# taz.de -- Russlands Gedenken an Kriegsende: Premiere an der Kremlmauer | |
> An der Siegesparade zum Kriegsende nehmen in Moskau erstmals auch Truppen | |
> der Ex-Westalliierten teil. Damit deutet sich eine offenere Bewertung der | |
> Geschichte an. | |
Bild: Kunstflieger zeichnen die Flagge Russlands in den Himmel. | |
MOSKAU taz | Der Himmel über Moskau strahlte in hellstem Blau. Die | |
meteorologischen Aufklärer, die Moskaus Bürgermeister in die Lüfte schickt, | |
um Wolken zu vertreiben, wenn der Himmel mal nicht mitspielt, mussten | |
gestern nicht aufsteigen. Der 9. Mai hat wolkenlos zu sein. An diesem Tag | |
begeht Russland seinen wichtigsten und heiligsten Feiertag, den "Sieg über | |
den Hitlerfaschismus 1945". Der Triumph symbolisiert mehr als nur einen | |
militärischen Erfolg. Der 9. Mai 1945 ist zur Säule geworden, an der sich | |
das nationale Selbstbewusstsein auch des postsowjetischen Russlands | |
aufrichtet. | |
Im öffentlichen Erinnerungswesen nimmt der Krieg den Platz einer zweiten | |
Kultur ein. Ihre Maßstäbe und Werte bieten die Folie, durch die Ereignisse | |
auch der Gegenwart betrachtet werden. Das erklärt, warum das Volk diesen | |
Tag jedes Jahr so ausgelassen feiert, als wäre der Sieg erst gestern | |
gewesen. | |
Die Vorbereitungen zur 65-Jahr-Feier übertrafen daher alle vorangegangenen | |
Anstrengungen. Der Sieg ist allgegenwärtig: ob als Fanfaren eines | |
Männerchors, der im Minutentakt den Refrain "Tag des Sieges!" über die | |
Lautsprecher städtischer Busse anstimmt, oder als gebührenfreie Hotline, | |
die den damaligen Frontverlauf vermeldet. Auch wohnungslosen Veteranen | |
erfüllte man noch nach 65 Jahren ein jahrzehntelanges Versprechen auf eine | |
eigene Bleibe. | |
Den Auftakt der Feier leitete Präsident Dmitri Medwedjew mit der größten | |
postsowjetischen Militärparade ein. 10.500 Offiziere und Soldaten, 127 | |
Kampfflugzeuge und Helikopter zogen und flogen über den Roten Platz. Ein | |
Novum: Auch Einheiten der ehemaligen Westalliierten USA, Großbritannien, | |
Frankreichs und sogar Polens defilierten am Kreml vorbei. Bisher passten | |
die Alliierten nicht in die offizielle Lesart der Kriegsgeschichte. Mit 27 | |
Millionen Toten leistete die UdSSR den größten Blutzoll und reklamierte | |
damit auch Ruhm und Sieg für sich. | |
Andere Fronten und materielle Hilfe der Alliierten wurden in der amtlichen | |
Kriegsdarstellung daheim verschwiegen. Inzwischen klingt es ehrlicher: "Es | |
war ein gemeinsamer Kampf der vier Alliierten gegen den Faschismus in | |
Europa", sagte Vizeverteidigungsminister Alexander Kolmakow am Vorabend. | |
Auch Kremlchef Medwedjew wies von der Festtribüne auf den alliierten | |
Beitrag hin. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah der Kreml vor allem | |
sein Selbstverständnis als Befreier Osteuropas in Frage gestellt. Besonders | |
Balten, Polen und Westukrainer nehmen den Einmarsch der Roten Armee als | |
Beginn einer neuen Besatzung wahr. | |
Dass an der Feier Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves und Polens | |
Übergangschef Bronislaw Komorowski teilnahmen, könnte überdies ein Vorbote | |
sein, dass die verhärteten Positionen des Stellungskrieges auf beiden | |
Seiten zu bröckeln beginnen. Mit der Einladung an die Alliierten | |
signalisierte der Kremlchef auch ein wiedererwachtes Interesse an | |
Kooperation mit dem Westen. In Umfragen begrüßte auch die Hälfte der Russen | |
die westlichen Paradesoldaten. | |
Hüter der reinen Lehre, allen voran die Kommunisten, witterten aber Verrat: | |
"Keine Nato-Stiefel auf dem Roten Platz", forderten sie, brachten den Kreml | |
aber nicht in Erklärungsnot. Als Veranstalter führte dieser auch über die | |
Gäste Regie, deren Gleichschritt sich genauso gut als Bestätigung der | |
russischen Siegerlegende interpretieren lässt. | |
Dennoch ist der Versuch einer moderaten Kurskorrektur kanonisierter | |
Geschichte nicht zu verkennen. Zuvor gab es Streit über die Rolle von Josif | |
Stalin im Krieg und seiner Würdigung beim Jubiläum. Wäre es nach Moskaus | |
Bürgermeister Luschkow gegangen, hätte die Stadt Plakate des Diktators | |
aufgehängt. Der Kreml soll interveniert haben. Einen Rückfall in den | |
Stalinismus werde es nicht geben, sagte Medwedjew der Iswestija. Dies sei | |
nicht nur gegenwärtige Staatsideologie, sondern auch seine Wertung als | |
Präsident. | |
Schon im offeneren Umgang mit dem russischen Massaker an polnischen | |
Offizieren in Katyn ließ sich ein zaghafter Ansatz erkennen, den Krieg zu | |
entstalinisieren. Bislang unterliegt die Kriegsgeschichte aber noch der | |
sakralisierten Sowjetversion. Dass die UdSSR mit den Nazis Polen überfiel, | |
Finnland angriff und das Baltikum annektierte, erfahren russische Schüler | |
nicht. Auch das rassistische Motiv der Nazis und der Holocaust werden | |
verschwiegen. Ursachen und Folgen des Zweiten Weltkrieges bleiben daher | |
unverstanden. Sie verschwinden hinter einem monumentalen Totenkult, der | |
Trauer in Stolz verwandelt und zuweilen ekstatische Züge annimmt. | |
9 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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