier mit der Ökumene? Es sind normale Christen, | |
Landeskirche. Sie empfinden die konfessionelle Trennung als unsinnig. Ist | |
Begegnung darüber hinaus ein Thema? Es sieht nicht so aus. | |
Beim Atemkurs vor fünf Jahren legten sich die 20 Teilnehmer in einem Kreis | |
zusammen, schlossen die Augen und fassten sich langsam an den Händen. Das | |
war noch im Nachhinein eine gute Form. Die hand meiner rechten Nachbarin | |
passte so gut in meine, dass wir nicht losließen, als die anderen | |
aufstanden. Das war eine andere Begegnung. | |
Im Domdorf gibt für die Älteren 6er Zimmer. Die ganz Jungen schlafen in der | |
Turnhalle. Vielleicht ziehe ich um, wenn es hier laut wird. Da verläuft es | |
sich anders. | |
6 May 2010 | |
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